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Leo Sedow 19370900 Die GPU mordet auch im Ausland

[Leo Sedow:] Die GPU mordet auch im Ausland

Ignaz Reiss

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 1 (Dezember 1937), S. 16-18]

Am 4. September wurde in der Nähe von Lausanne ein von Kugeln durchlöcherter Körper gefunden. Bei dem Ermordeten fand man einen Pass auf den Namen des tschechischen Bürgers Hermann Eberhardt. In Wirklichkeit war dies Ignaz Reiss, Funktionär des illegalen Sowjetapparats im Ausland, der einige Wochen vor seiner Ermordung mit Stalin gebrochen und sich dem Banner der Vierten Internationale angeschlossen hatte.

Ignaz Reiss ist am 1. Januar 1899 in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in Polen geboren. Bereits als Gymnasiast schloss er sich der revolutionären Bewegung an, die ihn ganz gefangen nahm, als er in der juristischen Fakultät der Wiener Universität studierte. Als Mitglied der österreichischen KP wurde Reiss 1920 zwecks illegaler Arbeit nach Polen gesandt. Bald folgen Verhaftung, Folterung und eine Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis. Doch nach einem halben Jahr gelang es Reiss, gegen Kaution wieder frei zu kommen. Noch ganz jung tritt Reiss in der heroischen Epoche der russischen Revolution unmittelbar mit Moskau in Verbindung, in dessen Auftrag er seitdem arbeitet: 1923-1926 illegal in Deutschland (im Ruhrgebiet); dann kehrte er nach Wien zurück, wo er einige Zeit im Gefängnis zubrachte; 1927 reist er nach Moskau und wird Mitglied der russischen Partei. Die nächsten Jahre vergehen mit illegaler Arbeit in den verschiedenen Ländern Mittel- und Westeuropas; 1929-1932 ist er im zentralen Apparat in Moskau, dann wieder im Ausland.

Gen. Reiss glaubt oder bemühte sich zu glauben, der Sache der Arbeiterklasse und nicht der Stalinclique zu dienen. Doch Zweifel plagten ihn immer mehr. 1936-1937 brachten ihn der beschleunigte Verfall der Stalinherrschaft und im besonderen die Moskauer Prozesse zu dem Schluss, dass es scharf und für immer mit der Stalinclique zu brechen heiße. Großer moralischer und persönlicher Mut war erforderlich, um aus seinem Leben die vielen Jahre selbstaufopfernder Arbeit auszulöschen, um den Bruch mit Stalin-Jeschow zu vollziehen. Ignaz Reiss wusste besser als sonst wer, was ihm drohte. Aber sein Beschluss stand unwandelbar fest.

Als er sich im Frühjahr dieses Jahres mit Anhängern der Vierten Internationale in Verbindung setzte, warnte Reiss sie vor allem davor, dass in Moskau der Beschluss gefasst worden ist, die ausländischen Trotzkisten und antistalinistischen Kommunisten mit beliebigen Mitteln zu «liquidieren».

Im Juli 1937 sendet Gen. I. Reiss unter dem Pseudonym Ludwig einen Brief an das Zentralkomitee der KPSU, worin er mit Stalin bricht und den überaus verantwortlichen Posten verlässt, den er bekleidete. Als Antwort auf diese Erklärung senden die künftigen Mörder des Gen. Reiss an die Polizeien der europäischen Länder anonyme und genaue Denunziationen gegen den Verstorbenen, indem sie ihn als einen kriminellen Verbrecher hinstellen…

Nachdem Reiss mit seiner Vergangenheit gebrochen, baut er Pläne für die Zukunft, Pläne der revolutionären und literarischen Arbeit in den Reihen der Vierten Internationale. Er hofft auch einige seiner ehemaligen Genossen zu gewinnen. Zu diesen Zweck trifft er am 4. September in Lausanne eine gewisse Gertrud Schildbach (geb. Neugebauer), Mitarbeiterin der GPU, die in der letzten Zeit in Italien arbeitete. Seit 20 Jahren eng mit ihr bekannt, schenkt ihr Reiss sein volles Vertrauen. Beim Wiedersehen, das im Beisein der Frau von Reiss stattfindet, sagt G. Schildbach, sie wolle ebenfalls mit dem Stalinismus brechen. Man bespricht Zukunftspläne, Gen. Reiss rät der Schildbach, sich der Vierten Internationale anzuschließen. Am Abend lädt Schildbach Gen. Reiss ein, mit ihr in der Umgebung von Lausanne zu Abend zu essen. Beim Verlassen des Restaurants fährt ein Auto vor, Reiss wird mit einem Totschläger betäubt, ins Auto geschleppt und ermordet. Im Körper des Verstorbenen wurden sieben Kugeln gefunden. Fünf davon saßen im Kopf. I. Reiss hat heftig um sich geschlagen. In seiner verkrampften Hand wurde ein Büschel Haare gefunden, die von der Schildbach stammen, die ihn verraten und verkauft hat… Das blutbespritzte Auto ließ man in Genf stehen und die physischen Mörder – nach den Angaben der Schweizer Polizei waren es mindestens fünf Mann – fuhren per Taxi nach Chamonix, und von dort mit dem Zug nach Paris.

Der Schweizer Polizei gelang es nur, die Schweizer Stalinistin Renate Steiner festzunehmen, auf deren Namen das Auto gemietet worden war, sowie einen Koffer zu beschlagnahmen, den Gertrud Schildbach in ihrem Hotel zurückgelassen hatte. Zwischen ihren Sachen fand man mehrere Photographien der Schildbach. In dem von den Mördern stehen gelassenen Auto wurde ein Mantel mit dem Schneiderzeichen einer Madrider Firma gefunden.

