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Wladimir I. Lenin 19170418 Wie wir gereist sind

Wladimir I. Lenin: Wie wir gereist sind1

[„Prawda" Nr. 24, 18. (5.) April 1917. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 97-99]

Mitteilung der Genossen Lenin und Sinowjew an das Exekutivkomitee im Auftrag der aus der Schweiz eingetroffenen Genossen

In die sozialistische Presse sind bereits Nachrichten gedrungen, dass die englische und die französische Regierung es abgelehnt haben, die internationalistischen Emigranten nach Russland durchzulassen.

Die hier angekommenen 32 Emigranten verschiedener Parteien (darunter 19 Bolschewiki, 6 Bundisten, 3 Anhänger der Pariser internationalistischen Zeitung „Nasche Slowo"2) halten es für ihre Pflicht, folgendes zu veröffentlichen:

Wir verfügen über eine Reihe von Dokumenten, die wir veröffentlichen werden, sobald wir sie aus Stockholm erhalten (wir haben sie dort gelassen, weil an der schwedisch-russischen Grenze die Agenten der englischen Regierung wirtschaften). Dokumente, die die traurige Rolle der genannten „verbündeten" Regierungen in dieser Frage vor aller Welt dartun werden. Zu diesem Punkt wollen wir nur folgendes feststellen: das Züricher Komitee für die Evakuation der Emigranten, in dem 23 Gruppen vertreten sind (darunter das Zentralkomitee, das Organisationskomitee, die Sozialrevolutionäre, der „Bund"3 usw.), stellte in einer einstimmig angenommenen Resolution öffentlich die Tatsache fest, dass die englische Regierung beschlossen hat, den internationalistischen Emigranten die Möglichkeit zu nehmen, in ihre Heimat zurückzukehren und an dem Kampf gegen den imperialistischen Krieg teilzunehmen.

Schon in den ersten Tagen der Revolution wurde den Emigranten diese Absicht der englischen Regierung klar. Damals tauchte bei der Beratung der Vertreter der Partei der Sozialrevolutionäre (M. A. Natanson), des Organisationskomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (L. Martow), des „Bund" (Kossowski) der Plan auf (er ging von L. Martow aus), die Genehmigung zur Durchreise der Emigranten durch Deutschland im Austausch gegen die in Russland internierten deutschen und österreichischen Gefangenen zu erwirken.

Es wurde eine Reihe von Telegrammen in diesem Sinne nach Russland geschickt, und gleichzeitig wurden durch Vermittlung schweizerischer Sozialisten Schritte zur Verwirklichung dieses Planes unternommen.

Die nach Russland geschickten Telegramme wurden zurückgehalten, augenscheinlich von unserer „Provisorischen Revolutionsregierung" (bzw. von ihren Anhängern).

Nachdem wir zwei Wochen auf eine Antwort aus Russland gewartet hatten, entschlossen wir uns, den erwähnten Plan selbst auszuführen. (Andere Emigranten beschlossen, einstweilen noch zu warten, denn sie hielten es noch nicht für erwiesen, dass die Provisorische Regierung keine Maßnahmen ergreifen würde, um die Durchlassung aller Emigranten zu erwirken.)

Die Angelegenheit lag in den Händen des Schweizer internationalen Sozialisten Fritz Platten. Dieser traf genaue schriftliche Vereinbarungen mit dem deutschen Gesandten in der Schweiz. Wir werden den Text dieser Vereinbarungen veröffentlichen. Ihre Hauptpunkte sind: 1. Es reisen alle Emigranten ohne Unterschied ihrer Stellung zum Krieg. 2. Der Wagen, in dem die Emigranten reisen, genießt die Rechte der Exterritorialität. Niemand hat das Recht, den Wagen ohne Plattens Erlaubnis zu betreten. Keine Kontrolle, weder der Pässe noch des Gepäcks. 3. Die Zurückkehrenden verpflichten sich, in Russland für den Austausch einer entsprechenden Anzahl österreichischer und deutscher Internierter zu agitieren.

Die Durchreisenden haben alle Versuche der deutschen Mehrheitssozialisten, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, entschieden abgelehnt. Platten begleitete uns während der ganzen Reise. Er wollte mit uns bis Petrograd fahren, wurde aber an der russischen Grenze (Torneo) zurückgehalten. Wir wollen hoffen, nur auf kurze Zeit. Alle Unterhandlungen wurden unter Beteiligung einer Reihe ausländischer internationaler Sozialisten und in vollster Solidarität mit ihnen geführt. Das Protokoll über die Reise wurde unterzeichnet: von zwei französischen Sozialisten, Loriot und Guilbeaux, einem Sozialisten der Liebknechtgruppe (Hartstein), dem Schweizer Sozialisten Platten, dem polnischen Sozialdemokraten Bronski, den schwedischen sozialdemokratischen Abgeordneten Lindhagen, Karlson, Ström, Türe Nerman und anderen.

