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Wladimir I. Lenin 19170422 Über Doppelherrschaft

Wladimir I. Lenin: Über Doppelherrschaft

[„Prawda" Nr. 28, 22. (9.) April 1917 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 125-128]

Die Grundfrage jeder Revolution ist die Frage der Macht im Staate. Ohne Klarheit darüber kann von einer bewussten Teilnahme an der Revolution oder gar von ihrer Führung nicht die Rede sein.

Eine im höchsten Grade bemerkenswerte Eigenart unserer Revolution ist, dass sie eine Doppelherrschaft erzeugt hat. Über diese Tatsache muss man sich vor allem klar werden; ohne sie begriffen zu haben, kann es kein Vorwärtsschreiten geben. Die alten „Formeln" des Bolschewismus z. B. muss man zu ergänzen und zu korrigieren verstehen, denn sie waren zwar, wie sich herausgestellt hat, im Allgemeinen richtig, ihre konkrete Verwirklichung aber erwies sich anders. An Doppelherrschaft hat früher niemand gedacht und konnte niemand denken. Worin besteht die Doppelherrschaft? Darin, dass neben der Provisorischen Regierung, der Regierung der Bourgeoisie, sich eine zwar noch schwache, erst in der Keimform vorhandene, aber dennoch unzweifelhaft existierende und erstarkende zweite Regierung herausgebildet hat: die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Welches ist die Klassenbasis dieser zweiten Regierung? Das Proletariat und die (in den Soldatenrock gesteckte) Bauernschaft. Was ist der politische Charakter dieser Regierung? Sie ist die revolutionäre Diktatur, d. h. eine Macht, die sich unmittelbar stützt auf die revolutionäre Eroberung, auf die direkte Initiative der Volksmassen von unten, und nicht auf das Gesetz, das von einer zentralisierten Staatsmacht erlassen wurde. Das ist der Typus einer Macht, der grundverschieden ist von dem in der parlamentarischen, bürgerlich-demokratischen Republik herrschenden Typus, wie wir ihn in den fortgeschrittensten Ländern Europas und Amerikas bisher kannten.

Diesen Umstand lässt man oft außer acht, geht darüber hinweg, während hier gerade die Kernfrage liegt. Diese Macht ist eine Macht desselben Typus, wie die Pariser Kommune von 1871. Die Grundmerkmale dieses Typus sind: 1. Ursprung der Macht ist nicht das vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz, sondern die direkte, von unten kommende Initiative der Volksmassen im Lande, die direkte „Usurpation", um sich des landläufigen Ausdrucks zu bedienen; 2. Ersetzung von Polizei und Armee, als vom Volke getrennter und dem Volk gegenübergestellter Institutionen, durch die direkte Bewaffnung des gesamten Volkes; die Staatsordnung wird bei einer solchen Macht geschützt von den bewaffneten Arbeitern und Bauern selbst, vom bewaffneten Volke selbst; 3. entweder Ersetzung der Beamten, der Bürokratie, wiederum durch die unmittelbare Herrschaft des Volkes selbst, oder zumindest ihre Stellung unter eine besondere Kontrolle, ihre Verwandlung in nicht nur wählbare, sondern auf die erste Forderung des Volkes hin absetzbare einfache Beauftragte; ihre Verwandlung aus einer privilegierten Schicht mit der hohen bourgeoisen Bezahlung ihrer „Pöstchen" in Arbeiter einer besonderen „Waffengattung", deren Entlohnung nicht höher ist als der übliche Lohn eines qualifizierten Arbeiters.

Darin und nur darin besteht das Wesen der Pariser Kommune als eines besonderen Staatstypus. Dieses Wesen haben die Herren Plechanow (die offenen Chauvinisten, die den Marxismus verraten haben), Kautsky (die „Zentrums"leute, d. h. die zwischen Chauvinismus und Marxismus Schwankenden) und überhaupt alle gegenwärtig herrschenden Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre usw. vergessen und entstellt.

