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Karl Liebknecht 19031029 Zum Kaiserinselprozess

Karl Liebknecht: Zum Kaiserinselprozess1

Eine neue Ära Tessendorff2

[Die Neue Zeit, 22. Jahrgang (1903/04), 1. Bd., S. 129-134. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 37-45]

Jede Flutwelle politischer Erregung trägt die Miasmen politischer Prozesse über das Land. Im neuen Deutschen Reiche wie in allen absolutistischen oder halb absolutistischen Staaten pflegt die Staatsgewalt, wo immer sie anfängt, sich unsicher zu fühlen, mit besonders krankhafter Empfindlichkeit auf alle wirklichen und vermeintlichen Angriffe gegen den Monarchen zu reagieren. Man beginnt im Delirium staatsretterischer Sorge „rot zu sehen". Majestätsbeleidigungsprozesse und kein Ende! – hieß es vor fünfundzwanzig Jahren; Majestätsbeleidigungsprozesse und kein Ende! – hieß es um die Zeit der Faschingswahlen3 und heißt es seit Mitte der neunziger Jahre. Die heurige siegreiche Junischlacht4 aber hat die „besten" Traditionen von 1878 wieder zum Leben erweckt: „Tessendorff redivivus" klingt es in aller Ohren. Auch ein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum!

Als vor wenigen Wochen in der Presse ein angeblich ministerieller Ukas vermeldet wurde, der rücksichtsloseste Verfolgung und Inhaftierung aller Majestätsbeleidiger anbefahl, erschien zwar alsbald das übliche Dementi. Aber was verschlägt es, ob jener Ukas besteht? Verfahren wird nach ihm! Beweis: Rostock, Dresden, Berlin, Leipzig usw. Und die Tragikomik der Geschichte will, dass auch unsere bravsten Patrioten von dem Henkerbeil, das sie allesamt mit für die Sozialdemokratie geschliffen haben, nicht verschont bleiben: Vergleiche den beweglichen Jammer der Magdeburgischen „Sachsenschau".

Dass gerade der Paragraph 95 unseres Strafgesetzbuchs5 – man darf wohl sagen: der verzogene – Liebling unserer politischen Justiz ist, hat mancherlei Gründe. Viel spricht mit die bequeme Anwendbarkeit. Nichts leichter als eine Majestätsbeleidigung „konstruieren"! Gib mir die „Tendenz" einer Zeitung, und ich will dir aus jeder Zeile eine Majestätsbeleidigung „konstruieren". Ein bisschen antimonarchische „Gesinnung" des Delinquenten, ein wenig staatsanwaltliche Normallogik und – der Paragraph 95 ist auf dem besten Wege, ein anderer „grober Unfugsparagraph" zu werden. Galt doch auch in den Zeiten tiefsten römischen Verfalls das Majestätsverbrechen als omnium accusationum complementum (aller Anklagen Ergänzung).

Der Kaiserinselprozess des „Vorwärts" ist die sublimste Blüte der neuen Tessendorff-Ära. Einige Einzelheiten über seinen Verlauf beanspruchen allgemeines Interesse.

Zunächst die rein märchenhafte Fixigkeit, mit der die Angeklagten zur Strecke gebracht werden sollten. Die Akten fliegen per Expressboten hin und her. Genosse Kaliski, der den einen der beanstandeten Artikel verantwortlich gezeichnet hatte, wird am 27. August zuerst vernommen. Am 31. August, nachmittags 4½ Uhr, trifft die von fünf Kanzlisten gleichzeitig mundierte 57 Seiten lange Anklageschrift bereits von der Staatsanwaltschaft auf der Gerichtsschreiberei ein! Am 23. September erheben die Angeklagten eine Beschwerde bei der Strafkammer; 24 Stunden später ist der Beschluss des Kammergerichts gefasst, kanzliert und zugestellt.

