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Wladimir I. Lenin 19170914 Über Kompromisse

Wladimir I. Lenin: Über Kompromisse

[Geschrieben am 14.–16. (1.–3.) September 1917 „Rabotschij Putj",1 Nr. 3 19. (6.) September 1917 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 163-169]

Kompromiss heißt in der Politik die Preisgabe gewisser Forderungen, der Verzicht auf einen Teil der eigenen Forderungen auf Grund einer Verständigung mit einer anderen Partei

Die übliche Vorstellung der Spießbürger von den Bolschewiki die von der die Bolschewiki verleumdenden Presse unterstützt wird, besteht darin, dass die Bolschewiki auf keinerlei Kompromisse – mit niemanden und niemals – eingehen.

Eine solche Vorstellung ist für uns als Partei des revolutionären Proletariats schmeichelhaft, denn sie beweist, dass selbst die Feinde unser Festhalten an den Grundprinzipien des Sozialismus und der Revolution anzuerkennen gezwungen sind. Aber man muss doch die Wahrheit sagen: diese Vorstellung entspricht nicht den Tatsachen. Engels hatte recht, als er (1873) in seiner Kritik am Manifest der Blanquisten-Kommunarden sich über ihre Erklärung „Keine Kompromisse!" lustig machte.2 Das sei eine Phrase, meinte Engels, denn einer kämpfenden Partei werden oft Kompromisse unvermeidlich durch die Verhältnisse aufgedrängt, und es wäre lappisch, ein für allemal darauf zu verzichten, „sich an Zwischenstationen aufzuhalten". Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse – soweit sie unvermeidlich sind – hindurch unseren Prinzipien, unserer Klasse, unserer revolutionären Aufgabe, unserer Sache der Vorbereitung der Revolution und Schulung der Volksmassen zum Sieg in der Revolution treu zu bleiben.

Ein Beispiel. Die Teilnahme an der dritten und vierten Duma war ein Kompromiss, ein vorübergehender Verzicht auf revolutionäre Forderungen. Doch es war ein absolut erzwungener Kompromiss, denn das Kräfteverhältnis schloss für uns eine gewisse Zeitlang den revolutionären Massenkampf aus, und zur langwierigen Vorbereitung des Kampfes musste man es auch verstehen, innerhalb eines solchen „Saustalles" zu arbeiten. Dass diese Auffassung der Bolschewiki als Partei sich als vollkommen richtig erwies, hat die Geschichte gezeigt.

Jetzt steht nicht die Frage des erzwungenen, sondern die des freiwilligen Kompromisses auf der Tagesordnung.

Unsere Partei erstrebt wie jede andere politische Partei die politische Herrschaft für sich. Unser Ziel ist die Diktatur des revolutionären Proletariats. Ein halbes Jahr Revolution hat mit ungewöhnlicher Klarheit, Kraft und Eindringlichkeit die Richtigkeit und Unvermeidlichkeit dieser Forderung, gerade im Interesse dieser Revolution bewiesen, denn anders kann das Volk weder den demokratischen Frieden noch die Aufteilung des Grund und Bodens unter den Bauern noch die volle Freiheit (eine vollkommen demokratische Republik) erlangen. Der Gang der Ereignisse in dem halben Jahr unserer Revolution, der Kampf der Klassen und Parteien, die Entwicklung der Krisen vom 20. bis 21. April, 9.-10., 18-19. Juni, 3.-5. Juli und 27.-31. August haben es gezeigt und bewiesen.

Nun ist eine so schroffe und so originelle Wendung in der russischen Revolution eingetreten, dass wir als Partei einen freiwilligen Kompromiss anbieten können, freilich nicht der Bourgeoisie, unserem direkten und größten Klassenfeinde, sondern unseren nächsten Gegnern, den „führenden" kleinbürgerlich-demokratischen Parteien, den Menschewiki und Sozialrevolutionären.

Nur ausnahmsweise, lediglich kraft der besonderen Lage, die offenbar nur sehr kurze Zeit anhalten wird, können wir diesen Parteien einen Kompromiss vorschlagen, und wir müssen das meiner Ansicht nach auch tun.

