Karl Liebknecht‎ > ‎1903‎ > ‎

Karl Liebknecht 19031229 Gegen den Raub eines sozialdemokratischen Mandats

Karl Liebknecht: Gegen den Raub eines sozialdemokratischen Mandats

Rede in der Berliner Stadtverordnetenversammlung

[Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten-Versammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 50. Jahrgang, 1903, S. 552-355. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 46-60]

Meine Herren, ich möchte zunächst dem Kollegen Marggraff entgegnen, der erklärte, es sei von keiner Seite die Meinung ausgesprochen, dass von den streitigen Wählern Kerfin möglicherweise gar nicht gemeint gewesen sei, und infolgedessen sei der erste Teil der Resolution überflüssig. Das trifft nicht zu. Der Herr Referent hat ausdrücklich dieses Bedenken geltend gemacht, und es würde das einzige einigermaßen verständige Bedenken sein, das man äußerstenfalls haben könnte.

Meiner Ansicht nach muss man als Jurist ohne weiteres zu dem Ergebnis kommen, dass die diesseitige Rechtsauffassung, nach der der Wahlvorsteher Marx korrekt verfahren hat, richtig und dass die gegenteilige Auffassung absolut unhaltbar ist. Der Paragraph 25 der Städteordnung besagt, dass jeder Wähler dem Wahlvorsteher mündlich und laut zu Protokoll zu „erklären" hat, wem er seine Stimme geben will. Er hat so viele „Personen" zu „bezeichnen", als zu wählen sind. Was heißt hier „erklären"? Das Wort „erklären" hat in unserer Gesetzessprache die Bedeutung: eine „Willenserklärung" abgeben. Es ist eine Willenserklärung, die von dem Wähler verlangt wird dahingehend: Ich stimme für den und den – und zwar eine „empfangsbedürftige Willenserklärung", die erst in dem Augenblick als perfekt anzusehen ist, wo sie zur Kenntnis des Wahlvorstehers gelangt. Auf diese Willenserklärung finden Anwendung die allgemeinen Bestimmungen, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch niedergelegt sind, und zwar kommt insbesondere zur Anwendung der Paragraph 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der besagt: „Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften."

Der berühmte Kommentator zum Bürgerlichen Gesetzbuch, der einer der Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuches gewesen ist, Planck, erklärt in einer Anmerkung: „Die Vorschrift des Paragraphen 133 ist, richtig verstanden, selbstverständlich"; und das ist sie in der Tat für jeden Menschen, der nicht doloserweise aus einem Versehen oder Irrtum im Ausdruck, einem lapsus linguae, Vorteile herauszupressen sucht. Es ist der wirkliche Wille zu erforschen; es ist nicht an dem Buchstaben hängenzubleiben. Ist es denn nicht geradezu hinterhältig, wenn man sich an die schlechte Ausdrucksweise einer Person, an das Versprechen einer Person, an einen abweichenden Dialekt einer Person klammern und die Willenserklärung in dem Augenblick für abgeschlossen erachten will, wo das erste Mal ein Ton aus dem Munde des Betreffenden hervorgegangen ist? Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Wille zu erforschen ist, und der Wille, den der Wahlvorsteher zu erforschen hat, ist nicht gerichtet auf das Vonsichgeben eines Tons, sondern, wie Paragraph 25 der Städteordnung besagt und wie es selbstverständlich ist, handelt es sich bei der Wahl darum, „Personen" zu „bezeichnen". Es kann sich also nur darum handeln, den Willen des Wählers, soweit er auf Bezeichnung einer bestimmten Person geht, zu ermitteln. Wenn nun der Wähler irgendeinen bloßen Vatersnamen angibt, so kann dieser Vatersname an und für sich nach den gewöhnlichen Regeln unseres Verkehrs keineswegs genügen zur Bezeichnung einer Person; man wird es regelmäßig für erforderlich halten, dass die betreffende Person, die man bezeichnen will, nach Vornamen, Hauptnamen, Adresse, in der Regel auch nach dem Stande bezeichnet wird. Wenn man bei der Wahl gelegentlich davon Abstand nimmt, eine solche Bezeichnung der Person zu verlangen, so geschieht das doch nur deshalb, weil ohne Weiteres klar ist, dass, wenn der Vatersname eines der offiziell bekannten, notorischen Kandidaten angegeben wird, kein Zweifel obwalten kann. Es wird sicherlich Herr Kerfin einen Sohn haben oder Herr Frick einen Sohn haben, wahrscheinlich werden alle die Kandidaten Kinder oder Brüder oder Väter haben, auf die der bloße Vatersname auch zutreffen würde. Wenn man sich auf den Standpunkt der Protesterheber stellen wollte, so würden die sämtlichen abgegebenen Stimmen ungültig sein, weil alle die bei der Abstimmung genannten Namen die Möglichkeit offenlassen, dass ein Bruder, der Vater oder ein Sohn gemeint sind. Es ist doch offenbar, dass schon die eine Tatsache, dass man sich begnügt hat mit der bloßen Bezeichnung des Vatersnamens, deutlich zu erkennen gibt, dass man mit den notorischen Kandidaten gerechnet hat. Mit anderen Worten: Es geht daraus hervor, dass jeder Wahlvorsteher interpretieren muss. Denn nur mit Hilfe dieser Interpretation kann man darauf kommen, und ist es allerdings in diesem Falle selbstverständlich, dass „Frick" nur den Stadtverordneten Frick bezeichnen kann. Daraus ergibt sich, dass auch im Übrigen eine Interpretation stattfinden muss. Wenn jemand einen Namen nennt, der sich nicht ganz deckt mit dem Namen eines offiziellen, notorischen Kandidaten, so unterliegt es gar keinem Zweifel, dass die bloße Bezeichnung mit dem Vatersnamen noch nicht die bestimmte Bezeichnung einer Person ist. Paragraph 25 der Städteordnung verlangt, der Wähler habe so viele Personen zu „bezeichnen"; es ist also die Angabe eines bloßen Vatersnamens noch nicht die Angabe einer Person, und es hat deshalb der Wahlvorsteher die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass näher festgestellt wird, wen der Wähler denn genau bezeichnen will, und er hat darum zu fragen: Welche Wohnung hat der Betreffende, welchen Stand hat er usw.? Wenn aber der Name offensichtlich sich in der äußeren Form deckt mit dem Namen des Kandidaten, so wäre es eine Torheit, wenn man dem Wahlvorsteher zumuten wollte, so zu verfahren. Man muss es für selbstverständlich halten, dass der Wahlvorsteher das gute Recht hat, zu sagen: Sie meinen wohl dies?