Wenn Karl Liebknecht jetzt in Russland wäre, würde ihn Miljukow nach Deutschland herauslassen; die Bethmann-Hollweg lassen euch russische Internationalisten nach Russland. Eure Aufgabe ist es, nach Russland zu fahren und dort sowohl gegen den deutschen als auch gegen den russischen Imperialismus zu kämpfen." So sagten uns die genannten internationalistischen Genossen. Wir glauben, dass sie recht hatten. Wir werden dem Exekutivkomitee des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates über unsere Reise einen Bericht erstatten. Wir hoffen, dass es die Befreiung einer entsprechenden Anzahl von Internierten, in erster Linie des namhaften österreichischen Sozialisten Otto Bauer, erwirken und die Rückkehr aller Emigranten, nicht nur der Sozialpatrioten, ermöglichen wird. Wir hoffen, dass das Exekutivkomitee dem unerhörten Zustand ein Ende machen wird, dass keine Zeitung, sofern sie weiter links als die „Rjetsch"4 steht, über die Grenze gelassen wird und selbst das Manifest des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates5 an die Arbeiter aller Länder nicht in die ausländische Presse gelangen kann.

1 Am 16. (3.) April 1917, in später Abendstunde, traf Lenin mit der ersten Emigrantengruppe aus der Schweiz in Petrograd ein. Am nächsten Tage, dem 17. (4.) April, machten Lenin und Sinowjew im Exekutivkomitee des Petrograder Rates diese Mitteilung über ihre Durchreise durch Deutschland. In der gleichen Sitzung des Exekutivkomitees referierte Surabow, ein linker Menschewik, „Über die Lage der Emigranten in der Schweiz". In den Protokollen des Exekutivkomitees des Petrograder Rates ist folgende Aufzeichnung über Surabows Referat aufbewahrt: „Eine Reihe politischer Emigranten hat keine Möglichkeit, von der Amnestie Gebrauch zu machen und in die Heimat zurückzukehren, besonders diejenigen, die sich in der Schweiz und in den Ländern des Südens aufhielten. Ganz abgesehen von den technischen Schwierigkeiten der Rückreise bilden hier noch die sogenannten „Kontrolllisten" ein Hemmnis, Listen, die von den Agenten des alten Regimes unter Mitwirkung von Vertretern des englischen und französischen Generalstabes zusammengestellt wurden, angeblich zum Kampf gegen militärische Spionage, in Wirklichkeit aber enthielten sie die Namen vieler prominenter Internationalisten, die den Standpunkt von Zimmerwald-Kienthal vertreten. Surabow, der ebenfalls auf dieser Liste stand, setzte, als er noch in Kopenhagen war, telegraphisch das Exekutivkomitee in der Person des Genossen Tschcheïdse davon in Kenntnis, und auf sein Drängen hin benachrichtigte der russische Gesandte in Kopenhagen den Außenminister Miljukow, dass die russischen Emigranten darauf bestehen, dass ihnen gegenüber diese Listen nicht angewendet würden. Miljukows Antwort, die in Bezug auf Surabow persönlich günstig lautete, bestätigte erneut die Weisung an die Konsulate, bei Erteilung der Erlaubnis zur Rückkehr sich nach den Listen zu richten. Genosse Surabow legte in seinen weiteren Ausführungen die Bitte der Schweizer Genossen dar, dafür zu wirken, dass das Exekutivkomitee einen Druck auf die Provisorische Regierung ausübe, damit sie Verhandlungen mit der deutschen Regierung aufnehme über die Durchlassung der politischen Emigranten durch Deutschland im Wege des Austausches gegen Internierte oder Kriegsgefangene." Im Namen der Emigrantengruppe, die durch Deutschland gereist war, erstattete Sinowjew Bericht. In den schon erwähnten Protokollen findet sich über seine Rede folgende Aufzeichnung: „Sinowjew berichtet über die Hindernisse, die von den englischen und französischen Behörden gemacht werden. Er schildert die Entstehungsgeschichte des Reiseplans durch Deutschland. Ursprünglich war beabsichtigt, dass dies durch Austausch gegen Internierte geschehen soll, aber das hätte eine Verschleppung bedeutet und die Abreise um Monate verzögert. Unter Mitwirkung des Schweizer Sozialisten Platten sei es gelungen, die Durchreise durch Deutschland zu beschleunigen, wobei die Durchreisenden sich verpflichteten, auf die Arbeitermasse einzuwirken, damit als Gegenleistung die gleiche Zahl deutscher Untertanen, die in Russland interniert sind, zurückgeschickt werde, in erster Linie der Sozialist Otto Bauer. Bei der Abreise sei ein schriftliches Abkommen getroffen worden, das Genosse Sinowjew einzureichen verspricht, sobald es mit der Post in Petrograd eintreffen werde. Er schlägt eine Resolution vor, die den Austausch politischer Emigranten gegen Internierte billigt." Nach der Diskussion, an der sich Lenin, Zeretelli, Bogdanow, Schljapnikow und Surabow beteiligt haben, fasste das Exekutivkomitee einen Beschluss, in dem „die Delegation beauftragt wird, bei der Regierung die Frage der politischen Emigration anzuschneiden, vorläufig keine Resolution über die Durchreise durch Deutschland anzunehmen, in den ,Iswestija' alles auf diese Frage bezügliche faktische Material abzudrucken und in der nächsten Nummer der ,Iswestija' eine Notiz über den vom Genossen Lenin am Tage der Ankunft über die Umstände der Reise durch Deutschland erstatteten Bericht zu veröffentlichen."