Und woher dieses Prestissimo inmitten des sonstigen beschaulichen Lento unserer Strafjustiz? Herr Isenbiel versicherte in der Verhandlung mit jovialem Pathos: im Interesse der Angeklagten, denen er die Schreckenszeit des Verfahrens habe abkürzen wollen. In den Akten aber wurde er nicht müde, zu betonen: „Der Staat, das heißt die staatliche Rechtspflege, hat das dringendste Interesse, so rasch als möglich einen Richterspruch zu erlangen, damit die Beunruhigung, die Aufregung und das Ärgernis, welches die Artikel in weiten Kreisen des Volkes erregt haben (!!), möglichst bald beseitigt werden." Nicht ein Sterbenswörtchen von dem Interesse der Angeklagten!

Im Gegenteil: Als nun die Angeklagten sich zum Wahrheitsbeweis auf das Zeugnis des Hofmarschalls von Trotha beziehen, unterbleibt die Vernehmung, weil Herr von Trotha gelegentlich einer Besprechung bereits erklärt hat, dass er „von dem Kaiserinselplan nichts wisse".

Unter Einsetzung seiner ganzen staatsanwaltlichen Autorität glückt es Herrn Isenbiel, ausnahmslos während des ganzen Verfahrens allen seinen Anträgen und Wünschen bei den Gerichten bis ins Kleinste hinein, trotz heftiger Proteste der Angeklagten, Geltung zu verschaffen. Unter Aufwendung derjenigen Bestimmtheit, die in seiner Zuständigkeit liegt, provoziert er einen Gerichtsbeschluss, der zur Folge hatte, dass den Verteidigern das gesetzliche Recht auf Akteneinsicht vor Eröffnung des Hauptverfahrens entzogen war. Dabei nutzt er die Möglichkeit aus, ausführliche Deklarationen der Anklageschrift in die den Angeklagten noch unzugänglichen Gerichtsakten gelangen zu lassen. So wie er in der Verhandlung den Genossen Leid einfach aus blauer Luft heraus als einen jämmerlichen Tintenkuli zu bezeichnen beliebte, verspottete er eine aus Schriftstellerkreisen einberufene Protestversammlung einfach als Mache des „Vorwärts", obwohl dieser mit der Versammlung nicht das geringste zu tun hatte. Und was das Schönste ist: Der zur Aufrechterhaltung der Inhaftierung Leids erforderliche Fluchtverdacht wird unter anderem wie folgt begründet: „Für den Beschuldigten, der im Interesse der Partei die formelle Verantwortlichkeit für die Artikel übernommen hat, wird auch im Ausland überall von den Parteigenossen gesorgt werden." Damit wird der Sozialdemokrat vermöge der Internationalität der Sozialdemokratie in Bezug auf den Fluchtverdacht dem Ausländer gleichgestellt! Nette Aussichten, wenn das Schule macht!

Dass hinter Majestätsbeleidigungsprozessen regelmäßig die Autorität des Justizministers steht, unter dessen Augen sich gewissermaßen die Verhandlung abspielt, ist ebenso bekannt wie bedenklich. Noch gefährlicher aber ist die aktenmäßige Bemerkung Isenbiels, „dass der Kaiser vorliegendenfalls besonderen Anlass hatte, die Erteilung einer maßgebenden Auskunft allerhöchst selbst zu befehlen": Damit ist, wenn der Oberstaatsanwalt später auch nichts gesagt haben wollte, geradezu der Monarch selbst gegen die Angeklagten ausgespielt!

Wie konnten vier, vielleicht sogar fünf preußische Richter Leid wegen Majestätsbeleidigung verurteilen? Wie konnte auch nur die Anklage gegen ihn erhoben werden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns in der camera obscura deutscher Justiz genauer umsehen. Der objektive Tatbestand der Majestätsbeleidigung setzt sich aus vier Dingen zusammen: 1. einer herabwürdigenden Behauptung oder Verleumdung; 2. Beziehung dieser Behauptung oder Verleumdung auf den Monarchen; 3. Kenntnisnahme von der Behauptung oder Verleumdung durch wenigstens eine andere Person (der Erfolg); 4. dass diese Kenntnisnahme sich auch auf den herabwürdigenden Charakter und die Beziehung der Behauptung usw. erstreckt.