Man redet um die Sache herum, man schweigt sich aus, man macht Ausflüchte, man beglückwünscht einander tausendmal zu der Revolution, man sträubt sich, darüber nachzudenken, was denn die Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte sind. Man will die offensichtliche Wahrheit nicht sehen, dass, insoweit diese Räte bestehen, insoweit sie eine Macht sind, in Russland ein Staat vom Typus der Pariser Kommune besteht.

Ich betone: „insoweit". Denn es ist nur erst eine Regierung in Keimform. Sowohl durch direktes Übereinkommen mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung als auch durch eine Reihe faktischer Zugeständnisse gab und gibt sie selber ihre Positionen der Bourgeoisie preis.

Warum? Etwa weil die Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow u. Co einen „Fehler" begehen? Unsinn. So kann nur ein Spießer denken, nicht aber ein Marxist. Der Grund ist das ungenügende Bewusstsein und die ungenügende Organisiertheit der Proletarier und Bauern. Der „Fehler" der genannten Führer ist ihr kleinbürgerlicher Standpunkt, ist, dass sie das Bewusstsein der Arbeiter verdunkeln und nicht aufhellen, dass sie kleinbürgerliche Illusionen einflößen und nicht zerstören, dass sie den Einfluss der Bourgeoisie auf die Massen stärken, anstatt die Massen von diesem Einfluss zu befreien.

Daraus sollte schon klar sein, warum auch von unseren Genossen so viele Fehler begangen werden, indem sie „einfach" die Frage stellen: soll man die Provisorische Regierung sofort stürzen?

Ich antworte: 1. man muss sie stürzen, denn sie ist eine oligarchische, eine bürgerliche Regierung, keine Volksregierung; sie kann weder Frieden noch Brot noch volle Freiheit bringen; 2. man kann sie nicht sofort stürzen, denn sie hält sich durch das direkte und indirekte, formale und faktische Übereinkommen mit den Arbeiterdeputiertenräten, und vor allem mit dem wichtigsten, dem Petersburger Rate; 3. man kann sie überhaupt nicht auf dem gewöhnlichen Wege „stürzen", denn sie beruht auf der „Unterstützung" der Bourgeoisie durch die zweite Regierung, den Arbeiterdeputiertenrat, diese aber ist die einzig mögliche Revolutionsregierung, die das Bewusstsein und den Willen der Mehrheit der Arbeiter und Bauern unmittelbar zum Ausdruck bringt. Einen höheren, besseren Regierungstypus als die Räte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten hat die Menschheit bis jetzt nicht hervorgebracht und kennen wir nicht.

Um eine Macht zu werden, müssen die klassenbewussten Arbeiter die Mehrheit für sich gewinnen: solange eine Gewaltherrschaft über die Massen nicht besteht, kommt ein anderer Weg zur Macht nicht in Frage. Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit. Wir sind Marxisten, Anhänger des proletarischen Klassenkampfes gegen den kleinbürgerlichen Rausch, gegen das chauvinistische Oboronzentum, gegen die Phrase, gegen die Abhängigkeit von der Bourgeoisie.

Schaffen wir eine proletarische kommunistische Partei; Elemente einer solchen haben die besten Anhänger des Bolschewismus bereits geschaffen; schließen wir uns zur proletarischen Klassenarbeit zusammen, und von den Proletariern, den armen Bauern werden immer und immer größere Massen zu uns stoßen. Denn das Leben wird mit jedem neuen Tag die kleinbürgerlichen Illusionen der „Sozialdemokraten", der Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow usw., der „Sozialrevolutionäre", der Kleinbürger noch „reineren" Wassers usw. usw. mehr zerschlagen.

Die Bourgeoisie ist für die Alleinherrschaft der Bourgeoisie.

Die klassenbewussten Arbeiter sind für die Alleinherrschaft der Räte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten – für die Alleinherrschaft, die vorbereitet wird durch die Klärung des proletarischen Bewusstseins, durch die Loslösung vom Einfluss der Bourgeoisie und nicht durch Abenteuer.

Das Kleinbürgertum – die „Sozialdemokraten", die Sozialrevolutionäre usw. usw. – schwankt und hindert so diese Klärung, diese Loslösung.

Das ist das tatsächliche, klassenmäßige Verhältnis der Kräfte, durch das unsere Aufgaben bestimmt werden.

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