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Wladimir I. Lenin 19170716 Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Regierung spekuliert haben?

Wladimir I. Lenin: Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Regierung spekuliert haben?1

[Geschrieben am 16. (3.) Juli 1917 Veröffentlicht am 28. (15.) Juli 1917 im „Proletarskoje Djelo",2 Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 3 f.]

Diese Frage drängt sich von selbst auf. Um auf die Ereignisse durch eine bestimmte Taktik richtig antworten zu können, muss man diese Ereignisse richtig verstehen. Wie ist nun der Austritt der Kadetten zu verstehen? …

Verärgerung? Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die Ukraine? – Natürlich nicht. Es wäre lächerlich, wollte man die Kadetten der Grundsätzlichkeit verdächtigen oder die Bourgeoisie – der Fähigkeit, aus Verärgerung zu handeln.

Nein. Der Austritt der Kadetten kann nur verstanden werden als das Resultat einer Spekulation. Worin besteht das Wesen dieser Spekulation?

Darin, dass zum Regieren eines Landes, das eine große Revolution vollbrachte und sich nicht beruhigen kann, und obendrein während eines imperialistischen Krieges im Weltausmaß, die gigantisch kühne, historisch große, von grenzenlosem Enthusiasmus erfüllte Initiative und der Elan der wahrhaft revolutionären Klasse notwendig ist. Entweder man unterdrückt diese Klasse mit Gewalt – dies propagieren die Kadetten seit langem, seit dem 6. Mai –, oder man vertraut sich ihrer Führung an. Entweder man ist im Bunde mit dem imperialistischen Kapital, dann muss man angreifen, muss man ein willfähriger Diener des Kapitals sein, muss man sich unter dessen Joch beugen, muss man die Utopien der Aufhebung des Grundeigentums ohne Ablösung fahren lassen (siehe die Reden Lwows, nach dem Bericht der „Birschowka"3 gegen das Programm Tschernows) – oder man ist gegen das imperialistische Kapital, dann muss man unverzüglich allen Völkern genaue Friedensbedingungen vorschlagen, denn alle Völker sind durch den Krieg erschöpft, dann muss man den Mut haben und es verstehen, die Fahne der proletarischen Weltrevolution gegen das Kapital zu erheben, dies nicht in Worten, sondern in der Praxis zu tun und die Revolution in Russland selbst in entschiedenster Weise vorwärtszutreiben.

Die Kadetten sind wie in geschäftlichen Dingen, in den Finanzen, in der Verteidigung des Kapitals, so auch in der Politik Geschäftsleute. Die Kadetten haben richtig kalkuliert, dass die Lage objektiv revolutionär ist. Mit Reformen sind sie einverstanden, und die Macht mit den reformistischen Zeretelli und Tschernow zu teilen, sagt ihnen zu. Aber mit Reformen ist nicht geholfen. Einen Weg der Reformen, der aus der Krise – aus dem Krieg, aus der Zerrüttung – herausführt, gibt es nicht.

Und die Kadetten spekulieren vom Standpunkt ihrer Klasse, vom Standpunkt der Klasse der imperialistischen Ausbeuter, richtig: Mit unserem Austritt stellen wir ein Ultimatum. Wir wissen, dass die Zeretelli und Tschernow jetzt der wahrhaft revolutionären Klasse nicht vertrauen, eine wahrhaft revolutionäre Politik jetzt nicht wollen. Wir werden sie einschüchtern. Ohne die Kadetten – das heißt: ohne die „Hilfe" des englisch-amerikanischen Weltkapitals, das heißt: den Weg der Revolution auch gegen dieses. Das werden die Zeretelli und Tschernow nicht wagen! Sie werden uns nachgeben!

Und wenn nicht, so wird die Revolution gegen das Kapital, selbst wenn sie beginnen sollte, scheitern, und wir werden zurückkehren.

So spekulieren die Kadetten. Wir wiederholen: vom Standpunkt der Ausbeuterklasse eine richtige Spekulation.

Ständen die Zeretelli und Tschernow auf dem Standpunkt der ausgebeuteten Klasse – und nicht des schwankenden Kleinbürgertums –, so würden sie auf die richtige Spekulation der Kadetten mit dem richtigen Anschluss an die Politik des revolutionären Proletariats geantwortet haben.


1 Die Mitglieder der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadetten), die dem ersten Koalitionsministerium des Fürsten Lwow angehörten – Schingarew, Manuilow, Schachowskoi u. a. –, traten am 15. (2.) Juli 1917 demonstrativ zurück, und zwar unter dem Vorwand des Protestes gegen die Bewilligung einer ihrer Ansicht nach zu weitgehenden Autonomie der Ukraine durch die Provisorische Regierung. Nach Meinung der Kadetten war es notwendig, die Entscheidung über die ukrainische Frage bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu verschieben. Der Rücktritt der Kadetten fiel zusammen mit dem Beginn der revolutionären Aktion im Juli in Petrograd.

Den Artikel „Worauf mögen die Kadetten bei ihrem Austritt aus der Regierung spekuliert haben?" schrieb Lenin anscheinend am 16. (3.) Juli im Dorf Neiwola (in der Nähe der Station Mustomjaki an der Finnländischen Eisenbahn, bei Petrograd) vor Eintreffen der Nachrichten aus Petrograd über den Beginn der dortigen Ereignisse (die „Julitage"). Der Artikel war für die „Prawda" bestimmt, konnte aber nicht veröffentlicht werden, weil die „Prawda" verboten und die Druckerei zerstört worden war. Der Artikel erschien sehr viel später im „Proletarskoje Djelo" (Kronstadt), Nr. 2 vom 28. (15.) Juni 1917 ohne Angabe des Verfassers. Der Artikel enthält ganz am Schluss folgenden Absatz, der im Manuskript nicht vorhanden ist:

Aber Zeretelli und Tschernow zogen den Weg der Kompromisse und Zugeständnisse an die Konterrevolutionäre gegen die revolutionäre Klasse vor."

Es konnte nicht festgestellt werden, ob Lenin diesen Absatz geschrieben hat.

2 „Proletarskoje Djelo" (Die Proletarische Sache) – bolschewistische Tageszeitung, die im Jahre 1917 vom Kronstädter Komitee der SDAPR an Stelle der in den Julitagen von der Provisorischen Regierung verbotenen „Kronstadtskaja Prawda" herausgegeben wurde. Die erste Nummer des „Proletarskoje Djelo" erschien am 27. (14.) Juli 1917.

3 Abkürzung für die Zeitung „Birschewyje Wjedomosti" („Börsennachrichten"). Die Red.

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