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Wladimir I. Lenin 19170503 Über die proletarische Miliz

Wladimir I. Lenin: Über die proletarische Miliz

[„Prawda" Nr. 36, 3. Mai (20. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 267-271]

Am 14. April berichtete unsere Zeitung in einer Korrespondenz aus Kanawin, Gouvernement Nischnij Nowgorod, dass dort „in fast allen Fabriken eine von der Fabrikverwaltung bezahlte Arbeitermiliz eingeführt worden ist“1.

Zum Kanawinschen Bezirk gehören, wie der Berichterstatter mitteilt, 16 Betriebe mit etwa 30.000 Arbeitern, die Eisenbahner nicht mitgerechnet; die Einführung einer von den Kapitalisten bezahlten Arbeitermiliz hat also in dieser Gegend bereits eine erhebliche Anzahl von Großbetrieben erfasst.

Die Einführung einer von den Kapitalisten bezahlten Arbeitermiliz hat eine ungeheure – man kann ohne Übertreibung sagen: eine gigantische, entscheidende – Bedeutung, praktisch sowohl wie grundsätzlich. Die Revolution und ihre Errungenschaften können nicht gesichert werden, ihre Weiterentwicklung ist unmöglich, wenn diese Maßnahme nicht allgemein wird, wenn man sie nicht restlos und im ganzen Lande durchführt.

Die bürgerlichen und gutsherrlichen Republikaner, die Republikaner geworden sind, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass es sonst unmöglich wäre, das Volk zu kommandieren, sind bemüht, eine möglichst monarchische Republik zu errichten: etwa in der Art der französischen, die Schtschedrin eine Republik ohne Republikaner genannt hat.

Für die Grundbesitzer und Kapitalisten ist heute, nachdem sie sich von der Kraft der revolutionären Massen überzeugt haben, die Hauptsache die Erhaltung der wichtigsten Einrichtungen des alten Regimes, die Erhaltung der alten Unterdrückungswerkzeuge: Polizei, Beamtentum, stehendes Heer. Man ist bestrebt, die „Bürgermiliz" auf das Alte zurückzuführen, d. h. man will aus ihr kleine, vom Volke losgelöste, der Bourgeoisie möglichst nahestehende Abteilungen Bewaffneter unter dem Kommando von Leuten aus der Bourgeoisie machen.

Das Minimalprogramm der Sozialdemokratie fordert die Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes. Aber die Mehrzahl der offiziellen Sozialdemokraten in Europa und die Mehrzahl der Führer unserer Menschewiki hat das Parteiprogramm „vergessen" oder beiseite geschoben und den Internationalismus durch den Chauvinismus („Oboronzentum"), die revolutionäre Taktik durch den Reformismus ersetzt.

Dabei ist aber gerade jetzt, in einem revolutionären Moment, die allgemeine Bewaffnung des Volkes besonders dringend notwendig. Betrug und verlogene Ausflucht wäre es, sich darauf zu berufen, dass das revolutionäre Heer die Bewaffnung des Proletariats überflüssig mache oder dass die Waffen „nicht ausreichen". Es handelt sich darum, sofort die Organisation einer allgemeinen, das gesamte Volk erfassenden Miliz in Angriff zu nehmen, die es lernen wird, mit der Waffe umzugehen, auch wenn sie „nicht für alle reichen"; denn das Volk braucht gar nicht unbedingt so viele Waffen, dass alle stets welche besitzen. Das Volk muss durchweg lernen, mit der Waffe umzugehen, es muss Mann für Mann in die Miliz eintreten, die die Polizei und das stehende Heer zu ersetzen hat.

Was die Arbeiter brauchen, ist, dass das Heer nicht vom Volke losgelöst ist, dass die Arbeiter und Soldaten sich zu einer einheitlichen, das gesamte Volk umfassenden Miliz verschmelzen.

Sonst bleibt der Unterdrückungsapparat bestehen, der heute bereit ist, Gutschkow und seinen Freunden, den konterrevolutionären Generalen, zu dienen, und morgen vielleicht einem Radko-Dmitrijew oder irgendeinem Prätendenten auf den Thron und auf die Gründung einer Plebiszitmonarchie.

Die Kapitalisten brauchen jetzt die Republik, denn anders ist mit dem Volke „nicht fertig" zu werden. Aber sie brauchen eine „parlamentarische" Republik, das heißt die Beschränkung der Demokratie auf demokratische Wahlen, auf das Recht, Leute ins Parlament zu schicken, die nach dem treffenden und außerordentlich richtigen Ausdruck von Marx, das Volk ver- und zertreten.

Die Opportunisten der modernen Sozialdemokratie, die Marx durch Scheidemann ersetzten, haben die Regel auswendig gelernt, dass man den Parlamentarismus „ausnützen müsse" (was unbestreitbar ist), aber sie haben die Marxschen Lehren von der Bedeutung der proletarischen Demokratie im Unterschied zum bürgerlichen Parlamentarismus vergessen.

