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Wladimir I. Lenin 19170503 Wie sie sich an die Kapitalisten gebunden haben

Wladimir I. Lenin: Wie sie sich an die Kapitalisten gebunden haben

[„Prawda" Nr. 36, 3. Mai (20. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 264-266]

Die Zeitung der Großkapitalisten und Großbanken, die „Finanssowaja Gazeta"1, deckt im Leitartikel vom 17. April eine Tatsache von ungeheurer Wichtigkeit sehr gut auf, nämlich: wie die Parteien der Sozialrevolutionäre, der menschewistischen Sozialdemokraten usw. sich an Händen und Füßen gefesselt, sich durch die berüchtigte „Vereinbarung" mit der Provisorischen Regierung an die Kapitalisten gebunden haben.

Hier der Wortlaut des Leitartikels:

Die Linken und die Anleihe Die von der Provisorischen Regierung ausgegebene Freiheitsanleihe hat in den linksstehenden Kreisen nicht jene Begeisterung ausgelöst, mit der die Mehrheit der Bevölkerung auf die Anleihe reagiert hat.

Die linke Presse hat sich in drei Gruppen geteilt. Die Leninsche „Prawda" hat sich eindeutig gegen die Anleihe ausgesprochen. Sie hat dabei den Standpunkt der Bolschewiki zum Ausdruck gebracht. Plechanows „Jedinstwo" unterstützt entschieden die Anleihe. Die übrigen Organe der sozialistischen Presse endlich: „Rabotschaja Gazeta", „Semlja i Wolja"2, „Wolja Naroda"3 haben eine „Mittelstellung" eingenommen: weder das eine noch das andere; sie sind zwar nicht für die Anleihe, aber auch nicht gegen sie. Das ist auch die Stellung des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates, der im Prinzip beschlossen hatte, die Anleihe zu unterstützen, der aber nun wieder Bedenken bekommen hat und schwankt. Der „Djen"4 hatte schon recht, als er kürzlich dieser zentralen, stärksten Gruppe, der die Menschewiki und Sozialrevolutionäre angehören, die Unentschiedenheit und Zwiespältigkeit ihrer Haltung zum Vorwurf machte.

Gleichsam als wollte der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat einen weiteren Beweis für die Richtigkeit dieses Vorwurfes liefern, nahm er gestern erneut zu der bereits einmal entschiedenen Anleihefrage Stellung, und es gab aus diesem Anlass eine Aussprache. N. S. Tschcheïdse teilte mit, dass in den nächsten Tagen eine neue Regierungskundgebung zu erwarten sei, die ihre Stellung zu den Fragen der Außen- und Innenpolitik in erschöpfender Weise beleuchten werde. Bis dahin, schlug N. S. Tschcheïdse vor, die Erörterung der Frage einer Unterstützung der Anleihe zu vertagen.

Diese Stellung der Linken ist erstaunlich, um nicht mehr zu sagen. Irgend jemand muss doch den Staat regieren und die Reformen verwirklichen, die das viel geplagte Russland herbeisehnt.

Entweder – oder: entweder die gegenwärtige Regierung genießt das Vertrauen der Linken, d. h. sie hat bis heute, in der Vergangenheit, nichts zugelassen, was die gegebene Verpflichtung verletzt hätte, oder sie genießt solches Vertrauen nicht! In letzterem Falle müssen die Linken, wenn sie der Provisorischen Regierung ihre Unterstützung entziehen, nicht nur die ,Kontrolle' über ihre Tätigkeit, sondern auch die ganze Last der Regierung und die Verantwortung vor dem Volk und der Geschichte übernehmen. Wenn sie der Regierung aber keine Unterlassungen vorwerfen können, so haben sie natürlich kein Recht, ihre künftigen Handlungen abzuwarten, und müssen ihr volle Unterstützung gewähren. Auf jeden Fall aber ist die Zwiespältigkeit unzulässig, jene ausweichende Zurückhaltung, das Sichausschweigen – alles das, was einerseits die Verantwortung der Provisorischen Regierung, die sich nicht einmal vor der Geschichte auf ihre Isolierung berufen kann, um kein Jota erleichtert, ihr anderseits aber tatsächlich die Unterstützung der breiten demokratischen Massen nimmt und sie in eine schwierige Lage versetzt.

