Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170710 Wunder an revolutionärer Tatkraft

Wladimir I. Lenin: Wunder an revolutionärer Tatkraft

[„Prawda", Nr. 92, 10. Juli (27. Juni) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 231-233]

Unsere scheinsozialistischen Minister entwickeln eine schier unglaubliche Tatkraft. Pjeschechonow hat erklärt, dass „der Widerstand der Kapitalisten anscheinend gebrochen sei", und dass bei uns, im heiligen Russland, alles, was da ist, „gleichmäßig" verteilt werden solle. Skobelew hat erklärt, dass man den Kapitalisten 100 Prozent ihrer Gewinne abnehmen werde. Zeretelli hat erklärt, dass die Offensive im imperialistischen Krieg vom Standpunkte der Demokratie und des Sozialismus die allergerechteste Sache sei.

Aber den Rekord all dieser Äußerungen einer wunderbaren Tatkraft hat zweifellos Minister Tschernow geschlagen. In der letzten Sitzung der Provisorischen Regierung hat Tschernow die Herren Kadetten gezwungen, seinen Bericht über die allgemeine Politik seines Ressorts anzuhören, und erklärt, er werde ganze zehn Gesetzentwürfe einbringen!1

Sind das nicht Wunder an revolutionärer Tatkraft? Seit dem 6. Mai sind weniger als sechs Wochen verstrichen, und in einer so kurzen Zeitspanne sind ganze zehn Gesetzentwürfe versprochen worden! Und was für Gesetzentwürfe! Das ministerielle „Djelo Naroda" teilt mit, dass sie „in ihrer Gesamtheit alle grundlegenden Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens des Dorfes umfassen".

Nicht mehr und nicht weniger als „alle Erscheinungen" … Ist das nicht ein bisschen viel?

Eines ist verdächtig: über hundert Zeilen widmet die ministerielle Zeitung der Aufzählung einiger dieser großartigen Gesetzentwürfe, ohne auch nur über einen einzigen ein klares Wort zu sagen. „Außerkraftsetzung einiger Gesetzesbestimmungen über die Bauern" … Welcher, bleibt unbekannt. Der Gesetzentwurf „über die Schlichtungskammern" ist der interessanteste. Zwischen wem und wie geschlichtet werden soll, bleibt unbekannt. „Regelung der Pachtverhältnisse", auch hier völliges Dunkel; es bleibt sogar ungewiss, ob es sich um die Pachtung der gutsherrlichen Ländereien handelt, die man entschädigungslos zu enteignen versprochen hat.

Reform im Sinne einer größeren Demokratisierung der örtlichen Landkomitees" … Wäre es nicht besser, ihr Herren Verfasser großspuriger Versprechungen, ihr würdet sofort eine Aufstellung von wenigstens zehn örtlichen Landkomitees geben, mit genauer Angabe über ihre jetzige, nachrevolutionäre Zusammensetzung, die nach eurem eigenen Geständnis immerhin nicht ganz demokratisch ist?

Aber das ist es ja gerade, dass die überschäumende Aktivität des Ministers Tschernow wie der übrigen oben genannten Minister den Unterschied zwischen einem liberalen Beamten und einem revolutionären Demokraten am besten veranschaulicht.

Der liberale Beamte hält den „vorgesetzten Behörden", d. h. den Herren Lwow, Schingarjow und Konsorten sehr umfangreiche Vorträge über Hunderte von Gesetzentwürfen, die die Menschheit beglücken sollen, dem Volke aber … dem Volke bietet er nur schöne Worte, Versprechungen, Redensarten à la Nosdrew2 (wie Beschlagnahme von 100 Prozent der Gewinne oder „sozialistische" Offensive an der Front und dergleichen mehr).

Der revolutionäre Demokrat enthüllt zu gleicher Zeit, wo er seiner „vorgesetzten Behörde" Bericht erstattet, oder sogar noch vor der Berichterstattung, jeden Übelstand, jeden Mangel vor dem Volke, indem er an seine Energie appelliert.