Ich möchte die Herren, auch gerade die Juristen, die hier eine entgegengesetzte Auffassung vertreten sollten, darauf hinweisen, dass jeder von Ihnen einen Richter, der einen Zeugen instrumentiert und diesen festnageln wollte auf eine erste unpräzise Erklärung, als unfähig, als untüchtig, als seiner Stellung nicht gewachsen oder auch als arglistig bezeichnen würde. Aber der Richter hat bei der Vernehmung der Zeugen auch eben nur den wahren Willen zu erforschen. Ganz ebenso hat der Wahlvorsteher die Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass eine deutliche Erklärung, wie sie zur Aufnahme in das Protokoll dienlich ist, abgegeben wird. Das ist hier durchaus in diesem Sinne gehandhabt worden. Der Strohhalm, an den sich unsere Herren „Gegner" – so darf ich wohl sagen – in diesem Falle klammern, ist ein Wörtlein, das sich in einer Oberverwaltungsgerichtsentscheidung findet und von ihnen obendrein missverstanden wird. Das Wörtchen ist „ausgesprochen", in dem Zusammenhange, dass entscheidend sein soll der „ausgesprochene" Name. Es ist ja doch absolut unrichtig, dass das Oberverwaltungsgericht mit diesem Worte etwas anderes hat sagen wollen, als der Paragraph 25 der Städteordnung bereits klipp und klar bestimmt. Nach Paragraph 25 ist es erforderlich, dass die gewählte Person mündlich bezeichnet wird. Sobald einmal eine klare, eindeutige Willenserklärung abgegeben ist, hat niemand das Recht, an dieser Willenserklärung herum zu deuteln. Das Wort „aussprechen" heißt – das ist auch im Ausschuss gesagt worden – nicht: einen Ton von sich geben, sondern es heißt: bezeichnen im Sinne des Paragraphen 25 der Städteordnung.