Wenn die physischen Mörder auch nicht entdeckt wurden, der Name des wirklichen Mörders ist allen bekannt. Wie beim Raub der Trotzkischen Archive ist Stalin nicht einmal bemüht, die Spuren zu verwischen. Ein Mord mehr oder weniger, das ist ganz gleich. Er hat nichts mehr zu verlieren!

Nachdem Stalin alle Quellen erschöpft hat, darunter auch die der Verleumdung – einer Verleumdung, wie die Geschichte sie noch nicht gesehen hat! – gibt er den Mauser nicht mehr aus der Hand. Die Furcht dieses Menschen ist so groß wie seine Verbrechen. Er glaubt niemandem und fürchtet alle. Er führt einen rein tierischen Kampf um die Macht, um die Selbsterhaltung, ums Leben. Um die Militärkaste sich gehorsam zu halten, tötet er ihre hervorragendsten Vertreter. Damit die Wirtschaftsverantwortlichen vor ihm zittern, erschießt Stalin Pjatakow u.a. Um das sogenannte Politbüro (das nur auf dem Papier besteht) in der Hand zu behalten, bleibt Stalin heute nichts anderes übrig, als eines seiner Mitglieder zu töten (Rudsutak). Der GPU vertraut Stalin nicht mehr als den anderen Institutionen, aber er fürchtet sie mehr. Nicht umsonst wurde der GPU-Apparat ganz zertrümmert und erneuert, nicht nur an seiner Spitze sondern auch in allen seinen Gliedern. Einer völligen Zertrümmerung fiel auch der ausländische GPU-Apparat anheim, seine verletzbarste Stelle. Alle alten Mitarbeiter dieses Apparats werden unter dem einen oder anderen Vorwand nach Moskau gerufen und dort plötzlich oder nach einer fiktiven «Interims»ernennung erschossen. Es ist unter diesen Umständen nicht erstaunlich, dass die Mitarbeiter der GPU schließlich demoralisiert werden, und dass diejenigen von ihnen, die sich im Ausland befinden, nicht mehr nach Moskau zurückkehren. Die besten aber suchen, nach dem Beispiel des ermordeten Genossen, den Weg zurück zum alten Banner Lenins.

Ignaz Reiss wurde ermordet nicht nur, um den unlöschbaren stalinistischen Rachedurst zu stillen (zuerst töten, und dann schlafen gehen), sondern vor allem aus einem Gefühl panischer Furcht heraus. Der «Vater der Völker» mit seinen Jeschows weiß nur zu gut, wie viel potentielle Reisse in allen Apparaten stecken. Der Mord von Lausanne soll ihnen allen – und nicht nur ihnen – als Warnung dienen. Man kann nicht zweifeln, dass das Ziel nicht erreicht werden wird. Die Schlussfolgerung, die alle im Ausland Schlägen ausgesetzten Genossen aus dieser tragischen Affäre für sich selbst ziehen, wird sein: Verstärkung der Selbstverteidigungsmaßnahmen!

Die Stalinherrschaft verfällt mit rasender Geschwindigkeit. Die Moskauer Prozesse, die in der Absicht ihres Autors ein Zeichen vollen Triumphs sein sollten, waren in Wirklichkeit ein mächtiger Anstoß zu weiterer Zersetzung. Der ermordete Genosse Reiss versicherte, dass in Moskau niemand, nicht ein einigermaßen kundiger Mensch, an die stalinistischen Anklagen glaubt und jeder die Gerichtskomödien im Kreml «trotzkistisch» beurteilt. Er versicherte auch, dass Nicht-«bereuen» gleichbedeutend ist mit Erschossenwerden schon vor dem Prozess und ohne Prozess. Er wies auf eine ihm persönlich gut bekannte Tatsache hin: die GPU versuchte, in den Sinowjewprozess den Tschekisten Friedmann zu verwickeln. Da sie aber bei ihm auf kategorische Ablehnung, das von ihm verlangte «Geständnis» abzulegen, stieß, wurde Friedmann noch vor dem Prozess der 16 erschossen. Friedmanns Name wurde im Prozess der 16 als einer der Angeklagten genannt. Das «Rotbuch» sprach schon damals die Überzeugung aus, dass sich Friedmanns Abwesenheit auf der Anklagebank dadurch erkläre, dass es nicht gelungen war, ihm das Rückgrat zu brechen: und dass die GPU Friedmann ohne Prozess erschossen habe.

Man kann nicht umhin, die Tatsache zu bemerken, dass die kapitalistische Weltpresse den Mord an Ignaz Reiss mit Schweigen umging. Das ist nicht verwunderlich. Stalins Morde an Revolutionären bleiben der Bourgeoisie nicht nur gleichgültig, sondern freuen sie sogar. Mit umso größerer Energie sind die Arbeiterpresse und Arbeiterorganisationen verpflichtet, die stalinistischen Verbrechen aufzudecken. Nur breites Bekanntwerden der Verbrechen wird dazu beitragen, dem tollwütigen Usurpator einen Maulkorb anzulegen. Nur breites Bekanntwerden kann die neuen Opfer verhüten, die in Stalins Kabinett angemerkt sind.

Stalins Berechnungen werden auch auf diesem Gebiet, wie auf allen anderen, nicht aufgehen. Man kann mit einer Mauserpistole nicht den Gang der geschichtlichen Entwicklung aufhalten. Der Stalinismus ist gerichtet, er verfault und zersetzt sich vor unseren Augen. Der Tag ist nahe, wo sein stinkender Leichnam in die Müllgrube der Geschichte geworfen werden wird.

N . Markin

Aus dem russischen «Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten)».

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