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Karl Liebknecht 19040920 Für den politischen Massenstreik

Karl Liebknecht: Für den politischen Massenstreik

Diskussionsreden zum Antrag 1101

20. September 1904

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904, Berlin 1904, S. 195/196. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 85-88]

I

Die Spandauer Genossen, von denen der Antrag ausgeht, verstehen unter dem Generalstreik den politischen Streik, nicht den eigentlichen Generalstreik. Beide Begriffe werden ja oft durcheinander geworfen. Die Frage des Generalstreiks ist sehr alt und nicht etwa von Friedeberg2 erfunden. Unsre Bruderparteien im Ausland diskutieren sie seit ihrer Entstehung, und in Deutschland hat sie vor einigen Jahren Bernstein wieder zur Debatte gestellt, auch Kautsky, Parvus und Clara Zetkin verteidigen den Generalstreik. Schon diese Tatsache müsste verhindern, dass unser Antrag einfach als lächerlich abgehalftert wird, wie es in dem Begrüßungsartikel der Chemnitzer „Volksstimme" zum Parteitag geschehen ist.

Von dem Genossen Friedeberg rücke ich auf das allerschärfste ab. Die Spandauer Versammlung, in der der Antrag beschlossen wurde, verschluckte allerdings Friedeberg mit Haut und Haaren. Das lag aber wohl daran, dass die Spandauer Genossen ihn nicht kannten. Die Ausführungen Friedebergs sind in der Tat unerhört, auf den Generalstreik im Sinne Friedebergs passt allerdings das Wort Auers: Generalstreik ist Generalunsinn. Friedeberg propagiert den Generalstreik im anarchistischen Sinne; er ist nichts als ein aufgewärmter Nieuwenhuis3. Das Auftreten Friedebergs widerspricht den primitivsten Interessen der Partei. Es steht im Gegensatz zu allem, was die Partei bisher war und getan hat. („Sehr richtig!") Er stellte den Parlamentarismus in Gegensatz zur Gewerkschaftsbewegung, weil diese von den Gegnern unabhängig sei. Das ist einfach unrichtig. Überall haben unsre Gewerkschaften mit den Tücken der Gegner zu kämpfen. Sobald wir keine politische Bewegung, sondern nur Gewerkschaften hätten, könnten die Gegner jeden Tag die Gewerkschaften einfach von der Bildfläche wegwischen. Formell stände dem nichts entgegen. Tatsächlich allerdings steht jetzt hinter den Gewerkschaften eine so gewaltige Macht, dass die Gegner nicht leicht wagen werden, dies Ventil für die Unzufriedenheit der Arbeiter zu verschließen. Dass es aber ganz ähnlich mit dem Parlamentarismus steht, werde ich noch auszuführen haben.

Friedeberg sagt, unsre Bewegung könne nur durch freie Persönlichkeiten vorwärts kommen; auch das ist unrichtig. Gerade die bedrückten Persönlichkeiten, die gewissermaßen fasziniert sind durch das Gefühl der allgemeinen Unterdrückung, sind es, die unsre Bewegung unwiderstehlich machen. Wir erstreben auch durchaus nicht die absolute Freiheit des einzelnen. Die Pflichten der Solidarität, die allerdings hoffentlich freiwillig übernommen werden, können nie verschwinden.

Die Konsequenz des Friedebergschen Standpunkts ist der Anarchismus. Denn wenn – wie er ausdrücklich hervorhebt – der Anarchismus einen Fortschritt über den Sozialismus bedeutet und diesen in sich schließt, weshalb sollten wir denn Sozialdemokraten bleiben. Haben wir uns denn je gescheut, mit unsren Idealen möglichst weit in die Zukunft hinauszugreifen?

Ich habe mich so scharf gegen Friedeberg gewandt, weil dieser die Idee des Generalstreiks diskreditiert und mir an einer ernsten sachlichen Debatte der Frage, um die ich Sie dringend bitte, sehr viel liegt.

II

Es wird gesagt: Wenn wir den Generalstreik machen können, brauchen wir ihn nicht mehr. Das ist unrichtig. Wir können in den Generalstreik hineingedrängt werden durch aktuelle politische Fragen. Gewiss, der Gedanke, die bürgerliche Gesellschaft durch den Generalstreik auszuhungern, ist lächerlich. Für mich handelt es sich um den politischen Massenstreik, der nur unter Umständen die Form des eigentlichen Generalstreiks annehmen kann. Mit solchen Rechenexempeln aber, dass die Arbeiter ihre kümmerlichen Vorräte schneller aufzehren würden als die Besitzenden ihre reichlichen und dass der Massenstreik deshalb aussichtslos sei, kann man auch die Frage des eigentlichen Generalstreiks nicht lösen. Es gibt zu viel andre Faktoren, die zugunsten der Streikenden sprechen können. Ich weise auf die berühmten Hungerstreiks in Russland hin, die auf dem Gedanken beruhen, durch Gefährdung des eigenen Lebens einen Zwang auf die regierenden Gewalten auszuüben. Diese Streiks sind ein Beispiel dafür, wie durch Imponderabilien, durch Furcht vor Skandalen, durch Erweckung menschlicher Empfindungen doch ein Eindruck erzielt werden kann.