Ein Kompromiss ist unsererseits unsere Rückkehr zu der Forderung des Vor-Juli: „Alle Macht den Räten", eine den Räten verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.

Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während weniger Tage, oder nur ein, zwei Wochen lang, könnte sich eine solche Regierung vollkommen friedlich bilden und konsolidieren. Sie könnte mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution und außerordentliche große Chancen für große Schritte vorwärts in der internationalen Bewegung zum Frieden und zum Sieg des Sozialismus sichern.

Nur um dieser friedlichen Entwicklung der Revolution – dieser in der Geschichte höchst seltenen und höchst wertvollen Möglichkeit, dieser ausnahmsweise seltenen Möglichkeit willen – können und müssen meiner Ansicht nach die Bolschewiki die Anhänger der Weltrevolution, die Anhänger revolutionärer Methoden auf einen solchen Kompromiss eingehen.

Der Kompromiss bestünde darin, dass die Bolschewiki, ohne auf die Beteiligung an der Regierung Anspruch zu erheben (was für einen Internationalisten ohne die tatsächliche Verwirklichung der Bedingungen für die Diktatur des Proletariats und der armen Bauern unmöglich ist), auf die sofortige Aufstellung der Forderung des Überganges der Macht an das Proletariat und die armen Bauern, auf revolutionäre Methoden des Kampfes für diese Forderung verzichten würden. Eine selbstverständliche und für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht neue Bedingung wäre die vollkommene Freiheit der Agitation und die Einberufung der Konstituierenden Versammlung ohne neue Verzögerung oder sogar zu einem früheren Termin.

Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre wären als Regierungsblock (vorausgesetzt der Kompromiss sei verwirklicht) einverstanden eine Regierung zu bilden, die vollständig und ausschließlich den Räten verantwortlich wäre, wobei auch in der Provinz die ganze Macht auf die Räte übergehen müsste. Darin wurde die „neue" Bedingung bestehen. Weitere Bedingungen wurden die Bolschewiki, glaube ich, nicht stellen. Sie wurden sich darauf verlassen, dass eine tatsächlich vollständige Agitationsfreiheit und die unverzügliche Verwirklichung des neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung der Räte (Neuwahlen) und in ihrem Wirken die friedliche Vorwärtsentwicklung der Revolution und ein friedliches Erlöschen des Parteienkampfes innerhalb der Räte ganz von selbst sichern wurde.

Vielleicht ist das schon unmöglich? Mag sein. Aber wenn eine Chance unter hundert besteht, so wäre der Versuch, eine solche Möglichkeit zu verwirklichen, immerhin wert, gemacht zu werden.

Was würden die beiden „sich verständigenden" Parteien, d. h. die Bolschewiki einerseits und der Block der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki anderseits, durch dieses „Kompromiss" gewinnen? Wenn beide Teile nichts gewinnen, so muss der Kompromiss als unmöglich betrachtet werden, und dann ist jedes Wort darüber überflüssig. So schwierig jetzt (nach dem Juli und August, den zwei Monaten, die zwei Jahrzehnten „friedlicher", schläfriger Zeit gleichkommen) dieser Kompromiss auch ist, so glaube ich doch, dass eine kleine Chance besteht, ihn zu verwirklichen; diese Chance hat der Beschluss der Sozialrevolutionäre und Menschewiki geschaffen, in eine Regierung mit den Kadetten nicht einzutreten.

Die Bolschewiki würden das gewinnen, dass sie die Möglichkeit bekämen, vollkommen frei für ihre Ansichten zu agitieren und in tatsächlich vollkommen demokratischen Verhältnissen Einfluss in den Räten zu erlangen. In Worten räumen jetzt „alle" den Bolschewiki diese Freiheit ein. In Wirklichkeit ist sie unter einer bürgerlichen Regierung oder einer Regierung mit Beteiligung der Bourgeoisie, unter einer Regierung, die keine Räteregierung ist, unmöglich. Unter einer Räteregierung wäre eine solche Freiheit möglich (wir sagen nicht bestimmt gesichert, aber doch möglich). Um dieser Möglichkeit willen müsste man in einer so schwierigen Zeit auf einen Kompromiss mit der gegenwärtigen Rätemehrheit eingehen. Bei einer wirklichen Demokratie hätten wir nichts zu fürchten, denn das Leben ist für uns, und sogar die Entwicklung der Strömungen innerhalb der uns feindlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki bestätigt, dass wir recht haben.

