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Wladimir I. Lenin 19170714 Wie und warum hat man die Bauern betrogen?

Wladimir I. Lenin: Wie und warum hat man die Bauern betrogen?

[„Prawda" Nr. 96, 14. (1. Juli) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 249-252]

Bekanntlich hat man, als die Bauerndelegierten aus ganz Russland zur Tagung des Allrussischen Rates der Bauerndeputierten in Petrograd zusammentraten, den Bauern versprochen – die Sozialrevolutionäre haben es versprochen, die Regierung hat es prochen –, den Kauf und Verkauf von Grund und Boden sofort zu verbieten.

Der Minister Perewersew wollte anfangs das Versprechen tatsächlich einhalten und verfügte durch Telegramm die Einstellung der Geschäfte über Kauf und Verkauf von Land. Dann aber hat sich irgendeine unsichtbare Hand in die Sache eingemischt, und der Minister Perewersew machte sein Telegramm an die Notare rückgängig, d. h. er erlaubte von Neuem den Kauf und Verkauf von Boden.

Die Bauern wurden unruhig. Wenn wir nicht irren, sollen sie sogar eine besondere Delegation zur Regierung entsandt haben.

Die Bauern wurden beruhigt, man redete ihnen gut zu, wie kleinen Kindern. Man versicherte ihnen, dass sofort ein Gesetz erlassen werden würde, das den Kauf und Verkauf von Land verbietet, dass „nur" zum Zwecke der Erlassung eines solchen Gesetzes die zeitweilige Verordnung Perewersews „aufgeschoben" worden sei.

Die Sozialrevolutionäre beruhigten die Bauern, speisten sie mit Versprechungen ab. Die Bauern glaubten ihnen. Die Bauern beruhigten sich. Die Bauern fuhren nach Hause.

Es verging eine Woche nach der anderen.

Am 24. Juni (erst am 24. Juni) erscheint in den Zeitungen die Meldung, dass Minister Tschernow, der Führer der Partei der Sozialrevolutionäre, der Regierung einen Gesetzentwurf (erst einen Gesetzentwurf!) über das Verbot aller Geschäfte, die Kauf und Verkauf von Land betreffen, unterbreitet habe.

Am 29. Juni brachten die Zeitungen die Meldung über eine „private Beratung" der Reichsduma, die am 28. Juni stattgefunden hat. In dieser Beratung behandelte Herr Rodsjanko, wie die „Rjetsch" (die Zeitung der Partei, die in der Provisorischen Regierung die Mehrheit hat) mitteilt, „im Schlusswort die Frage des Kaufs und Verkaufs von Land im Zusammenhang mit den neuen (o ja, außerordentlich neuen, im höchsten Grade neuen!) Maßnahmen der Regierung. Er wies nach, dass im Falle eines Verbotes des Kaufs und Verkaufs von Land der Boden seinen Wert verlieren werde" (für wen? für die Gutsbesitzer offenbar!! Aber die Bauern wollen ja gerade den Gutsbesitzern das Land wegnehmen!), „die Sicherstellung des Kredits wertlos werde, und den Grundbesitzern" (den ehemaligen Grundbesitzern, Herr Rodsjanko!) „jeder Kredit verschlossen bleiben werde. Aus welchen Mitteln“ – fragt M. W. Rodsjanko – „soll der Grundbesitz den Banken seine Schulden bezahlen? In den meisten Fällen sind die Fristen bereits überschritten, und ein solcher Gesetzentwurf wird ohne Versteigerungen zur sofortigen Liquidierung des Grundeigentums auf gesetzlicher Grundlage führen."

Infolgedessen schlug M. W. Rodsjanko der Beratung vor, den provisorischen Ausschuss zu beauftragen, die Frage zu prüfen, um den Versuch zu machen, die Einführung dieses Gesetzes zu verhüten, das nicht für den privaten Grundbesitz, sondern für den Staat verhängnisvoll ist."1

Hier also kam die „unsichtbare Hand" zum Vorschein. Das ist die „schlaue Mechanik" der Koalitionsregierung mit den scheinsozialistischen Ministern, die durch den früheren Vorsitzenden der früheren Reichsduma, den früheren Gutsbesitzer, früheren Vertrauensmann des Henkers Stolypin, ehemaligen Protektor des Lockspitzels Malinowski – durch den Herrn Rodsjanko, der aus der Schule geplaudert hat, entschleiert wurde.