Bauern, entlarvt die Grundherren, enthüllt, wie viel sie euch in Form von „Pachtgeld" abnehmen, wie viel sie in den „Schlichtungskammern" oder in den örtlichen Landkomitees herauspressen, durch welche Schikanen und Hindernisse sie zu verhindern suchen, dass aller Grund und Boden bebaut, dass das gutsherrliche Inventar für die Bedürfnisse des Volkes und besonders seines ärmsten Teiles verwendet wird! Deckt das selber auf, Bauern, und ich, der „Minister des revolutionären Russlands", der „Minister der revolutionären Demokratie", werde euch helfen, jede solche Entlarvung in die Öffentlichkeit zu bringen, jedes Unrecht, das euch widerfährt, durch euren Druck von unten und durch meinen Druck von oben zu beseitigen!!! Würde ein wirklicher „revolutionärer Demokrat" nicht so sprechen und handeln?

Aber woher! Aber was! Die ministerielle Zeitung weiß zum „Bericht" Tschernows an die Herren Lwow und Konsorten folgendes zu sagen: „Ohne zu leugnen, dass in einigen Gouvernements eine ganze Reihe von Ausschreitungen auf dem Lande vorgekommen sind, ist V. M. Tschernow der Ansicht, dass das russische Dorf im Großen und Ganzen in viel höherem Maße ruhiges Blut bewahrt hat, als man es hätte erwarten können" …

Was aber den einzigen klar genannten Gesetzentwurf über die „Suspendierung von Kauf und Verkauf von Grund und Boden" anbetrifft, so wird kein einziges Wort darüber gesagt, warum der Gesetzentwurf suspendiert wurde? Den Bauern hat man nämlich seit langem versprochen, Kauf und Verkauf sofort zu suspendieren, man hat es bereits im Mai versprochen, am 25. Juni aber wird in der Presse bekanntgegeben, dass Tschernow einen „Vortrag" gehalten und dass die Provisorische Regierung „noch keinen endgültigen Beschluss gefasst habe" …

1 Über den Bericht des Landwirtschaftsministers Tschernow in der Sitzung der Provisorischen Regierung und die von ihm eingebrachten Gesetzentwürfe heißt es in den „Iswestija" des Allrussischen Rates der Bauerndeputierten (Nr. 42): „…der Grundgedanke des Berichts besteht darin, dass das dringliche Erfordernis des Augenblicks der Erlass einer ganzen Reihe von Gesetzen sei, die in ihrer Gesamtheit alle grundlegenden Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens des Dorfes umfassen. Das Landwirtschaftsministerium unterbreitet daher der Provisorischen Regierung zehn Gesetzentwürfe, die von unmittelbarer Bedeutung für die Regelung der sozialen Verhältnisse auf dem Gebiete der Landwirtschaft sind, und außerdem zwei ergänzende Entwürfe über eine Reform des Gelehrtenkomitees des Landwirtschaftsministeriums, um es dem Bedürfnis anzupassen, die Wissenschaft in den Dienst der Agrarreform zu stellen, und ferner über die Organisierung einer Abteilung für Wirtschaft und Politik beim Ministerium".

Die „Iswestija" des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten schrieben am 25. Juni 1917: „Das Ministerium unterbreitet der Provisorischen Regierung zehn Gesetzentwürfe über die Einstellung des Kaufs, Verkaufs und der Verpfändung von Grund und Boden, über die Einmischung in das Wirtschaftsleben des Dorfes usw. Das gefährlichste wäre, mit der Gesetzgebung zu spät zu kommen" …

Von den genannten zehn oder richtiger zwölf Gesetzentwürfen hat jedoch kein einziger während des Bestehens der Provisorischen Regierung bis zum Oktober 1917 Gesetzeskraft erlangt.

2 Nosdrew – Figur aus Gogols Roman „Die toten Seelen". Ein feiger und prahlerischer russischer Gutsbesitzer.

Kommentare