Zum subjektiven Tatbestand gehört, dass der Angeklagte den herabwürdigenden Charakter, die Beziehung auf den Monarchen und die Kenntnisnahme durch wenigstens einen Dritten in dem oben zu 4 qualifizierten Sinne gewollt hat.

Bei dem subjektiven Tatbestand taucht die Frage des eventuellen oder indirekten Dolus auf.6 Nicht mit Unrecht konnte der Justizminister Schönstedt in jener denkwürdigen Reichstagssitzung vom 12. Dezember 1895 sagen: Der dolus eventualis gehört „zu dem alten Inventar der Strafrechtswissenschaft". Und ebenso wenig kann der Ansicht Isenbiels, dolus eventualis sei im Grunde nichts Besonderes neben dem gewöhnlichen Dolus, sondern nur eine Unterart des gewöhnlichen Dolus, entgegengetreten werden. Die Jurisprudenz unterscheidet zwischen Absicht – die dann vorliegt, wenn ein strafbarer Erfolg bezweckt wird – und Vorsatz (dolus), der dann vorliegt, wenn der strafbare Erfolg mit in Kauf genommen wird, während ein durchaus anderer Zweck verfolgt werden kann. Im letzteren Falle kann der – nicht bezweckte – strafbare Erfolg mit Sicherheit vorausgesehen oder nur für möglich gehalten werden. Wird der strafbare Erfolg nicht bezweckt, vielleicht sogar verabscheut, aber doch für möglich gehalten und für den Fall, dass er eintreten sollte, gebilligt, in Kauf genommen, so liegt dolus eventualis vor, das heißt nicht ein in seiner Existenz nur eventueller Dolus: Das wäre Nonsens, sondern ein Dolus, der unter anderen Möglichkeiten auch mit der Eventualität eines strafbaren Erfolges rechnet und sich damit abfindet.

Gegen diesen Eventualdolus ist an sich nichts einzuwenden, gefährlich wird er nur durch seine gummiartige Schmiegsamkeit: Für so ein wenig Eventualdolus reicht die richterliche Überzeugung gemeinhin noch aus; die Grenze zur bloßen Fahrlässigkeit wird verschoben; der dolus eventualis wird in der Tat „mit den Jahren immer größer" (vergleiche Bebel in der Reichstagssitzung vom 12. Dezember 1895).

Wenigstens vom dolus eventualis muss nun aber der gesamte objektive Tatbestand umfasst sein: Der Angeklagte muss auch rechnen mit der Möglichkeit eines – objektiv –herabwürdigenden Charakters der Äußerung und mit der Möglichkeit einer Beziehung auf den Kaiser. Und hier schießt das berühmte Reichsgerichtsurteil vom 12. Oktober 1897 in der Strafsache gegen Wilhelm Liebknecht weit übers Ziel hinaus.7 Ihm genügt an subjektivem Tatbestand der dolus eventualis in Bezug auf die oben zu 3 und 4 aufgeführten objektiven Tatbestandsmerkmale; das heißt, ihm genügt, wenn der Angeklagte mit der Möglichkeit rechnete, dass seine Worte in majestätsbeleidigendem Sinne verstanden werden könnten. Dabei ist übersehen, dass die Beleidigung kein bloßes Erfolgsdelikt ist und in allererster Linie der Angeklagte selbst mit der Sicherheit der Möglichkeit eines tatsächlich herabwürdigenden und auf den Monarchen bezüglichen Sinnes seiner Worte gerechnet haben muss. Und die Moral von der Geschichte: Der dolus eventualis ist ein Glatteis besonders für solche Juristen, die nicht ganz fest auf den Beinen politischer Objektivität stehen, er bietet der Tendenz in der Rechtspflege einen breiten, bequemen und meist auch sicheren Unterschlupf.