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre würden das gewinnen, dass ihnen mit einem Schlag die Möglichkeit gegeben wäre, das Programm ihres Blockes zu verwirklichen, wobei sie sich auf die nachweisbar ungeheure Mehrheit des Volkes stützen und sich die „friedliche" Ausnutzung ihrer Mehrheit in den Räten sichern könnten.

Gewiss, aus diesem Block, der uneinheitlich wäre, sowohl weil er ein Block ist als auch weil die kleinbürgerliche Demokratie stets weniger einheitlich ist als die Bourgeoisie und das Proletariat, – aus diesem Block würden sich wahrscheinlich zwei Stimmen erheben.

Die eine Stimme würde sagen: Wir haben keineswegs denselben Weg wie die Bolschewiki, wie das revolutionäre Proletariat. Das Proletariat wird ohnehin Übermäßiges verlangen und die armen Bauern demagogisch mitreißen. Es wird den Frieden und den Bruch mit den Alliierten fordern. Das ist unmöglich. Wir fahren besser und sicherer mit der Bourgeoisie, wir haben ja mit ihr nicht gebrochen, sondern haben uns mit ihr nur für kurze Zeit überworfen, und zwar allein wegen des Zwischenfalles mit Kornilow. Wir haben uns gestritten, wir werden uns aussöhnen! Außerdem machen uns die Bolschewiki absolut keine Zugeständnisse, denn ihre Aufstandsversuche sind ohnehin ebenso zur Niederlage verurteilt, wie es die Kommune von 1871 war.

Die andere Stimme würde sagen: Der Hinweis auf die Kommune ist sehr oberflächlich und sogar dumm, denn erstens haben die Bolschewiki seit 1871 immerhin etwas gelernt, sie würden nicht verfehlen, die Bank in ihre Hände zu nehmen, sie würden auf den Vormarsch gegen Versailles nicht verzichten; unter solchen Umständen aber hätte sogar die Kommune siegen können. Außerdem konnte die Kommune dem Volke nicht sofort das bieten, was die Bolschewiki werden bieten können, wenn sie an die Macht gelangt sind, nämlich: den Grund und Boden den Bauern, ein sofortiges Friedensangebot, eine wirkliche Produktionskontrolle, einen ehrlichen Frieden mit den Ukrainern, den Finnländern usw. Vulgär gesprochen, haben die Bolschewiki zehnmal mehr „Trümpfe" in den Händen, als die Kommune sie hatte. Zweitens bedeutet ja immerhin die Kommune einen harten Bürgerkrieg, danach eine lange Stockung in der friedlichen kulturellen Entwicklung, eine Erleichterung der Operationen und Machenschaften aller möglichen MacMahons und Kornilows, solche Operationen aber gefährden unsere ganze bürgerliche Gesellschaft. Ist es da vernünftig, eine Kommune zu riskieren?

Eine Kommune ist aber in Russland unvermeidlich, wenn wir nicht die Macht ergreifen, wenn die Dinge in dem schwierigen Zustande verbleiben, in dem sie vom 6. Mai bis zum 31. August waren. Jeder revolutionäre Arbeiter und Soldat wird unvermeidlich an die Kommune denken, wird an sie glauben, wird Versuche unternehmen, sie zu verwirklichen, denn er wird sich sagen: „Das Volk geht zugrunde; Krieg, Hunger, Ruin schreiten fort. Nur die Kommune wird uns retten. Lasst uns untergehen, lasst uns alle sterben, aber die Kommune verwirklichen." Solche Gedanken sind bei den Arbeitern unausbleiblich, und es wird nicht gelingen, die Kommune jetzt so leicht zu besiegen, wie es 1871 der Fall war. Die russische Kommune wird hundertmal mächtigere Verbündete in der ganzen Welt haben als die Kommune von 1871 Ist es dann vernünftig, eine Kommune zu riskieren? Ich kann auch nicht zugeben, dass die Bolschewiki uns durch ihren Kompromiss eigentlich nichts bieten. Denn in allen Kulturländern schätzen die kultivierten Minister jeden, auch den geringsten Kompromiss mit dem Proletariat während des Krieges sehr hoch ein. Sie schätzen ihn sehr hoch ein. Und das sind doch tüchtige Leute, wirkliche Minister. Die Bolschewiki nehmen aber trotz aller Repressalien, trotz der Schwäche ihrer Presse ziemlich rasch an Kraft zu … Ist es da vernünftig, eine Kommune zu riskieren?