Meine Herren, was wollen Sie denn eigentlich aus dem Wahlvorsteher machen? Ich habe schon den Herren im Ausschuss entgegengehalten, dass Sie ja, wenn Sie konsequent sein wollen, gar keine Wahlvorsteher nötig haben würden, dass Sie gut tun würden, einen Phonographen aufzustellen, der den ersten Ton, der aus dem Munde des Wählers herauskommt, mit absoluter Naturtreue auffangen würde. Man könnte ja nachher die phonographischen Platten miteinander vergleichen. Das ist ja unsinnig. Der Wahlvorsteher ist ja eine Person, die eine Funktion auszuüben hat. Er ist nicht dazu da, einfach das, was an seine Ohren dringt, niederzuschreiben, sondern dazu, die Wahlverhandlung in angemessener Weise zu leiten – deshalb heißt er ja Wahlvorsteher –, und dazu gehört die Entgegennahme der Stimmen, und stimmen heißt Abgabe einer Willenserklärung, und deshalb muss er auf diese hinwirken. Es ergibt sich, dass er verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass eine wirkliche Willenserklärung abgegeben werde, nicht aber irgendwelche gelallten Laute, die ihm nur unter der Voraussetzung genügen könnten, dass die Wähler Idioten seien, die irgendwelche Töne, die aus ihrem Munde gefahren sind, bereits für Willenserklärungen halten. Solange jemand der Auffassung ist, dass ein Wähler ein verständiger Mensch ist, wird er nicht glauben, dass der Wähler nur ein paar Töne herausschleudern will, sondern dass er entsprechend der Städteordnung eine „Person bezeichnen" will, und hieraus ergibt sich, dass auf eine klare Willenserklärung in dieser Richtung hinzuwirken ist. Das Oberverwaltungsgericht hat nichts hiergegen angeführt; vielmehr haben sich die bereits von Herrn Kollegen Stadthagen gewürdigten Entscheidungen eingehend über diesen Punkt in unserem Sinn verbreitet.

Wir haben auch, abgesehen vom Oberverwaltungsgericht und Oertel, nicht nötig, hier lange nach Autoritäten zu suchen, die unserer Auffassung sind; wir können noch verschiedene ganz gute Namen ins Feld führen. Als wir im Ausschuss über diese Frage berieten, erklärte Herr Kollege Cassel: Was würden die Herren Sozialdemokraten für einen Skandal gemacht haben, wenn bei der Landtagswahl etwa ein Wahlvorsteher in ähnlicher Weise vorgegangen wäre wie der Wahlvorsteher Marx? Die Fälle sind vorgekommen, Herr Kollege. Es sind in der Tat, und zwar von Herrn Stadtrat Böhm, einer Autorität, die Sie nicht so ohne weiteres für nichtig erklären werden, bei der Landtagswahl eine ganze Anzahl von Stimmen ohne weiteres für gültig erklärt und den aufgestellten Kandidaten zugerechnet worden, die sich in keiner Weise deckten mit den Namen derjenigen Kandidaten, die aufgestellt waren. Es ist zum Beispiel von Herrn Böhm für genügend erachtet worden, wenn an Stelle von Kopsch gesagt wurde Klopsch und wenn an Stelle von Silberschmidt gesagt wurde Silberstein. Es ist für genügend erachtet worden, wenn an Stelle von Zwick Zick, an Stelle von Rosenow Rosen oder dergleichen gesagt wurde. („Hört, hört!") Also, Herr Kollege Cassel, Herr Stadtrat Böhm hat dieses Verfahren eingeschlagen unter Billigung der sämtlichen anwesenden Personen. Es waren auch Sozialdemokraten anwesend, und sie haben keinen Skandal gemacht, weil sie eben vernünftige Leute waren. So liegt die ganze Geschichte.

Ich habe noch eine weitere Autorität anzuführen. Es ist von einem Stadtsyndikus, der allerdings nicht den Vorzug besitzt, in Berlin Stadtsyndikus zu sein, sondern in Charlottenburg, von dem Stadtsyndikus Bruno Schulze, die Städteordnung von Plagge neu herausgegeben worden. Der Herr Stadtsyndikus Schulze erwähnt in einer Anmerkung zu Paragraph 25 durchaus billigend die von uns angeführte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, und zwar noch im Jahre 1901, also vor zwei Jahren. Es wäre doch geradezu unerträglich, hier von einem Wahlvorsteher zu verlangen, dass er konfuse Willenserklärungen ohne weiteres aufnimmt. Lassen Sie doch den Namen Kerfin von einem Stotterer aussprechen! (Unruhe.)