Worte sind, wo es sich um die Beurteilung sprachlicher Äußerungen handelt, harte Tatsachen. Ganze Kolonnen solcher harten Tatsachen standen Herrn Isenbiel im Wege bei seinem Bemühen, einen herabwürdigenden Sinn und eine Beziehung auf den Kaiser aus den Kaiserinselnotizen heraus zu graben. Aber was verschlägt's! Was ist leichter als behaupten: Der „Vorwärts" verfolgt die Tendenz, den Kaiser in verhüllter Weise anzugreifen! Das kann kein Herrgott im Himmel widerlegen, folglich muss es wahr sein. Alle die Herren, die da über die Tendenz des „Vorwärts" mit der Unfehlbarkeit preußischer Bürokratie aburteilen, haben den „Vorwärts" ihr Lebtag kaum anders als im verzerrenden Hohlspiegel der gegnerischen Presse und staatsanwaltlicher Akten gesehen. Graf Hülsen-Haeseler, der mit demonstrativem Nachdruck betonte, den „Vorwärts", so ein Blatt, lese er überhaupt nicht, würde gewiss auch mit Entrüstung jeden Zweifel daran zurückweisen, dass er die Tendenz des „Vorwärts" nicht sattsam kenne.

Auf die Worte kommt's mir nicht an, nur auf den Sinn!" Mit diesem Grundsatz wandelt der Staatsanwalt alle Form, alle Worte in einen Urweltnebel, aus dem er dann seine Anklage nach Belieben formt. Die Interpretation ist zur Phantasterei geworden, in der alle möglichen „notorischen" Tendenzen der Angeklagten spuken und der schrankenloseste Subjektivismus sein Wesen treibt. „Wenn zwei dasselbe tun, ist's nicht mehr dasselbe!"

So gelingt es, den wörtlichen objektiven Tatbestand erst zu verflüchtigen und sodann einen neuen aus dem Nichts zu „konstruieren".

Was nützt es, wenn dem Richterkollegium mit allem Nachdruck dargelegt wird: Wie kann Fürsorge um die eigene und der Familie Sicherheit gegenüber einem Ansturm von drei Millionen Männern als Feigheit geziehen werden, wenn diese drei Millionen von böswilligen Ohrenbläsern als blutrünstige Rotte frecher, unbotmäßiger Plebejer geschildert werden? An die Möglichkeit falscher Informationen für den Kaiser zu denken gilt als Aberwitz. Die Beleidigung ist „fertig": Die verständliche Besorgnis ist zu einer „wahrhaften Furcht" geworden!*

Wem wird das Projekt vom „Vorwärts" zugeschrieben? Dass die Bekämpfung der Kamarilla, der wüstesten Sozialistenhetzer, der Sozialdemokratie wichtiger sein muss als die Bekämpfung der Person des Kaisers, kann ein deutscher Staatsanwalt nicht einsehen. Aktionen der Scharfmacher als „unpolitischen Hofklatsch" zu betrachten, geht freilich über den Horizont der Sozialdemokratie. Da die Worte (Hofkreise usw.), die das Gegenteil von einer Beziehung auf den Kaiser dartun, bereits geschickt eskamotiert sind, da ferner die sogenannte Tendenz des „Vorwärts" jede Niederträchtigkeit gegen den Kaiser in verschleierter Form erwarten lässt, so ist auch die Beziehung zum Kaiser „fertig". Kleine Bedenken spielen hierbei keine Rolle: zum Beispiel, dass nach der Entstehungsgeschichte der „Vorwärts"-Notizen eine Bezugnahme auf den Kaiser geradezu hätte erfunden werden müssen, da das geheimnisvolle „Dokument" offensichtlich nach einer ganz anderen Richtung deutete. „Es rast der See und will sein Opfer haben!"

Die Gefahr unserer politischen Justiz liegt, wie Figura zeigt, noch weniger in der einseitig zugespitzten Gesetzesinterpretation als in der einseitig zugespitzten Beweiswürdigung und Tatsachen-Interpretation, die gar oft aus einem Auslegen ein Unterlegen wird.

