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Wladimir I. Lenin 19170506 Was die Kapitalisten und was die Proletarier unter „Schmach" verstehen

Wladimir I. Lenin: Was die Kapitalisten und was die Proletarier unter „Schmach" verstehen

[„Prawda" Nr. 39, 6. Mai (23. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 308 f.]

Das heutige „Jedinstwo" veröffentlicht an erster Stelle in fetter Schrift einen Aufruf1, der von den Herren Plechanow, Deutsch, Sassulitsch unterzeichnet ist. In diesem Aufruf lesen wir:

… „Jedes Volk hat das Recht, über sein Schicksal frei zu verfügen. Wilhelm von Deutschland und Karl von Österreich werden mitunter damit nicht einverstanden sein. Indem wir gegen sie Krieg führen, verteidigen wir unsere eigene und die fremde Freiheit. Russland kann seinen Verbündeten nicht untreu werden. Das würde das Land mit Schmach bedecken…"

So urteilen alle Kapitalisten. Als Schmach betrachten sie die Nichteinhaltung der Verträge zwischen den Kapitalisten, wie die Monarchen die Nichterfüllung der Verträge zwischen den Monarchen für eine Schmach halten.

Und die Arbeiter? Halten sie auch die Nichteinhaltung der Verträge, die von Monarchen und Kapitalisten geschlossen wurden, für eine Schmach?

Natürlich nicht! Die klassenbewussten Arbeiter sind für die Zerreißung aller derartigen Verträge, für die Anerkennung lediglich solcher Abkommen, die zwischen den Arbeitern und Soldaten aller Länder getroffen werden, die für das Volk, d. h. nicht für die Kapitalisten, sondern für die Arbeiter und armen Bauern von Vorteil sind.

Zwischen den Arbeitern aller Länder besteht ein anderer Vertrag, nämlich das Baseler Manifest vom Jahre 1912 (das auch Plechanow unterzeichnet und – verraten hat). Dieser „Vertrag" der Arbeiter bezeichnet es als „Verbrechen", wenn die Arbeiter der verschiedenen Länder um der Kapitalistenprofite willen einander niederschießen.

Die Mitarbeiter des „Jedinstwo" urteilen wie Kapitalisten („Rjetsch" usw. äußern sich genau so), nicht aber wie Arbeiter.

Es ist durchaus richtig, dass weder der deutsche noch der österreichische Monarch mit der Freiheit jedes Volkes einverstanden sein wird, denn diese beiden Monarchen sind gekrönte Räuber, ebenso wie Nikolaus II. Aber erstens sind auch der englische und der italienische und die übrigen Monarchen (die „Verbündeten" Nikolaus II.) nicht um ein Haar besser. Das vergessen, heißt Monarchist oder ein Anwalt der Monarchisten werden.

Zweitens haben sich die nicht gekrönten Räuber, d. h. die Kapitalisten im gegenwärtigen Krieg, keineswegs besser als die Monarchen gezeigt. Hat denn die amerikanische „Demokratie", d. h. die demokratischen Kapitalisten, nicht die Philippinen ausgeraubt und plündert sie nicht Mexiko aus?

Die deutschen Gutschkows und Miljukows wären, falls sie Wilhelm II. ablösten, auch Räuber, sie wären auch nicht besser als die englischen und die russischen Kapitalisten.

Drittens, werden die russischen Kapitalisten „einverstanden" sein mit der „Freiheit" der von ihnen unterdrückten Völker: Armeniens, Chiwas, der Ukraine, Finnlands?

Indem sie diese Frage umgehen, werden die Mitarbeiter des „Jedinstwo" in Wirklichkeit zu Verteidigern der „eigenen" Kapitalisten in ihrem räuberischen Krieg gegen andere Kapitalisten.

Die internationalistischen Arbeiter der ganzen Welt sind für den Sturz aller kapitalistischen Regierungen, für die Ablehnung jedes Paktierens oder jeder Verständigung mit irgendwelchen Kapitalisten, für einen allgemeinen, von den revolutionären Arbeitern aller Länder zu schließenden Frieden, der wirklich geeignet ist, „jedem" Volke die Freiheit zu sichern.

1 Die Zeitung „Jedinstwo" brachte in Nr. 20 vom 5. Mai (22. April) 1917 auf der ersten Seite in fetter Schrift folgenden Aufruf aus Anlass der Ereignisse vom 20.–22. April in Petrograd:

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Aufruf. Bürger und Bürgerinnen! Das Vaterland ist in Gefahr! Wir brauchen keinen Bürgerkrieg! Der Bürgerkrieg wird unsere junge Freiheit zugrunde richten. Notwendig ist eine Verständigung des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten mit der Provisorischen Regierung. Wir brauchen keine Eroberungen, wir dürfen aber auch nicht zulassen, dass die Deutschen Russland unterjochen. Jedes Volk hat das Recht, über sein Schicksal frei zu verfügen. Wilhelm von Deutschland und Karl von Österreich werden niemals damit einverstanden sein. Indem wir gegen sie Krieg führen, verteidigen wir unsere eigene und die fremde Freiheit. Russland kann seinen Verbündeten nicht untreu werden. Das würde das Land mit Schmach bedecken und es würde sich den gerechten Zorn und die Verachtung des gesamten demokratischen Europas zuziehen. G. V. Plechanow, L. G. Deutsch, V. I. Sassulitsch."

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