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Karl Liebknecht 19000929 Das neue bürgerliche Recht, ein Rück- oder Fortschritt für die Arbeiterklasse?

Karl Liebknecht: Das neue bürgerliche Recht, ein Rück- oder Fortschritt für die Arbeiterklasse?

Zeitungsbericht über eine Rede in Dresden

29. September 1900

[Sächsische Arbeiter-Zeitung, Dresden, Nr. 229 vom 3. Oktober 1900. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 3-7]

Der Sozialdemokratische Verein für Dresden-Altstadt hatte am Sonnabend, dem 29. September, einen von etwa 800 Personen besuchten wissenschaftlichen Vortragsabend mit dem Thema „Das neue bürgerliche Recht, ein Rück- oder Fortschritt für die Arbeiterklasse?" veranstaltet. Der Vorstand hatte in dankenswerter Weise als Vortragenden den Genossen Rechtsanwalt Dr. Karl Liebknecht, Berlin, gewonnen.

Von den Versammelten enthusiastisch begrüßt, lehnte dieser den erhebenden Empfang mit bewegten Worten für seine Person dankend ab, ihn auf seinen Vater übertragend, der leider nicht mehr unter uns weilt.

In zweieinhalbstündiger meisterhafter Rede ging der Vortragende auf die für die Arbeiter am meisten in Betracht kommenden Paragraphen ein, ungefähr folgendes ausführend: Es ist eine sonderbare Frage, ob das neue bürgerliche Recht gegenüber dem bisherigen einen Fort- oder Rückschritt für die Arbeiter bedeutet, und man kann darauf nur antworten: weder das eine noch das andere. Es galt, als man an die Schaffung eines neuen Rechts ging, einen Zustand der Zersplitterung zu beseitigen, wie er schlimmer nicht gedacht werden kann. Nicht nur, dass jeder der 25 Bundesstaaten ein eigenes Recht besaß, auch innerhalb der einzelnen Staaten herrschte oft der bunteste Wirrwarr, ein Zustand, der, je mehr das geltende Recht aus dem Volksbewusstsein entschwand, um so unerträglicher wurde.

Über zwei Jahrzehnte ist an dem neuen Rechte gearbeitet worden. Die Einheitlichkeit, die erstrebt wurde, ist jedoch trotzdem nicht so zustande gekommen, wie man es hätte erwarten können. An das Gesinderecht, das doch einer Verbesserung gewiss bedürftig gewesen wäre, getraute man sich, nach dem energischen Einspruch der Agrarier, nicht heran, nur das Züchtigungsrecht wurde beseitigt, und es klingt wie ein Hohn auf die deutsche Kultur, dass es erst noch beseitigt werden musste. Aber nicht nur das Gesinderecht blieb „unberührt", nein, auch das Bergrecht, und dieses „unberührt" kehrt fast hundertfach wieder und legt Zeugnis ab für die gescheiterten Einheitsbestrebungen. Auf der anderen Seite ist auch das Recht des hohen Adels – der noch regierenden und der schon abgesetzten Herren von Gottes Gnaden – nicht angetastet worden.

Der schwerste Fehler des neuen Rechts ist der, dass es nicht der Entwicklung Rechnung trägt. Vorausschauende Geister sind es nicht gewesen, die das neue Recht schufen, und darum ist dasselbe zu einer Festsetzung des schon Bestehenden geworden. Das französische Recht ist immer noch dem Leben angepasst, trotzdem es schon hundert Jahre alt ist, und dies kommt daher, weil die Richter dort die Gesetze machen und sie so auslegen, wie dies der Entwicklung entspricht. Ob bei uns in Deutschland etwas Derartiges zu empfehlen wäre, wage ich nicht zu bejahen. Sie wissen ja am besten zu beurteilen, was daraus entstehen könnte. Das Löbtauer Urteil1 hat am deutlichsten gezeigt, wohin wir unter solchen Verhältnissen kämen. Es war dies ein Urteil schlimmster Art, und das Schlimmste daran ist, dass dies die Richter selbst nicht einmal wissen. Wenn bei uns die Richter die gesetzgebende Gewalt hätten, wie in Frankreich, dann wäre es noch viel unheimlicher, als es so schon ist.

Wir haben nun im neuen Recht eine ganze Anzahl Arbeiterschutzbestimmungen, die aber leider nur auf dem Papier stehen, so zum Beispiel den Paragraphen 616, der davon handelt, dass dem Arbeiter eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit, die er in Ausübung eines in seiner Person liegenden Verhinderungsgrundes" bei der Arbeit versäumt, nicht am Lohne gekürzt werden darf. Diese Bestimmung ist offenbar seitens des Gesetzgebers für alle die Fälle gedacht, in welchen der Arbeiter ohne sein Verschulden eine verhältnismäßig kurze Zeit der Arbeit fernbleiben muss: zum Beispiel bei Vormundschaftssachen, Kontrollversammlungen, Arztbesuchen, ja auch Krankheitsfällen und Militärdienstableistungen bis zur Dauer von 14 Tagen. Dies ist meiner Auffassung nach der Sinn dieser Bestimmung. Verschiedene Gewerbegerichte und auch die Gewerberichterversammlung in Mainz stellten jüngst denselben Grundsatz auf. Hier jedoch, wie bei noch vielen anderen Bestimmungen, lässt das Gesetz abweichende Vereinbarungen zu, und dies wird natürlich von den Unternehmern schleunigst benützt. König Stumm2, der nicht genug die sozialen Einrichtungen seines Betriebes loben kann, war einer der ersten, der durch diese Hintertür schlüpfte und auf diese Weise für seine Arbeiter die Gesetzesbestimmungen unwirksam machte. Durch solche aufhebenden Bestimmungen wird an dem bestehenden Zustand nicht das Geringste geändert, und die Paragraphen stehen somit eben nur auf dem Papier und können dem Arbeiter absolut nichts nützen. Ein solcher Geist gegen den Willen des Gesetzgebers ist einfach unsittlich.