Das Volk braucht die Republik, damit die Massen zur Demokratie erzogen werden. Notwendig ist nicht nur eine Vertretung nach dem Typus der Demokratie, sondern auch der Aufbau der gesamten Staatsverwaltung von unten auf durch die Massen selber, ihre tätige Anteilnahme an jedem Schritt des Lebens, ihre aktive Rolle in der Verwaltung. Die alten Unterdrückungsorgane, die Polizei, das Beamtentum, das stehende Heer, ersetzen durch die allgemeine Volksbewaffnung, durch eine wirklich allgemeine Miliz, – das ist der einzige Weg, der dem Lande ein Höchstmaß von Sicherheit gegen die Wiederaufrichtung der Monarchie gewährt und die Möglichkeit verbürgt, planmäßig, fest und entschlossen zum Sozialismus zu schreiten, nicht, indem man ihn von oben „einführt", sondern indem man die ungeheuren Massen der Proletarier und Halbproletarier emporhebt zur Kunst der Staatsverwaltung, zur Verfügung über die gesamte Staatsgewalt.

Die Ausübung des öffentlichen Dienstes durch die über dem Volke stehende Polizei, durch die Beamten, die treuesten Diener der Bourgeoisie, durch ein stehendes Heer unter dem Kommando der Junker und Kapitalisten, – das ist das Ideal der bürgerlich parlamentarischen Republik, die die Herrschaft des Kapitals verewigen will.

Die Ausübung des öffentlichen Dienstes durch eine, das gesamte Volk umfassende, wirklich allgemeine, männliche und weibliche Miliz, geeignet, zum Teil die Beamten zu ersetzen, in Verbindung nicht nur mit der Wählbarkeit aller Behörden, nicht nur mit ihrer jederzeitigen Absetzbarkeit, sondern auch mit der Bezahlung ihrer Arbeit nicht in „herrschaftlicher", bourgeoismäßiger, sondern in proletarischer Art und Weise, – das ist das Ideal der Arbeiterklasse.

Dieses Ideal ist nicht nur in unser Programm aufgenommen worden, es hat nicht nur in der Geschichte der Arbeiterbewegung des Westens, namentlich in der Erfahrung der Pariser Kommune seinen Platz gefunden, es ist nicht nur von Marx gewürdigt, betont, auseinandergesetzt und empfohlen worden, – auch die Arbeiter Russlands haben es in den Jahren 1905 und 1917 bereits praktisch angewendet.

Die Arbeiterdeputiertenräte sind ihrer Bedeutung, dem von ihnen geschaffenen Typus der Staatsgewalt nach, eben Einrichtungen dieser Demokratie, die die alten Unterdrückungsorgane beseitigt und den Weg der allgemeinen Volksmiliz beschreitet.

Aber wie kann man die Miliz zu einer das gesamte Volk umfassenden machen, solange die Proletarier und Halbproletarier in die Fabrik getrieben, solange sie von der Zuchthausarbeit für die Grundbesitzer und Kapitalisten erdrückt werden?

Es gibt ein Mittel: die Arbeitermiliz muss von den Kapitalisten bezahlt werden.

Die Kapitalisten müssen den Arbeitern die Stunden oder Tage bezahlen, die die Proletarier dem öffentlichen Dienst widmen.

Diesen richtigen Weg betreten jetzt die Arbeitermassen selber. Das Beispiel der Nischnij-Nowgoroder Arbeiter muss zum Vorbild für ganz Russland werden.

Arbeiter, Genossen! Überzeugt die Bauern und das ganze Volk von der Notwendigkeit der Errichtung einer allgemeinen Miliz an Stelle der Polizei und der alten Beamtenschaft! Führt eine solche und nur eine solche Miliz ein. Führt sie ein durch die Arbeiterdeputiertenräte, durch die Bauerndeputiertenräte, durch die Organe der örtlichen Selbstverwaltung, die die Arbeiterklasse in ihre Hände bekommt. Gebt euch auf keinen Fall mit der bürgerlichen Miliz zufrieden. Zieht die Frauen zur öffentlichen Dienstleistung heran, wie die Männer. Setzt unbedingt durch, dass die Kapitalisten den Arbeitern die Tage, die sie dem öffentlichen Dienst in der Miliz widmen, bezahlen!

Erlernt die Demokratie in der Praxis, sofort, selbst, von unten auf, hebt die Massen empor zur aktiven, unmittelbaren, allgemeinen Teilnahme an der Verwaltung, – darin und nur darin liegt die Gewähr für den vollständigen Sieg der Revolution, für ihr festes, überlegtes, planmäßiges Vorwärtsschreiten.

1 In der Korrespondenz aus Kanawin, veröffentlicht in der „Prawda" Nr. 32 vom 27. (14.) April 1917, gezeichnet „Lewit", hieß es: „Im Bezirk gibt es 16 Fabriken mit etwa 30.000 Arbeitern, die Eisenbahner nicht mitgerechnet. Eine illegale Organisation bestand schon seit langem In fast allen Fabriken ist eine von der Fabrikverwaltung bezahlte Arbeitermiliz eingeführt worden. Dem Gouvernementskommissar sowie dem Chef für den Schutz der Stadt sind Kollegien aus je drei Vertretern beigeordnet worden, darunter ein Vertreter der Stadtduma und ein Vertreter des Sowjets. Am 27. März wurde ein neues Exekutivkomitee des Rates der Arbeiterdeputierten gewählt, dem ein großer Teil bolschewistischer Arbeiter angehört."

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