Gewiss ist Herr Isenbiel ein gebildeter Mann, gewiss hat er in der Verhandlung fast auffällig auf Noblesse und Liebenswürdigkeit im äußeren Auftreten gehalten, gewiss hat er harte Worte gegen die Angeklagten vermieden, dem „Vorwärts" sogar Komplimente gemacht und selbst mit einer „kühnen Offenherzigkeit" gedient: dem Bekenntnis seiner angeblichen Abneigung gegen Majestätsbeleidigungsprozesse. Alles dies aber nur um der rhetorischen Kontrastwirkung willen! Herr Isenbiel ist der Mann der Paradoxe, die er selbst belächelt. Er hat im Sternberg-Prozess8 zum Staunen der Mitwelt entdeckt, dass die Staatsanwaltschaft die „objektivste Behörde" sei, und im Kaiserinselprozess diente er mit der nicht minder köstlichen Enthüllung, dass die Staatsanwaltschaft auch die mildeste und weichherzigste Behörde sei, milder und weichherziger als die Gerichte (was freilich besonders in politicis nicht eben viel besagen würde!). Und seine angebliche Gegnerschaft gegen Majestätsbeleidigungsprozesse ist nichts als eine Reminiszenz an die Reichstagsrede seines obersten Vorgesetzten Schönstedt vom 12. Dezember 1895, in der es heißt: „Die bedauerliche Tatsache der Zunahme dieser Prozesse kann von niemand lebhafter empfunden werden als von den Staatsanwälten und Gerichten … Aber … woher kommen denn die Majestätsbeleidigungsprozesse? Sie kommen doch nur von der so bedauerlich großen Zahl der Majestätsbeleidigungen." Mit anderen Worten: Die Herren Schönstedt und Isenbiel sind genau insoweit und genau aus dem Grunde Gegner der Majestätsbeleidigungsprozesse, wie sie Gegner der Majestätsbeleidigungen sind. Und das preist Herr Maximilian Harden als „eine tapfere Tat, die den Kühnen das Tressenbarett kosten konnte und die sicherlich weder den Justizminister Schönstedt noch den Oberstaatsanwalt Wachler zu entzücktem Beifall hingerissen hat"! Heilige Einfalt!

Es hat einmal mutige und umsichtige Männer gegeben, die wirkliche Gegner der Majestätsbeleidigungsprozesse waren. Der alte brave Landrechtskommentator Koch fand, dass der Majestätsparagraph „der erhabenen würdigen Auffassung der Königlichen Majestät wenig zuträglich sei". Und wie lautet doch die Constitutio si quis maledixerit von Theodosius I. aus dem Jahre 393? Sie erklärt alle wörtlichen Majestätsbeleidigungen für straffrei: „Wenn sie aus Leichtfertigkeit begangen sind, muss man sie verachten, wenn aus Aberwitz, muss man sie bemitleiden, wenn in kränkender Absicht, muss man sie verzeihen." Die Saat unserer heutigen Majestätsbeleidigungsära reift unter dem Zeichen jener berüchtigten Lex Quisquis9 des Arcadius und Honorius und ihrer Gedankenverfolgungen.

Und fast fürchten wir, die Zeit ist nicht mehr fern, wo – nach römischem Muster – mit Isenbielscher Grazie und Liebenswürdigkeit Majestätsbeleidigung gefunden wird in dem Gebrauch derselben Tinte, die der Monarch verwendet, notabene, wenn der Übeltäter ein sozialdemokratischer und nicht etwa ein „Post"-Redakteur ist. Denn: „Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe."

