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Wladimir I. Lenin 19170613 Über die Schädlichkeit von Phrasen

Wladimir I. Lenin: Über die Schädlichkeit von Phrasen

[„Prawda" Nr. 69, 13. Juni (31. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 75-77]

Die Antwort der französischen und der englischen Regierung hat mit besonderer Deutlichkeit die Richtigkeit unserer vielfachen Feststellungen bestätigt, dass weder die russische noch die französische noch die englische noch die deutsche kapitalistische Regierung auf Annexionen (Eroberungen) verzichten kann, dass alle derartige Versprechungen purer Volksbetrug sind.1

Wir kämpfen mit der Waffe in der Hand für die Eroberung Elsass-Lothringens, für den Sieg – antworteten die Franzosen. Wollen Sie gefälligst den Vertrag erfüllen und um Russisch- und Deutsch-Polen kämpfen – antworteten die Engländer.

Die bittere Wahrheit, die Wahrheit, dass der Kapitalismus mit dem Verzicht auf Annexionen sich nicht vereinbaren lässt, ist wieder einmal enthüllt worden. Der Zusammenbruch der Politik der „Kompromissler", der Leute, die den Kapitalismus mit dem Proletariat versöhnen wollen, der Zusammenbruch der Politik der menschewistischen und Sozialrevolutionären Ministerialisten ist ganz offenkundig. Alle ihre Hoffnungen auf die Koalitionsregierung sind in den Wind zerstoben, alle ihre Verheißungen haben sich als leere Worte erwiesen.

Schädlicher als alles andere für die Revolution, für die Interessen der werktätigen Massen sind jetzt die Versuche, den Sachverhalt durch Phrasen zu vertuschen. Zwei Schattierungen dieses Phrasenstroms sind in Erscheinung getreten und, wahrlich – eine ist der andern wert.

Die „Rabotschaja Gazeta", das Organ der menschewistischen Ministerialisten, kannegießert in der Art der Kadetten.2 Einerseits „kann es auf einer solchen Grundlage" (auf der Grundlage der Antworten der beiden Ententemächte) „keine Verständigung zwischen uns und ihnen geben"… Zwischen „uns"? – d.h. den russischen Kapitalisten? Die Theorie des Klassenkampfes ist über Bord geworfen; es ist bequemer, über „Demokratie" im Allgemeinen Phrasen zu drechseln, indem man die Abc-Wahrheit des Marxismus, dass gerade innerhalb der „Demokratie" der Abgrund zwischen den Kapitalisten und den Proletariern am tiefsten ist, mit Füßen tritt.

Andererseits will die „Rabotschaja Gazeta" einen „Revisionsversuch" (der Abkommen und Verträge) „auf dem Wege der Einberufung einer besonderen Konferenz von Vertretern der verbündeten Regierungen" machen. Immer wieder dasselbe: ein Paktieren mit den Kapitalisten, das in Wirklichkeit einen Betrug an den Arbeitern durch Verhandlungsspielerei mit ihren Klassenfeinden bedeutet.

Der Ansturm breiter Schichten der französischen und der englischen Demokratie, der Ansturm sogar allein des Proletariats Frankreichs und Englands gegen ihre Regierungen"… schreibt die „Rabotschaja Gazeta". In Russland unterstützen die Menschewiki ihre Imperialistenregierung, in den anderen Ländern aber rufen sie zum Ansturm … ist das nicht, vom ersten bis zum letzten Wort, eine verlogene Phrasendrescherei?

Wir bereiten ihn" (den Frieden im internationalen Maßstabe) „durch die Einberufung einer internationalen Sozialistenkonferenz vor" … mit Beteiligung der Minister aus den Reihen jener ehemaligen Sozialisten, die auf die Seite ihrer Regierungen übergegangen sind!! Man muss schon sagen, eine ausgezeichnete „Vorbereitung" des Volksbetruges im großen Maßstabe mit Hilfe einer ganzen Reihe von kleinen Betrügereien.

Das „Djelo Naroda" wieder ahmt „die Jakobiner" nach. Drohender Ton, effektvolle revolutionäre Ausrufe … „Wir wissen genug" … „Der Glaube an die siegreiche Kraft unserer Revolution (unbedingt groß geschrieben), „von diesem oder jenem Schritt… der russischen revolutionären Demokratie … hängen die Schicksale … des ganzen so glücklich, so siegreich zum Ausbruch gekommenen Aufstandes (unbedingt groß geschrieben) der Werktätigen ab …"

Gewiss, wenn die Worte „Revolution und Aufstand" groß geschrieben werden, so klingt das furchtbar „schrecklich", ganz wie bei den Jakobinern. Es klingt energisch und kostet nicht viel. Aber das schreiben ja Leute, die in Wirklichkeit die Revolution abwürgen helfen und die Entfaltung des Aufstandes der Werktätigen hemmen, indem sie die russische Imperialistenregierung unterstützen, indem sie ihre Methoden der Verheimlichung der Geheimverträge vor dem Volke, ihre Methoden der Verschleppung der sofortigen Aufhebung des feudalen Grundbesitzes, ihre Methoden der militärischen „Offensivpolitik", ihre Anschnauzer an die Adresse der örtlichen gewählten Körperschaften, ihren Anspruch, die Ortsbeamten zu ernennen oder die von der Ortsbevölkerung gewählten Beamten zu bestätigen, begünstigen, und so weiter und so weiter ins Endlose.

