Wladimir I. Lenin: Wozu führen die konterrevolutionären Schritte der Provisorischen Regierung

[„Prawda" Nr. 43, 11. Mai (28. April) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 414-417]

Wir erhielten folgendes Telegramm:

„Jenisseisk. Der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat die telegraphischen Weisungen des Ministers Lwow an den neuernannten Kommissar des Gouvernements Jenisseisk, Krutowski, zur Kenntnis genommen.

Wir protestieren gegen die Absicht der Wiedereinführung des Beamtentums und erklären erstens, dass wir uns nicht von ernannten Beamten verwalten lassen werden, zweitens, dass für die verjagten Bauernvögte kein Platz mehr ist, drittens, dass wir nur die vom Volke selbst im Kreis Jenisseisk geschaffenen Organe anerkennen, viertens, dass die ernannten Beamten nur über unsere Leichen hinweg werden kommandieren können.

Deputiertenrat von Jenisseisk“

Die Provisorische Regierung ernennt also von Petrograd aus „Kommissare" zur „Leitung" des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates von Jenisseisk oder der lokalen Selbstverwaltung von Jenisseisk überhaupt. Diese Ernennung wurde überdies von der Provisorischen Regierung in einer Form vorgenommen, dass der Jenisseisker Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat gegen die „Absicht der Wiedereinführung des Beamtentums" protestiert.

Noch mehr. Der Jenisseisker Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat erklärt, „dass die ernannten Beamten nur über unsere Leichen hinweg werden kommandieren können". Die Haltung der Provisorischen Regierung hat es zuwege gebracht, dass in einem entlegenen sibirischen Kreis die vom Volk gewählte leitende Körperschaft der Regierung direkt mit bewaffnetem Widerstand droht.

Das haben die Herren der Provisorischen Regierung mit ihrer Wirtschaft erreicht!

Und dieselben Leute nun werden, wie bisher stets, zetern gegen die Schädlinge, die den „Bürgerkrieg" „propagieren"!

Wozu war es nötig, von Petrograd oder irgendeinem anderen Zentrum aus „Kommissare" zur „Leitung" einer gewählten örtlichen Körperschaft zu ernennen? Ist etwa ein Zugereister eher in der Lage, die örtlichen Bedürfnisse zu kennen, die einheimische Bevölkerung zu „leiten"? Womit haben die Einwohner von Jenisseisk Anlass gegeben zu einer derartigen unsinnigen Maßregel? Warum begnügte man sich nicht zunächst, wenn die Einwohner von Jenisseisk in irgendeiner Hinsicht mit Mehrheitsbeschlüssen der Bürger anderer Orte in Konflikt geraten waren, mit dem Versuch, Erkundigungen einzuziehen, ohne Anlass zu bieten, von „Beamtentum" zu sprechen, ohne die berechtigte Unzufriedenheit und die Empörung der örtlichen Bevölkerung hervorzurufen?

Auf alle diese Fragen kann es nur eine Antwort geben. Die Herren Vertreter der Grundbesitzer und Kapitalisten, die in der Provisorischen Regierung sitzen, wollen um jeden Preis den alten zaristischen Verwaltungsapparat beibehalten, d. h. ein von oben „ernanntes" Beamtentum. So handelten fast immer alle bürgerlich-parlamentarischen Republiken der Welt, abgesehen von kurzen Revolutionsperioden in einigen Ländern. So handelten sie, indem sie damit die Rückkehr von der Republik zur Monarchie, zu den Napoleons, zu den Militärdiktatoren erleichterten und vorbereiteten. So handelten sie – und die Herren Kadetten wollen unbedingt diese traurigen Beispiele nachahmen.

Es ist eine außerordentlich ernste Frage. Man soll sich nicht täuschen. Durch solche Schritte, gerade durch sie bereitet die Provisorische Regierung – gleichviel, ob bewusst oder unbewusst – die Restauration der Monarchie in Russland vor.

Die ganze Verantwortung für die möglichen – und bis zu einem gewissen Grade unvermeidlichen – monarchistischen Restaurationsversuche in Russland fällt auf die Provisorische Regierung, die solche konterrevolutionären Schritte unternimmt. Denn ein – zur „Leitung" der örtlichen Bevölkerung – von oben „ernanntes" Beamtentum war immer und wird immer, ebenso wie das stehende Heer und die Polizei die sicherste Gewähr für die Restauration der Monarchie sein.

Der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat von Jenisseisk hat tausendmal recht, praktisch sowohl wie grundsätzlich. Die Rückkehr der davon gejagten Bauernvögte darf nicht zugelassen werden. Die Wiedereinführung eines „ernannten" Beamtentums darf nicht geduldet werden. „Nur die vom Volke selbst geschaffenen Organe" in dem betreffenden Gebiet sollen anerkannt werden.

Der Gedanke, dass eine „Leitung" durch von oben „ernannte" Beamte notwendig sei, ist grundfalsch, undemokratisch, ist ein cäsaristisches oder blanquistisches Abenteuer. Engels hatte durchaus recht, als er im Jahre 1891 den Programmentwurf der vom Bürokratismus ziemlich angekränkelten deutschen Sozialdemokraten kritisierte und auf der Forderung bestand: keine Kontrolle von oben über die örtliche Selbstverwaltung; Engels hatte recht, wenn er an die Erfahrungen Frankreichs erinnerte, das von 1792 bis 1798 von gewählten örtlichen Organen verwaltet wurde, ohne eine solche Kontrolle; von einem „Zerfall" oder einer „Auflösung" war keine Spur, Frankreich konsolidierte sich, fügte sich auf demokratischer Grundlage fester und organisierte sich.

Dumme Beamtenvorurteile, der hergebrachte Trott der zaristischen Methoden, reaktionärer Professorenwahn, dass der Bürokratismus notwendig sei, konterrevolutionäre Allüren und Bestrebungen der Grundbesitzer und Kapitalisten -– das ist der Boden, aus dem solche Schritte der Provisorischen Regierung, wie der von uns behandelte, herauswuchsen und herauswachsen.

Der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat von Jenisseisk hat den gesunden demokratischen Instinkt der Arbeiter und Bauern offenbart, die empört sind über den aufreizenden Versuch, erwachsenen, ortsansässigen Leuten, der übergroßen Mehrheit, die ihre Vertreter gewählt hatten, Beamte auf die Nase zu setzen zu ihrer „Leitung" von oben her.

Das Volk braucht eine wirklich demokratische Arbeiter- und Bauernrepublik, die keine anderen Behörden kennt als gewählte und auf Verlangen der Bevölkerung jederzeit absetzbare. Und für eine solche Republik müssen alle Arbeiter und Bauern kämpfen, gegen die Versuche der Provisorischen Regierung, die monarchistischen, zaristischen Verwaltungsmethoden und Verwaltungsapparate wiederherzustellen.