Wonach haben wir denn diese Frage zu entscheiden? Wir müssen sie doch nach rechtlichen Prinzipien entscheiden. Wenn Sie keine Prinzipien haben, so sagen Sie offen: Wir wollen die Wahl für ungültig erklären, weil ein Sozialdemokrat gewählt ist und weil bloß 21 Stimmen Majorität sind, und wir hoffen, den Wahlkreis wiederzugewinnen. Sagen Sie das offen, und wir glauben Ihnen das. Dies Motiv wird wohl wahr sein. Aber wenn wir uns auf rechtliche Deduktionen einlassen, dann muss man doch auf alle diese Möglichkeiten zurückgreifen. Lassen Sie den Namen von einem Stotterer aussprechen, dann würde es doch geradezu unsinnig sein, so zu notieren, wie er spricht. Man braucht doch alle diese Beispiele nicht anzuführen, um Ihnen die Unnahbarkeit jener anderen Ansicht darzulegen.

Meine Herren, es liegen hier zwei verschiedene Arten von Fällen vor. Selbst wenn Sie jene ganz unhaltbare, ich behaupte sogar, im juristischen Sinne perverse juristische Auffassung hätten, so müssten zwei Arten von Fällen geschieden werden: einerseits die Fälle, in denen der Wahlvorsteher erklärt hat: Sie meinen doch Kerfin? und wo das bejaht worden ist, andererseits die Fälle, wo der Wahlvorsteher, ohne noch einmal den Versuch zu unternehmen, das für ihn Selbstverständliche noch ausdrücklich festzustellen, dann ohne weiteres den richtigen Namen eingetragen hat.

Meine Herren, ich möchte zunächst an Ihre Wahrheitsliebe appellieren. Ich möchte denjenigen bitten, hier vorzutreten, der nicht der festen Überzeugung ist, dass in allen strittigen Fällen Kerfin gemeint war. Kein Einziger von Ihnen, meine Herren, wird es wagen, zu behaupten, dass er anderer Ansicht ist. Wenn einer von Ihnen es dennoch behaupten sollte, dann glaube ich es ihm einfach nicht. Aber ich glaube, keiner von Ihnen wird es sagen. Allerdings, meine Herren, das eine trifft ja zu: Der Herr Referent hat eine ähnliche Andeutung gemacht, und diese Andeutung hat mich gerade veranlasst, eingangs meiner Ausführungen dem Herrn Kollegen Marggraff zu entgegnen. Er hat davon gesprochen, man wisse nicht, ob nicht dieser oder jener andere gemeint sein könne, der vielleicht unter einer der angeblich inkorrekten Namensformen in Berlin existiere. Es existieren aber keine solchen Namen – darauf ist schon hingewiesen worden –, und ich glaube nicht, dass ein einziger von den Protesterhebern daran gedacht hat. Es ist ein kleines Hintertürchen, eine Mentalreservation, die man sich gemacht hat.

Wie sind nun die Fälle zu beurteilen, in denen der Wahlvorsteher gesagt hat: Meinen Sie Kerfin? oder: Sie meinen doch Kerfin! In diesen Fällen könnte Wahlbeeinflussung in Betracht kommen, die man aber nur dann für vorliegend erachten könnte, wenn auf den Willen des Wählers ein Einfluss geübt ist. Denn wenn der Wahlvorsteher nur dazu beigetragen haben sollte, den Wähler zu einer klaren Erklärung zu veranlassen, dann werden Sie das doch nicht als eine Wahlbeeinflussung bezeichnen wollen. Es würde also der Standpunkt, dass eine Wahlbeeinflussung vorliegt, nur dann korrekt sein, wenn Sie sich auf den Standpunkt stellen würden, dass ein Wähler durch die Frage: Sie meinen doch Kerfin! umgestimmt sein könnte und dass er daraufhin an Stelle des berühmten Passin, Korfin und wie die Herren alle heißen sollen, den minder berühmten Kerfin gewählt hat. Ich glaube doch, dass daran ernsthafterweise nicht gedacht werden kann. Es ist doch offenbar, dass ein Wähler, der schon von vornherein eine Namensform gebraucht hat, die mindestens dem Kerfin sehr ähnlich ist, nicht durch die einfache Frage: Sie meinen doch Kerfin! nun plötzlich umgestimmt worden sein kann. Der Wähler hat ja schon dadurch, dass er nicht den – ich weiß nicht, Scham oder Schom oder Schem hat er wohl geheißen – (Heiterkeit), dass er nicht diesen alleinseligmachenden freisinnigen Namen ausgesprochen hat, deutlich genug zu erkennen gegeben, dass er keine Angst hat, einen Sozialdemokraten zu nennen. Wie kann man verständigerweise daran denken, dass unter solchen Umständen der Wähler umgeworfen sein soll durch die einfache Frage: Sie meinen doch Kerfin! und dass er nun einen anderen gewählt habe, als er zunächst gewollt hat. Kein einziger glaubt das. Es ist eine psychologische Unmöglichkeit und praktisch geradezu unsinnig.