Es heißt, wir dürften den Massenstreik nicht diskutieren, weil wir den Gegnern unsre Pläne nicht enthüllen dürften. Das wollen wir gar nicht. Wann wir den Generalstreik inszenieren wollen und in welcher Form, darüber sprechen wir ja gar nicht. Es ist richtig, wir können nicht für alle Eventualitäten Vorsorge treffen; wir müssen darauf vertrauen, dass die Massen das lebendige Gefühl des Klassenkampfs haben und im gegebenen Fall das Richtige finden werden. Man erinnere sich der interessanten Ausführungen der Genossin Luxemburg über die Entwicklung der Taktik in der russischen Arbeiterbewegung. Aber wir müssen doch die Mittel, die wir schon heute als brauchbar erkennen, diskutieren. Ist nicht Sachsen ein Menetekel für die Partei?4 Man sagt, das Reichstagswahlrecht ist uns geblieben. Aber wenn uns auch das genommen wird?

Dann sollen wir in die Kommunen gehen. Aber wenn uns auch da der Zugang genommen wird? Dann bleiben die Gewerkschaften. Aber wenn uns das Koalitionsrecht genommen wird? Was tun wir dann? Es ist nicht wahr, dass wir unter allen Umständen eine Kraftprobe vermeiden können. Es kann der Fall eintreten, wo wir unsre Macht, von der wir jetzt einen mehr formalen Gebrauch machen, realisieren und manifestieren müssen. Das geschieht in der drastischsten Form durch die Entfaltung eines Massenstreiks. Das ist der Gedanke, den die Partei in sich aufnehmen muss. Es besteht in der Tat eine gewisse Gefahr für die Partei, die Gefahr des Verrostens in Bezug auf die Kampfesmittel. Wir sind verwöhnt in Deutschland, trotz des Sozialistengesetzes, weil uns auch da das Wahlrecht nicht genommen worden ist. Dazu kann es aber kommen, und wir müssen darauf gerüstet sein. Es heißt, denken Sie an Pfannkuchs Bericht, man solle den Teufel nicht an die Wand malen.5 Aber der Teufel ist doch leibhaftig da; es wäre Vogel-Strauß-Politik, wenn wir das leugnen wollten. Und Genossen, wie sollen wir die ganze Welt erobern, wenn wir nicht einmal imstande sind, unsre wenigen Grundrechte, die wir schon haben, zu verteidigen, unsre jetzigen Positionen zu halten?! Dazu ist es notwendig, den Massenstreik zu diskutieren. Wir wollen Ihnen gar nicht empfehlen, ihn ohne weiteres als neues Kampfmittel zu akzeptieren. Wir wünschen vorläufig nur eine Diskussion und damit eine gewisse Sympathiekundgebung für den Grundgedanken. Toujours en vedette – stets auf dem Posten sein, komme was kommen mag, ist erste Pflicht und Lebensinteresse der Partei. Jener ganz gefährlichen Feindseligkeit gegen den Grundgedanken des Massenstreiks gilt es entgegenzutreten. Die Frage des Massenstreiks ist die aktuellste Frage unsrer gegenwärtigen und künftigen Politik. Gehen Sie nicht mit Lächeln darüber hinweg. Erfassen Sie den Wert dieser Frage, und unsre Partei wird gerüstet sein!

1 Antrag 110 – „Parteigenossen von Spandau und Kiestedt-Hannover-Linden nebst 88 Genossen beantragen auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen: ,Der Generalstreik'." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904. Berlin 1904, S. 132.) Der Antrag wurde dem Vorstand zur Erwägung überwiesen.

2 Dr. R. Friedeberg, Arzt und Sozialdemokrat, vertrat anarchosyndikalistische Gedankengänge. Infolge der Unzufriedenheit vieler Arbeiter mit dem sich in der Sozialdemokratischen Partei ausbreitenden Reformismus konnte Friedeberg in Berlin einen gewissen Einfluss gewinnen.

3 Ferdinand Domela Nieuwenhuis, ehemaliger Geistlicher, Begründer der holländischen Sozialdemokratie, seit den neunziger Jahren Anarchist. Er forderte, dass die Sozialisten eine Kriegserklärung mit dem Aufruf zur allgemeinen Arbeitseinstellung und der militärischen Kriegsdienstverweigerung beantworten sollten. Er brachte auf den Internationalen Arbeiterkongressen zu Brüssel 1891 und zu Zürich 1893 entsprechende Resolutionen ein, die beide Male mit großer Mehrheit abgelehnt wurden.

4 In Sachsen hatten die herrschenden Klassen 1896 das Dreiklassenwahlrecht eingeführt und dadurch die Sozialdemokratie aus dem Landtag ausgeschaltet.

5 Karl Liebknecht wendet sich hier gegen den von Pfannkuch dem Bremer Parteitag gegebenen Bericht des Parteivorstandes. Pfannkuch hatte gesagt, dass man dem Vorstand Vorwürfe gemacht habe, weil er gegen den „in der Luft liegenden Wahlrechtsraub, die Beschneidung oder Aufhebung des allgemeinen, gleichen, direkten Stimmrechts für den Deutschen Reichstag", nicht entschieden genug die Initiative ergriffen habe. Von anderer Seite jedoch habe man dem Parteivorstand nahegelegt, nicht so oft mit dem Feuer zu spielen, es könne sich sonst das Sprichwort erfüllen: Wenn man den Teufel an die Wand malt, so kommt er.

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