1 Im „Vorwärts" vom 16. August 1903 erschien ein Artikel „Die Kaiserinsel", der wie auch ihm folgende Notizen von einem Plan, auf der Havelinsel Pichelswerder für den persönlichen Schutz des Kaisers ein Schloss zu errichten und die Insel zu einer Festung auszubauen, berichtete. Darauf wurde am 25. September und 16. Oktober 1903 vor der 5, Strafgerichtskammer des Landgerichts I in Berlin der sogenannte Kaiserinselprozess gegen die Redakteure Karl Leid wegen „Majestätsbeleidigung und groben Unfugs" und Julius Kaliski wegen „Beleidigung durch die Presse" geführt. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Isenbiel; Karl Liebknecht war einer der drei Verteidiger. Leid wurde zu neun, Kaliski zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

2 Hermann Tessendorff (1831–1895), seit 1873 Staatsanwalt in Berlin, Organisator der Verfolgung der Sozialdemokratie, berüchtigt durch seine Gerichtsverfahren gegen Sozialdemokraten.

3 Bezeichnung für die Reichstagswahl vom 21. Februar, dem Rosenmontag 1887, die, trotz des Terrors unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, den Sozialdemokraten beträchtlichen Stimmengewinn brachte.

4 Gemeint ist die Reichstagswahl vom 16. Juni 1903. in der die Sozialdemokratische Partei Deutschlands über drei Millionen Stimmen erhielt und 81 Mandate eroberte.

5 „Wer den Kaiser, seinen Landesherrn oder während seines Aufenthaltes in einem Bundesstaate dessen Landesherren beleidigt, wird mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten oder mit Festungshaft von zwei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bekleideten öffentlichen Ämter sowie der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden."

6 Beim dolus eventualis (bedingtem Vorsatz) muss nachgewiesen werden, dass jemand bei der Vornahme einer Handlung trotz Voraussicht eines möglichen strafbaren Erfolges (hier die Beleidigung des Monarchen) nicht von seinem Handeln abgelassen, also die Strafe in Kauf genommen hat.

7 Wilhelm Liebknecht wurde wegen Majestätsbeleidigung, der er sich am 6. Oktober 1895 in seiner Eröffnungsansprache zum Parteitag der SPD in Breslau schuldig gemacht haben sollte, zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte gesagt:

Unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht beleidigt man die Sozialdemokratie, und unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht und mit Hilfe der Staatsmacht ist ihr der Fehdehandschuh hingeworfen worden zum Kampf auf Leben und Tod. Wohlan, was die Beleidigungen unserer Partei betrifft, so stehen wir zu hoch, als dass Kotwürfe an uns heranreichen könnten, kommen sie woher sie wollen."

* Harden, der sich in den letzten Wochen im Sozialistenvertilgen anscheinend übernommen hat, verfällt in der Nr. 4 der „Zukunft" auf die burleske Idee, zur Abwechslung einmal einen Sozialdemokraten zu retten, nämlich den Genossen Leid aus den Klauen „mutloser" und „unmanierlicher" Verteidiger. Er baut mit rührender Naivität auf einem mangelhaften und außerdem noch von ihm missverstandenen Prozessbericht einen zwölf Seiten langen Leitartikel auf. Besonders die Konstatierung der Neuigkeit, dass die Sozialdemokratie die Institution der Monarchie bekämpfe, nicht die Person des Monarchen an sich, hat's ihm angetan. Er fordert den Genossen Leid im Gegensatz dazu zu einem offenen republikanischen Bekenntnis auf! Was sich der Mann dabei wohl gedacht haben mag?

8 Nach einem mehrwöchigen Prozess wurde im Jahre 1900 der mehrfache Millionär Sternberg wegen Sexualverbrechen an unmündigen Kindern zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Prozess wurden skandalöse Zustände in der Berliner Kriminalpolizei sichtbar.

9 Gesetz des oströmischen Kaisers Arcadius und des weströmischen Kaisers Honorius, seines Bruders, aus dem Jahre 397 u. Z. gegen Hochverrat. Charakteristisch ist, dass es bereits den bloßen, nicht nachweisbaren Gedanken mit der Hinrichtung und Einziehung des Vermögens der Verurteilten bestrafte.

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