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Wladimir I. Lenin 19170601 Wie schüchtern die Kapitalisten das Volk ein?

Wladimir I. Lenin: Wie schüchtern die Kapitalisten das Volk ein?

[„Prawda" Nr. 61, 1. Juni (19. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 514-516]

Die „Finanssowaja Gazeta" schreibt im Leitartikel vom 17. Mai:

Die von allen herbei gewünschte und erwartete politische Umwälzung nimmt die Gestalt einer noch nie und nirgends dagewesenen sozialen Revolution an. Der in einem freien Lande berechtigte und natürliche Klassenkampf hat bei uns den Charakter des Klassenkrieges angenommen. Der finanzielle Bankrott naht heran. Der Zusammenbruch der Industrie ist unvermeidlich ...

Um die politische Revolution durchzuführen, genügte es, den Zaren Nikolaus zur Abdankung zu veranlassen und ein Dutzend seiner Minister zu verhaften. Das ließ sich leicht an einem Tage machen. Um aber die soziale Revolution durchzuführen, muss man Dutzende Millionen von Bürgern dazu veranlassen, auf alle ihre Besitzrechte zu verzichten, und alle Nichtsozialisten verhaften. Das lässt sich auch in Jahrzehnten nicht machen."

Das ist nicht wahr, liebe Mitbürger, das ist eine hanebüchene Unwahrheit. Sie belieben den Übergang der Kontrolle der Industrie auf die Arbeiter „soziale Revolution" zu nennen. Sie machen dabei drei ungeheuerliche Fehler:

Erstens, eine soziale Revolution war auch die Revolution vom 27. Februar. Jede politische Umwälzung, wenn es sich nicht um einen einfachen Cliquenwechsel handelt, ist eine soziale Revolution – die Frage ist nur, die soziale Revolution welcher Klasse? Die Revolution vom 27. Februar 1917 bedeutete den Übergang der Macht aus den Händen der feudalen Grundbesitzer, an deren Spitze Nikolaus II. stand, in die Hände der Bourgeoisie. Es war die soziale Revolution der Bourgeoisie.

Durch eine plumpe und wissenschaftlich unrichtige Terminologie, indem sie die „soziale" mit der „sozialistischen" Revolution verwechselt, will die „Finanssowaja Gazeta" dem Volke die offenkundige Tatsache verschleiern, dass die Arbeiter und Bauern sich mit der bloßen Besitzergreifung der Macht durch die Bourgeoisie nicht zufrieden geben können.

Diese einfache und klare Tatsache verschweigen die Herren Kapitalisten und betrügen so sich selbst und das Volk.

Zweitens, als noch „nie und nirgends dagewesen" muss man auch den großen imperialistischen Krieg von 1914-1917 bezeichnen. Noch „nie und nirgends" hat es eine solche Verwüstung, solch blutige Gräuel, solches Elend, einen solchen Zusammenbruch der gesamten Kultur gegeben. Nicht die Ungeduld irgendeines Menschen, nicht die Propaganda von irgendwelcher Seite, sondern die objektiven Verhältnisse, die Beispiellosigkeit des Zusammenbruchs der gesamten Kultur – das erzwingt den Übergang zur Kontrolle der Produktion und der Verteilung, der Banken, der Fabriken usw.

Sonst ist, und das ist keine Übertreibung, der Untergang von Dutzenden Millionen von Menschen unvermeidlich.

Bei der Freiheit aber, die die „politische Umwälzung" vom 27. Februar gebracht hat, beim Bestehen von Räten der Arbeiter-, Bauern- und anderen Deputierten ist eine derartige Kontrolle nicht anders möglich als in einer Form, wo die Arbeiter und Bauern überwiegen und die Minderheit der Bevölkerung sich der Mehrheit unterwirft. Daran ist nichts zu ändern, mag man sich darüber noch so sehr entrüsten.

Drittens, und das ist die Hauptsache, selbst im Falle einer sozialistischen Revolution ist es durchaus nicht nötig, dass „Dutzende Millionen von Bürgern auf alle ihre Besitzrechte verzichten". Selbst der Sozialismus (und die Kontrolle über die Banken und Fabriken ist noch kein Sozialismus) erfordert nichts Derartiges.

Das ist eine niederträchtige Verleumdung des Sozialismus. Kein Sozialist hat jemals vorgeschlagen, „Dutzenden Millionen", d. h. den Klein- und Mittelbauern, ihr Eigentum zu nehmen (d. h. sie „zu veranlassen, auf alle ihre Besitzrechte zu verzichten").

Nichts dergleichen!

Alle Sozialisten sind stets gegen einen derartigen Unsinn aufgetreten.

Die Sozialisten wollen nur den „Verzicht" der Großgrundbesitzer und Kapitalisten erreichen. Um einen entscheidenden Schlag zu führen gegen die Verhöhnung des Volkes, die sich z. B. die Bergwerksherren leisten, indem sie die Produktion desorganisieren und schädigen, genügt die „Abdankung" von einigen hundert, höchstens von ein- bis zweitausend Millionären, die die Banken, den Handel und die Industrie beherrschen.

Das reicht vollkommen aus, um den Widerstand des Kapitals zu brechen. Und selbst dieser Handvoll von Reichen braucht man nicht „alle" ihre Besitzrechte zu nehmen. Man kann ihnen das Eigentumsrecht an vielen Gegenständen des persönlichen Gebrauchs und das Recht auf ein gewisses bescheidenes Einkommen lassen.

Den Widerstand einiger hundert Millionäre zu brechen – das und nur das ist die Aufgabe. Unter dieser und nur unter dieser Bedingung kann der Zusammenbruch verhütet werden.

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