Und nun kommt der andere Fall, in dem der Wahlvorsteher die Stimmen ohne Weiteres korrekt protokolliert hat, trotz möglicherweise inkorrekter Aussprache. Auch in diesen Fällen steht es außer jedem Zweifel, dass von einer Wahlbeeinflussung keine Rede sein kann. Es kann sich ja nur um eine Protokollfälschung handeln: Das würde für uns ja vollständig gleichgültig sein. Stellen Sie sich, meine Herren, ruhig auf den Standpunkt, es liegt eine Protokollfälschung vor, so können Sie darum doch längst nicht die Wahl für ungültig erklären; denn eine Fälschung kann unerheblich sein für die Wahl. Sie haben zu prüfen: Würden wir unter der Voraussetzung, dass die Namen – von Ihrem verkehrten Standpunkt aus genommen natürlich – korrekt eingetragen worden wären, die in dieser fehlerhaften Weise eingetragenen Namen nicht trotzdem als für Kerfin abgegeben anzusehen haben? Dann würden Sie zu der Frage überzugehen haben, ob diese Namensformen wesentlich verschieden gewesen sind von dem Namen Kerfin oder aber nicht.

So liegen diese beiden Fälle, und ich stehe auf dem Standpunkt, dass deshalb die Frage, ob der Wahlvorsteher inkorrekt protokolliert hat, ob er Kerfin gefragt hat oder nicht, an und für sich grundsätzlich absolut unerheblich ist.

Aber, meine Herren, jetzt will ich weitergehen; ich will mich Ihrem Standpunkt anpassen; ich will mich durchaus auf den Standpunkt stellen, dass geprüft werden müsste, ob nicht vielleicht trotz alledem in irgendeiner Weise ein Resultat herbeigeführt worden ist, das dem wahren Willen der Wähler nicht entsprochen hat. Da würden wir zunächst zu prüfen haben: In wie vielen der Fälle ist denn überhaupt festgestellt, dass andere Namensformen als der Name Kerfin gebraucht worden sind? Da haben wir schon von dem Herrn Referenten gehört, wie außerordentlich verschieden die Zahl ist, die von den einzelnen Zeugen angegeben worden ist. Es ist ein Zeuge, der von 8 bis 10 spricht und ein anderer, nach seiner Auffassung ja besonders tüchtiger Zeuge, es ist, glaube ich, ein Herr Friedländer, der von 60 Fällen spricht. Ja, meine Herren, der Widerspruch ist gar nicht zu beseitigen! Da sagt der Herr Referent – und es findet sich sonderbarerweise ohne die Anführung der Widerlegung in dem Protokoll der Wahlprüfungskommission auch diese Bemerkung –: Ja, das erklärt sich einfach daraus, dass die Zeugen zu verschiedenen Zeiten anwesend gewesen sind. („Sehr richtig!") Das ist einfach unwahr; das ist protokollarisch festgelegt unrichtig. Meine Herren, ich will es Ihnen gleich zeigen, und ich habe darauf auch hingewiesen in der Wahlprüfungskommission. Ich will mich auf die ersten beiden vernommenen Zeugen beschränken. Beide Herren – der Herr Marx war der Wahlvorsteher, und der Herr Klose war gleichfalls bei der Wahl beteiligt als stellvertretender Vorsitzender –, beide Herren haben eine klare Erklärung abgegeben. Der Herr Marx sagt: Er ist als Vorsteher dauernd beschäftigt gewesen, und zwar während der ganzen Zeit der Wahl, abgesehen von den zwei Stunden von ½2 bis ½4 Uhr nachmittags. Dass er in dieser Zeit im Wahllokal nicht anwesend gewesen ist, dafür ist gar nichts aus seiner Aussage zu entnehmen; es ist sogar damit zu rechnen, dass der Herr Marx dauernd anwesend gewesen ist. Er spricht von etwa 20 bis 30 Fällen, so dass man ebenso gut sagen kann: 15. Meine Herren, nun kommt aber der zweite, Herr Klose, und der erklärt: Ich bin während der ganzen Zeit von Beginn der Wahl bis nachmittags um 4 Uhr ununterbrochen anwesend gewesen, und während dieser ganzen Zeit sind 8 oder 10 Fälle derart vorgekommen. (Zuruf: „Fehlen noch vier Stunden!") Gewiss fehlt noch einige Zeit. Daraus ergibt sich doch mit aller Deutlichkeit, dass Sie nicht davon reden können, dass – (Widerspruch) ich habe ja schon in der Wahlprüfungskommission gesagt: Kombinieren Sie doch die beiden ersten Zeugen, dann kommen Sie doch zu einem ganz lückenlosen Ergebnis! Herr Marx ist jedenfalls während der ganzen Zeit anwesend gewesen, abgesehen von äußerstenfalls zwei Stunden, und das ist nicht belegt, und der spricht von 20 bis 30 Fällen, und Herr Klose ist die übrige Zeit dagewesen, auch als Herr Marx nicht da war, und er spricht von 8 bis 10 Fällen Das ist eine ganz lückenlose Bekundung, und daraus ergeben sich, wenn ich das Maximum nehme und von der Unwahrscheinlichkeit ausgehe, dass sich die Fälle des Herrn Klose mit denen des Herrn Marx nicht decken, äußerstenfalls 30 bis 40 Fälle. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass die Differenzen sich daraus erklären, dass die betreffenden Zeugen zu verschiedenen Zeiten anwesend gewesen sind.