Wenn das Arbeitsverhältnis gekündigt ist, so hat nach dem neuen Recht der Arbeiter die Vergünstigung, dass er jeden Tag eineinhalb bis zwei Stunden nach neuer Arbeit suchen kann, und der Arbeitgeber kann ihm dies nicht verweigern.

In Bezug auf die Pfändung ist eine kleine Besserung eingetreten. Eine Nacktpfändung war ja auch hier bisher nicht zulässig, alles Erforderliche zum Leben durfte nicht gepfändet werden. Jetzt ist der Kreis der nicht pfändbaren Gegenstände erweitert worden. Es darf nur das gepfändet werden, was nicht zu einer „angemessenen" Lebenshaltung gehört. Wenn man dies hört, meint man, nun ist es gut, nun kann mir nicht mehr alles genommen werden. Als Anwalt habe ich aber oft schon die Erfahrung gemacht, dass diese Bestimmung für die Arbeiter unwirksam ist. Wenn ein Offizier gepfändet wird, dann braucht er eben dies und jenes zur „angemessenen" Lebenshaltung, beim Arbeiter aber wird schon der dritte Anzug gepfändet, er soll am Sonntag genauso gehen wie am Werktag. (Beifall.)

Beim Mietsrecht ist die „Rechtslage genau dieselbe. Wie notwendig wäre es gerade hier gewesen, den Hauspaschas die viel zu weit gehenden Befugnisse zu beschneiden. „Das neue Mietsrecht", „der Arbeitsvertrag", das waren Worte, die eine große Anziehungskraft für die Bevölkerung hatten, man erhoffte davon eine Erleichterung des wirtschaftlichen Druckes, der auf allen Minderbemittelten schwer lastet. Wer jedoch im neuen Rechte Goldkörner zu finden hoffte, der hat sich schwer getäuscht, indem er nur Flittergold fand. Beim Mietsrecht spielt in ganz besonderer Weise das fast uneingeschränkte Recht, Vereinbarungen zu treffen, eine recht fragwürdige Rolle. Diese Befugnis heißt hier wie dort nichts anderes, als dem wirtschaftlich Schwächeren die „Genehmigung" zur Beseitigung der in seinem Interesse vom Gesetz getroffenen Bestimmungen abzwingen, und darum ist die Normierung solcher Bestimmungen nichts anderes als Heuchelei. Die Reichen leiden natürlich unter diesem unhaltbaren Zustande nicht, sie ziehen aus, wenn ihnen etwas nicht genehm ist, und bekommen Wohnungen in Hülle und Fülle. Der Arme dagegen, wenn er sich auflehnt und auszieht, kommt vom Regen in die Traufe, weil kleine Wohnungen, wie er sie, entsprechend seinem Verdienste, braucht, meist nicht genügend vorhanden sind und daher der Vermieter mit ihm umspringen kann, wie er will. Wer nun etwa glaubt, dass sich mit Einführung des neuen Gesetzes im Mietsrecht etwas geändert hätte, der nehme nur einen alten und einen neuen Mietvertrag und vergleiche: Er wird auch nicht das Geringste geändert finden. Mit einem Federstrich sind die Pascharechte in etwas einschränkenden Bestimmungen über den Haufen geworfen. Bisher brach Kauf Miete; dies ist jetzt anders geworden: Kauf bricht nicht Miete. Bei dem heutigen Häuserspekulantentum ist dies sehr angebracht, denn es kommt vor, dass ein Haus schneller von Hand zu Hand geht als ein Groschen. Ich empfehle überhaupt jedem Mieter, einmal seinen Mietvertrag acht Tage lang als Bibel zu benützen: Wenn er sieben Tage lang in dieser Bibel gelesen, ist er sicher am achten Sozialdemokrat.

Der Redner geht noch des näheren auf den Wucherparagraphen, das Recht der unehelichen Kinder, das Ehe- und Vereinsrecht ein und kommt zu dem Schluss, dass das neue Recht für die Arbeiter weder einen Rück- noch Fortschritt bedeutet. Es ist ein Kaleidoskop: Gutes und Böses in wechselnder Reihenfolge. Um sich einen Einfluss auch auf die Gesetzgebung zu sichern, haben die Arbeiter nur das eine zu tun: sich zusammenzuschließen und sich zu organisieren, denn bilden sie eine starke Macht, dann muss eben auch der Gesetzgeber mit ihnen rechnen. Darum immer und immer wieder: Organisiert euch, schließt euch zusammen, werbt, arbeitet, kämpft! (Brausender Beifall.)

1 Im Februar 1899 wurden in Löbtau bei Dresden 9 Bauarbeiter zu insgesamt 61 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt, weil sie dagegen protestiert hatten, dass auf einem Nachbarbau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Hierbei war es zu Tätlichkeiten gekommen, als der Bauleiter mit einem blind geladenen Revolver geschossen hatte.

2 Karl Freiherr von Stumm-Halberg (1836-1901), Großindustrieller und fast uneingeschränkter Beherrscher des Saargebietes, Verfechter der Bismarckschen Schutzzollpolitik, Mitbegründer und führendes Mitglied der Deutschen Reichspartei, 1867-1870 im preußischen Abgeordnetenhaus, 1882-1901 im Herrenhaus, 1867-1881 und 1889-1901 im Reichstag.

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