Ein Vorzug der sozialistischen Strömungen war stets ihre Gradlinigkeit. Der Politik der sozialistischen Parteien war alles Ausweichen, jede spießbürgerliche Rückgratlosigkeit, jeder dehnbare Opportunismus fremd. Jetzt in der Frage der Anleihe sind die zentralen Gruppen des russischen Sozialismus diesen traditionellen Grundsätzen untreu geworden, sie haben den Weg der Oktobristen-Halbheit betreten. Die öffentliche Meinung hat das Recht, sich an sie mit der Aufforderung zu wenden, dass sie ihre Haltung der Anleihe gegenüber ohne Umschweife klarlegen, dass sie sich ehrlich und offen über ihre Beteiligung oder Nichtbeteiligung an der Anleihe aussprechen und damit ihre moralische Pflicht der Provisorischen Regierung gegenüber erfüllen: entweder sie geben ihr die Möglichkeit, sich auf die linken Strömungen zu stützen, oder sie stellen fest, was sie von ihr trennt."

Die Bankherren sind Geschäftsleute. Sie betrachten die Politik nüchtern: du hast versprochen, die Regierung der Kapitalisten zu unterstützen (die den imperialistischen Krieg führt), also her mit der Anleihe.

Sehr richtig! An Händen und Füßen gefesselt, haben die Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki hilflos vor den Kapitalisten kapituliert. Das Versprechen, „in den nächsten Tagen" eine neue Regierungskundgebung zu erlassen, die „ihre Stellung zu den Fragen der Außen- und Innenpolitik in erschöpfender Weise (!!??) beleuchten werde" – sie ist schon überaus genügend beleuchtet! –, ist ein leeres Versprechen.

Mit keinerlei „Kundgebungen", die aus Erklärungen, Versicherungen, Verkündigungen bestehen, wird das Wesen der Sache geändert. Das Wesen der Sache aber ist, dass die Kapitalistenregierung der Lwow, Gutschkow, Miljukow u. Co. die Interessen des Kapitals vertritt, mit diesen Interessen verbunden ist, sich nicht (selbst wenn sie es wollte) von der imperialistischen, annexionistischen Raubpolitik losmachen kann.

Mit nichtssagenden und zu nichts verpflichtenden Redensarten sich auf die „linken" Strömungen „stützen", d. h. ihre imperialistische Politik durch die Autorität der Linken stärken, ohne in Wirklichkeit irgendwie von ihr abzuweichen, – das ist es, was unsere imperialistische Regierung zu tun sich anschickt, und darin wird sie objektiv von Tschcheïdse und seinen Freunden unterstützt.

Die „Oktobristen-Halbheit" – ein geflügeltes Wort! – ist nicht nur eine sachliche, sondern auch eine durchaus richtige Einschätzung der Linie der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki durch Politiker, die das Wesen der Dinge klar sehen.

1 „Finanssowaja Gazeta" („Finanzblatt") – Tageszeitung in Petrograd, 1915 von Protopopow gegründet; Organ der Großkapitalisten und Bankiers. Erschien als Abendblatt. Später Wochenschrift.

2Semlja i Wolja" („Land und Freiheit") Sozialrevolutionäre Tageszeitung, Organ des Petrograder Komitees der Sozialrevolutionären Partei, erschien 1917 in Petrograd.

3 „Wolja Naroda" („Volkswille") – Tageszeitung, erschien 1917 in Petrograd; Organ des rechten Flügels der Sozialrevolutionären Partei. Die Richtung des Blattes war ausgeprägt sozialpatriotisch und sozialchauvinistisch.

4„Djen" („Der Tag") – Tageszeitung in Petrograd. Das Blatt entstand noch unter dem Zarismus im Jahre 1912 mit finanzieller Unterstützung der Banken und befand sich in den Händen der menschewistischen Liquidatoren. Im Jahre 1917 trug das Blatt den Untertitel: „Organ des sozialistischen Gedankens", war aber in Wirklichkeit das Organ des linken Flügels der liberalen Bourgeoisie. Leitender Redakteur war A. Potressow.

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