Wir haben eine sichere Mehrheit, bis zum Erwachen der armen Bauern ist es noch weit, wir werden es wohl nicht erleben. Ich glaube nicht, dass in einem Bauernlande die Mehrheit den Extremen folgen würde. Und gegen die offenkundige Mehrheit ist in einer wirklich demokratischen Republik der Aufstand unmöglich. – So würde die zweite Stimme sprechen.

Es würde womöglich noch eine dritte Stimme laut werden, aus der Mitte irgendwelcher Anhänger Martows oder der Spiridonowa, die sagen könnte: Mich empört es, „Genossen", dass ihr beide von der Kommune und ihrer Möglichkeit redet und ohne Zaudern euch auf die Seite ihrer Gegner stellt. Der eine in der einen Form, der andere in einer anderen. Aber beide auf Seiten derjenigen, die die Kommune unterdrückt haben. Ich werde nicht für die Kommune agitieren. Ich kann nicht von vornherein versprechen, in ihren Reihen zu kämpfen, wie es jeder Bolschewik tun wird, ich muss aber doch sagen, dass, wenn die Kommune trotz meiner Bemühungen entsteht, ich eher ihren Verteidigern als ihren Gegnern helfen werde …

Die Meinungsverschiedenheiten im „Block" sind groß und unvermeidlich, denn in der kleinbürgerlichen Demokratie sind zahllose Schattierungen vertreten, vom vollkommen ministeriablen Vollbourgeois bis zum Halbverarmten, der noch nicht ganz imstande ist, sich auf den Standpunkt des Proletariers zu stellen Wie aber in jedem gegebenen Augenblick das Ergebnis dieser Meinungsverschiedenheiten sein wird – das weiß niemand.

Diese Zeilen wurden Freitag, den 1. September geschrieben und sind aus zufälligen Gründen (unter Kerenski, wird die Geschichte sagen, hatten nicht alle Bolschewiki das Recht ihren Aufenthaltsort frei zu wählen) nicht am selben Tag in die Redaktion gelangt. Nachdem ich die Zeitungen vom Sonnabend und von heute, Sonntag, gelesen habe, sage ich mir: Der Vorschlag des Kompromisses kommt wohl schon zu spät. Die wenigen Tage in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, aus allem ist ersichtlich, dass sie schon vorbei sind. Kerenski wird, so oder anders, sowohl aus der Partei der Sozialrevolutionäre wie von den Sozialrevolutionären gehen, und er wird mit Hilfe der Bourgeois ohne die Sozialrevolutionäre, dank ihrer Untätigkeit, seine Position stärken Ja, aus allem ist ersichtlich, dass die Tage, in denen der Weg friedlicher Entwicklung zufällig möglich wurde, schon vergangen sind. Es bleibt nur übrig, diese Notizen der Redaktion einzusenden mit der Bitte, sie „Verspätete Gedanken" zu betiteln Manchmal ist es vielleicht nicht uninteressant, auch verspätete Gedanken kennenzulernen.

1 „Rabotschij Putj" – Zentralorgan der SDAPR, erschien in der Zeit vom 16. (3.) September bis zum 8. November (26. Oktober) 1917 an Stelle des verbotenen „Rabotschij". Die Zeitung wurde eingestellt, als nach dem Sieg der Oktoberrevolution die in den Julitagen von der Kerenski-Regierung verbotene „Prawda" wieder zu erscheinen begann. Vom „Rabotschij Putj" sind insgesamt 46 Nummern erschienen.

2 Die Artikel sind in einer im Verlag „Vorwärts", Berlin, im Jahre 1894 erschienenen Broschüre „Internationales aus dem Volksstaat" (1871-1875) veröffentlicht worden.

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