Ich frage doch: Welchen Standpunkt nehmen wir grundsätzlich ein, was verlangen wir denn, wenn wir in Protestangelegenheiten Beweise erheben lassen, von den Beweisen? Der Protest ist dasjenige, was zu beweisen ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass im Sinne der Jurisprudenz die Beweislast für seine Behauptungen der Protesterheber trägt. Das Protokoll ist zunächst einmal richtig, und der Protesterheber hat zu beweisen die Unrichtigkeit des Protokolls; er hat den Gegenbeweis zu führen. Und nun frage ich: Welcher verständige Mensch, welcher Jurist, welcher Richter kann in solchem Falle etwas anderes sagen als: Es kann nur dasjenige als bewiesen angesehen werden, was als Mindestes festgestellt ist. Wenn der Zeuge sagt: 20 bis 30, so werden nur 20 Fälle als bewiesen erachtet werden können. In diesem Sinne haben Sie die Sache zu beurteilen. Sie könnten also, von dieser juristischen Auffassung ausgehend, äußerstenfalls – selbst wenn Sie annehmen, dass keiner von den Fällen, die Marx beobachtet hat, sich deckt mit denen, die Klose beobachtet hat – dazu kommen, dass 28 Fälle der inkorrekten Namensnennung festgestellt sind, nicht ein einziger mehr. Alle die anderen Zeugen machen Redensarten, machen Brimborium.

Nun, meine Herren, damit können wir aber noch nicht auskommen! 28 andere Namensformen genügen noch nicht, um die Wahl für ungültig zu erklären. Allerdings ist die Majorität nur 21 gewesen; aber es fragt sich doch, ob diese 28 anderen Namensformen wesentlich verschiedene Namensformen waren, ob es Namensformen waren, die so verschieden sind, dass, wenn sie in das Protokoll korrekt eingetragen gewesen wären, sie nicht dem Kerfin hätten zugerechnet werden müssen.

Und nun möchte ich wiederum appellieren an das Gedächtnis des Herrn Kollegen Cassel. Der Herr Kollege Cassel hat in der ersten Sitzung der Wahlprüfungskommission ausdrücklich erklärt: Wenn Namensformen gebraucht worden sind wie Kersin, Karsin, Kerwin oder Karfin – (Stadtverordneter Cassel: „Nein, habe ich nicht erklärt!") das haben Sie erklärt, Herr Kollege Cassel. Wenn derartige ähnliche Namensformen gebraucht worden sind, hat Herr Kollege Cassel gesagt, kann ja natürlich der Protest unmöglich erheblich sein; aber – ich glaube, so etwa war die Satzbildung des Herrn Kollegen Cassel – aber hier sind ja in dem Protest auch ganz und gar verschiedene Namen genannt worden, Passin usw. (Widerspruch des Stadtverordneten Cassel.)