Nehmen wir sogar an, dass jetzt, nachdem sich dieser Herr Rodsjanko so ungeschickt verplappert hat, das Gesetz über das Verbot von Kauf und Verkauf des Bodens endlich erlassen wird. Endlich!

Doch es handelt sich nicht darum allein. Es handelt sich darum, dass wir alle an Hand dieses krassen Beispiels begreifen und den Massen der Bauern zu begreifen helfen, wie und warum die Bauern betrogen worden sind. Denn diese Tatsache bleibt eine nicht zu bestreitende und unbedingte Tatsache: die Bauern wurden betrogen, indem man das nicht sofort durchführte, was man ihnen auf der Tagung des Allrussischen Rates der Bauerndeputierten sofort durchzuführen versprochen hatte.

Wie hat man die Bauern betrogen? Indem man sie mit Versprechungen fütterte. Darin eben besteht die „schlaue Mechanik" aller Koalitionsregierungen der Welt, d. h. der bürgerlichen Regierungen mit Beteiligung der Verräter am Sozialismus. Die ehemaligen Sozialisten dienen in diesen Regierungen – ganz gleich, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – als ein Werkzeug des Betrugs der Massen durch die Kapitalisten.

Warum hat man die Bauern betrogen? Weil die Werkzeuge des Betrugs, die Sozialrevolutionäre – wir nehmen die für sie günstigste Voraussetzung – die schlaue Mechanik der Klassenherrschaft und der Klassenpolitik in der heutigen Regierung Russlands selbst nicht begriffen haben. Die Sozialrevolutionäre haben sich von der Phrase hinreißen lassen. In Wirklichkeit aber, wie das der „Fall" Rodsjanko schlagend dargetan hat, in Wirklichkeit wird Russland von einem Block zweier Blocks, einem Bund zweier Bünde regiert.

Der eine Block ist der Block der Kadetten mit den monarchistischen Gutsherren, deren erster Vertreter eben Herr Rodsjanko ist. Dieser Block ist vor den Augen ganz Russlands als eine politische Tatsache dadurch bestätigt worden, dass bei den Wahlen in Petersburg alle Zeitungen der „Schwarzen Hundert",' alle Zeitungen, die rechts von den Kadetten stehen, die Kadetten unterstützt haben. Dieser Block hat durch die Schuld der Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Mehrheit in der Regierung.

Dieser Block verschleppte das Verbot des Kaufs und Verkaufs von Land, dieser Block unterstützt die Gutsherren, die Kapitalisten mit ihrer Aussperrungspolitik.

Der andere Block ist der der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die das Volk mit leeren Versprechungen betrogen haben. Skobelew und Zeretelli, Pjeschechonow und Tschernow haben eine Unmenge von Versprechungen abgegeben. Versprechen ist leicht. Die Methode der „sozialistischen" Minister, das Volk mit Versprechungen zu füttern, ist in allen fortgeschrittenen Ländern der Welt versucht worden und hat überall zum Bankrott geführt. Die Eigenart Russlands besteht darin, dass dieser Bankrott der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki wegen der revolutionären Lage im Lande schärfere Formen annehmen und schneller, als es sonst der Fall wäre, hereinbrechen wird.

Möge jeder Arbeiter und jeder Soldat an Hand dieses für die Bauern besonders lehrreichen Beispiels die Bauernmassen gründlich darüber aufklären, wie und warum man sie betrogen hat!

Nicht in einem Block (Bündnis) mit den Kapitalisten, sondern nur im Bündnis mit den Arbeitern werden die Bauern ihre Ziele erreichen können.

1 Die private Beratung von Mitgliedern der Reichsduma in Petrograd fand am 11. Juli (28. Juni) 1917 im Taurischen Palais statt und beschäftigte sich mit der finanziellen und wirtschaftlichen Lage des Landes und dem Zustand der Industrie. Bublikow referierte, es sprachen ferner Fürst Lwow, Schidlowski und Kusmin. Das Schlusswort hatte Rodsjanko, der die von Lenin zitierten Gedankengänge entwickelte.

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