2 „Nasche Slowo" („Unser Wort") – die von Trotzki in Paris während des Krieges herausgegebene Tageszeitung. Mitarbeiter des Blattes waren Manuilski, Antonow-Owssejenko, Losowski, Lunatscharski, Martow. Das Blatt erschien vom 29. Januar 1915 bis zum 15. September 1916, wo es von der französischen Regierung verboten wurde. Insgesamt erschienen 213 Nummern.

3 „Bund" – abgekürzter Name des „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland", einer jüdischen sozialdemokratischen Organisation. Der „Bund" wurde 1897 gegründet, trat 1898 bei der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands dieser als autonome Organisation bei. Als der 2. Parteitag der SDAPR (1903) sich zum Prinzip des straffen Zentralismus bekannte, schied der „Bund" aus der Partei aus. Die Wiedervereinigung erfolgte 1906 auf dem sogenannten Vereinigungsparteitag in Stockholm. Stand den Menschewiki nahe. Beteiligte sich an der Konferenz von Zimmerwald, wo er dem rechten Flügel angehörte. Im Kriege waren die meisten Bundisten entweder Sozialpazifisten oder ausgesprochene Sozialpatrioten. Im Prozess des Bürgerkrieges revolutionierte sich der „Bund" in Sowjetrussland unter dem Druck der proletarischen Massen immer mehr; 1921 verschmolz er sich mit der Kommunistischen Partei Russlands. Der „Bund" existiert heute noch als selbständige Organisation in Polen, wo er im wesentlichen eine „zentristische" Stellung einnimmt. Der II. Internationale hat er sich bisher nicht angeschlossen.

4 „Rjetsch" – große Tageszeitung, erschien von 1906 bis 1917 in Petersburg unter der Redaktion Miljukows; Zentralorgan der Kadettenpartei.

5 Es handelt sich um das am 27. (14.) März 1917 vom Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat erlassene Manifest „An die Völker der ganzen Welt". In diesem Manifest hieß es u. a.: „… Indem wir uns an alle durch den schrecklichen Krieg der Vernichtung und dem Ruin preisgegebenen Völker wenden, erklären wir, dass die Zeit gekommen ist, gegen die Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder den entschiedenen Kampf zu beginnen. Es ist an der Zeit, dass die Völker die Entscheidung der Frage über Krieg und Frieden in ihre eigenen Hände nehmen. Im Bewusstsein ihrer revolutionären Kraft erklärt die Demokratie Russlands, dass sie mit allen Mitteln der Eroberungspolitik ihrer herrschenden Klassen entgegenwirken wird, und fordert die Völker Europas auf zu gemeinsamen entschiedenen Aktionen zugunsten des Friedens … Wir wenden uns an unsere Brüder, die Proletarier der österreichisch-deutschen Koalition und in erster Linie an das deutsche Proletariat. Von den ersten Tagen des Krieges an redete man euch ein, dass wenn ihr die Waffen gegen das absolutistische Russland erhebt, ihr damit die europäische Kultur gegen den asiatischen Despotismus verteidigt Viele von euch sahen darin eine Rechtfertigung für die Unterstützung des Krieges. Heute fehlt auch diese Rechtfertigung: das demokratische Russland kann keine Bedrohung für die Freiheit und Zivilisation sein … Wir werden standhaft unsere eigene Freiheit gegen alle reaktionären Anschläge verteidigen, mögen sie von innen oder von außen kommen. Die russische Revolution wird vor den Bajonetten der Eroberer nicht zurückweichen und sie wird nicht gestatten, dass sie durch eine auswärtige militärische Gewalt erstickt wird. Aber wir rufen euch auf: Schüttelt ab das Joch eurer autokratischen Ordnung, ebenso wie das russische Volk die zarische Autokratie abgeschüttelt hat; weigert euch, als Werkzeug der Eroberung und der Vergewaltigung in den Händen der Könige, der Junker und der Bankiers zu dienen – und mit geschlossenen vereinten Kräften werden wir dem schrecklichen Gemetzel, das die Menschheit schändet und die großen Tage der Geburt der russischen Freiheit verdüstert, ein Ende bereiten…"

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