Ich weiß es ganz genau; ich habe in dieser Beziehung ein ganz genaues Gedächtnis. Ich möchte das hiermit festnageln. Meine Herren, der Herr Kollege Cassel hat als Beispiel hervorgeholt den Fall Passin und Parsin. Das waren die Fälle, auf denen er fußte, und dann erklärte er mit Enthusiasmus: Das sind ja ganz andere Namen (Stadtverordneter Cassel: „Sehr richtig!"), und infolgedessen ist keine Rede mehr davon, dass wir über diesen Protest ohne Weiteres hinweggehen können.

Und nun frage ich: Für wie viele Fälle ist festgestellt, dass diese Namensformen gebraucht worden sind? Darüber ergeben die Zeugenaussagen ganz und gar nichts; sie sind absolut unklar und verschwommen. Kein einziger Richter, der auf Akribie hält, würde auf diese Zeugen hin für festgestellt erachten, dass auch nur in 10 Fällen diese von Ihnen als wesentlich verschieden bezeichneten Namen tatsächlich gebraucht worden sind, und darauf kommt es ja an.

Meine Herren, wenn Sie konsequent bleiben wollen und wenn Sie nicht aus irgendwelchen anderen Gründen die frühere Ansicht umwerfen wollen, müssen Sie darauf dringen, dass die Zeugenvernehmungen ergänzt werden, dass sie dahin ergänzt werden, in wie vielen Einzelfällen tatsächlich diese von dem Namen Kerfin nach Ihrer Auffassung, die ich in dieser Beziehung nun einmal akzeptieren will, wesentlich verschiedenen Namensformen gebraucht worden sind, und Sie werden weiter festzustellen haben, in wie vielen von diesen Fällen der Betreffende, der den Namen Passin meinethalben gelesen hat, denn nun von dem Wahlvorsteher gefragt worden ist und dann erklärt hat: Ich meine Kerfin – oder auf die Frage: Sie meinen Kerfin! gesagt hat: Ja. Dann würden diese Fälle auch ausscheiden; das ergibt sich ohne Weiteres aus den Ausführungen, die ich vorhin gemacht habe. Es würden nur die Fälle übrigbleiben, wo Namen wie Passin, Parsin als Kerfin eingetragen worden sind, ohne dass der Wahlvorsteher noch einmal gefragt hat, und dann würden Sie weiter zu fragen haben: In wie vielen von diesen übrigbleibenden Fällen haben die Wähler die Zettel in der Hand gehabt und haben sie sich bemüht, abzulesen und vielleicht statt des schwierigen Wortes Kerfin sich versprechend oder verlesend ein anderes Wort gebraucht? Diese Fälle würden auch auszuscheiden sein; denn es ist ohne Weiteres Idar, dass bei ihnen eine ausdrückliche Willenserklärung im Sinne des Namens Kerfin vorliegt – die Manipulationen mit dem Zettel sind ja zur Interpretation heranzuziehen –, und dann würden Sie zu prüfen haben: Liegen denn nun genügend zweifelsfrei festgestellte Fälle vor, in denen wesentlich verschiedene Namensformen gebraucht sind? Dann erst, meine Herren, könnten Sie mit einiger Konsequenz zu dem Ergebnis kommen, dass Sie von Ihrem verkehrten rechtlichen Standpunkt sagen könnten: Es ist die Beweisaufnahme doch wenigstens in unserem Sinne klar ausgefallen. Vorläufig muss ich Ihnen den Vorwurf machen, dass Sie in einer absolut kritiklosen Weise eine Beweisaufnahme zu würdigen versucht haben.

Es ist uns ja in der Wahlprüfungskommission die Auffassung entgegengetreten: Ja, die Ungehörigkeiten des Wahlvorstehers – es war, glaube ich, der Kollege Hermes gewesen – veranlassen mich schon, für eine Ungültigkeit der Wahl zu sein. Das ist kein Grund; der Wahlvorsteher kann noch so ungehörig verfahren, und doch kann die Wahl unanfechtbar sein. Es ist zu prüfen, ob Gründe vorliegen, die auf das Wahlergebnis einen Einfluss gehabt haben.