Ihr Herren Maulhelden! Ritter der revolutionären Phrase! Der Sozialismus fordert, dass man unterscheide zwischen der Demokratie der Kapitalisten und der Demokratie der Proletarier, zwischen der Revolution der Bourgeoisie und der Revolution des Proletariats, zwischen dem Aufstand der Reichen gegen den Zaren und dem Aufstand der Werktätigen gegen die Reichen. Der Sozialismus fordert, dass man einen Unterschied mache zwischen der bei uns abgeschlossenen Revolution der Bourgeoisie (die Bourgeoisie ist jetzt konterrevolutionär) und der anwachsenden Revolution des Proletariats und der ärmsten Bauern. Die erste Revolution ist für den Krieg, für die Aufrechterhaltung des feudalen Grundbesitzes, für die „Unterordnung" der örtlichen Selbstverwaltungen unter die Zentralgewalt, für die Geheimverträge. Die zweite Revolution hat begonnen, den Krieg abzuwürgen – durch die revolutionäre Verbrüderung, durch die Liquidierung der Macht der Grundherren in der Provinz, durch die Erhöhung der Zahl und die Festigung der Macht der Räte und durch die volle Verwirklichung des Grundsatzes der Wählbarkeit.

Die ministerialistischen Narodniki und Menschewiki dreschen Phrasen über „Demokratie" im Allgemeinen, über „Revolution" im Allgemeinen, um dadurch ihren Pakt mit der imperialistischen, in Wirklichkeit schon konterrevolutionären Bourgeoisie des eigenen Landes zu verdecken, ein Pakt, der sich in Wirklichkeit in einen Kampf gegen die Revolution der Proletarier und Halbproletarier verwandelt.

1 Die Noten der englischen und der französischen Regierung an den russischen Außenminister waren die Antwort auf seine Note vom 1. Mai (18. April) 1917 und auf die Deklaration der Provisorischen Regierung vom 9. April (27. März). Die Note des englischen Botschafters besagte u. a.: „… Die britische Regierung teilt herzlich die Gefühle des freien Russlands. Sie hat diesen Krieg nicht als Eroberungskrieg begonnen und setzt ihn auch nicht für irgendein derartiges Ziel fort. Ihr Ziel war anfangs, die Existenz des eigenen Landes zu verteidigen und den internationalen Verpflichtungen Achtung zu verschaffen. Zu diesen Aufgaben ist heute die Aufgabe der Befreiung der Völker hinzugekommen, die von einer fremden Tyrannei unterdrückt werden. Die britische Regierung ist deshalb von Herzen froh, dass das freie Russland seine Absicht kundgetan hat, Polen zu befreien, und zwar nicht nur das Polen, welches unter der Herrschaft des alten russischen Absolutismus stand, sondern auch die Teile Polens, die zum deutschen und österreichischen Kaiserreich gehören…. Die britische Regierung ist der Auffassung, dass die Abkommen, die sie von Zeit zu Zeit mit den Alliierten abgeschlossen hat, in den allgemeinen Zügen mit dem erwähnten Rahmen (d. h. mit der Deklaration der Provisorischen Regierung. Die Red.) im Einklang stehen, wenn aber die russische Regierung es wünscht, so ist die britische Regierung durchaus bereit, diese Abkommen mit ihren Verbündeten zu prüfen und, wenn nötig, sie zu revidieren."

Die französische Note übermittelte die folgende Resolution der Deputiertenkammer vom 4. Juni (23. Mai): „Die Deputiertenkammer erwartet von dem Europa durch den Überfall des imperialistischen Deutschlands aufgezwungenen Krieg neben der Befreiung der besetzten Gebiete die Rückkehr Elsass-Lothringens in den Schoß des Mutterlandes und eine gerechte Wiedergutmachung der Schäden. Indem die Kammer jeden Gedanken an die Eroberung und Versklavung fremder Völker von sich weist, rechnet sie darauf, dass die Anstrengungen der Heere der Republik wie der alliierten Armeen es erlauben werden, nach der Niederwerfung des preußischen Militarismus feste Garantien des Friedens und der Unabhängigkeit für die großen und kleinen Völker in einem Völkerbund zu erreichen…"

2 Bezieht sich auf den Artikel „Die Noten der französischen und der englischen Regierung" in der „Rabotschaja Gazeta" Nr. 67 vom 10. Juni (28. Mai) 1917

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