Und dann möchte ich Sie auch dringend darum bitten, nicht alles mögliche zusammenzuwerfen und zu sagen: Gott, der Protest ist ja so lang, in dem steht ja so viel drin, da muss doch etwas daran sein, und wenn von allem nur ein klein bisschen hängen bleibt, so macht die Summe doch etwas aus. Davon kann keine Rede sein, dass Sie sich auf den Standpunkt stellen, auf den sich sehr schlechte Richter manchmal stellen, wenn sie viele unerhebliche und in sich zusammenhanglose Indizien zusammengetragen haben und nun sagen: Wir haben doch den Eindruck: Er wird's wohl gewesen sein, er wird wohl schuldig sein. Eine solche Beweiswürdigung sollten Sie nicht für korrekt halten. Sie sollten sich nicht auf den Standpunkt stellen: multa, non multum. Hier heißt es: multum, non multa. Es genügt nicht, dass 20 Zeugen vernommen sind, die sämtlich konfus und unklar gewesen sind, und dass Sie dann staunen über das große Protokoll und sagen: Wenn so große Protokolle von dem Magistrat aufgenommen worden sind, dann muss doch etwas darin stehen. Das ist kein Argument. Wenn Sie mit einiger Akribie und mit etwas Arithmetik an die Zeugenaussagen herangehen, dann werden Sie sofort sehen, dass sich alles, was die Zeugen sagen, in nichts verflüchtigt.

Von diesem Standpunkte komme ich zu dem Ergebnis, dass sich die rechtliche Auffassung, wie sie Von dem Herrn Referenten zu erkennen gegeben worden ist, in keiner Weise halten lässt.

Es ist des Weiteren meine Auffassung, dass selbst, wenn Sie sich auf den Standpunkt stellen sollten, dass jene rechtliche Auffassung korrekt sei, selbst wenn Sie die Oberverwaltungsgerichtserkenntnis verkehrt auffassen wollen, Sie dann konsequent sein und einen klaren Nachweis fordern müssen, und meine Überzeugung ist klipp und klar, dass dieser Beweis nicht geführt worden ist. Wir brauchen uns doch in der Tat darüber gar nichts vormachen zu lassen, wir wissen doch ganz genau, wie es gerade bei diesen Wahlprotesten liegt.

Weshalb wird es uns denn unmöglich gemacht, hier auf die Ausführungen unserer Gegner zu erwidern? Dasjenige, was hier von dem Herrn Referenten vorgetragen worden ist, war uns und Ihnen allen bereits aus den Protokollen, die ja gedruckt sind, bekannt. Es ist ganz und gar nicht in Ordnung, dass Sie sich nun die außerordentlichste Mühe geben, uns zu hindern, die gegnerischen Redner zu widerlegen. Weshalb gibt man sich denn die größte Mühe zu verhindern, dass einer von uns in die Lage kommt, dem Herrn Kollegen Cassel noch einmal zu erwidern? Weshalb hat sich denn Herr Kollege Cassel immer wieder vor uns streichen lassen? („Sehr richtig!") Warum muss denn der Herr Kollege Cassel immer das letzte Wort haben, so dass man ihm nicht mehr antworten kann? (Stürmische Zurufe: „Sehr richtig!" – Unruhe.) Er war in der zweiten Verhandlung in der Wahlprüfungskommission nicht anwesend, und er war doch der, der hinter denjenigen stand, die die uns entgegengesetzte Auffassung vertraten. Wir kämpften mit einem nicht anwesenden Gegner, denn die Anwesenden waren überzeugt von dem, was sie früher von Herrn Cassel gehört hatten. Eine Diskussion wäre nur möglich gewesen, wenn Herr Cassel anwesend gewesen wäre. Er war aber nicht da. Er erschien nur, um seine Abstimmung zu motivieren, kam dann nicht wieder und wird dann heute sprechen, nachdem wir gesprochen haben, so dass wir ihn nicht mehr festnageln können. Ich muss bedauern, dass man nicht in die Lage versetzt wird, eine nach den Regeln der Diskussion zu führende Erörterung vorzunehmen.

Aber Sie mögen beschließen, wie Sie wollen – in Ihren Fraktionen haben Sie ja bereits entschieden, und es sind ja diese Reden doch nur Reden zum Fenster hinaus. („Sehr richtig!" – Heiterkeit.) Jawohl: Sehr richtig! Nur dass die Reden zum Fenster hinaus bei uns immer wirken, das ist das Gute. Halten Sie doch auch mal Reden zum Fenster hinaus! Das wäre sehr schön; aber viel Glück würden Sie damit nicht machen.

Beschließen Sie, wie Sie wollen! Nach Ihnen hat zum Glück eine andere Instanz das Wort: das Oberverwaltungsgericht, das das letzte Wort spricht.

Kommentare