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Karl Liebknecht 19041229 Gegen Rechtlosigkeit und Ausbeutung der Landarbeiter

Karl Liebknecht: Gegen Rechtlosigkeit und Ausbeutung der Landarbeiter

Diskussionsreden zum Referat über den Kontraktbruch-Gesetzentwurf

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 28. bis 31. Dezember 1904, Berlin 1905, S. 80-82, 87. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 111-115]

I

29. Dezember 1904

Es wird ein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bleiben, dass sie als erste die entsetzlichen barbarischen Zustände in den Rechtsverhältnissen des Gesindes und der landwirtschaftlichen Arbeiter in ausführlicher und sachlicher Weise behandelt hat, und zwar unter der Schwurzeugenschaft der kompetentesten Zeugen, der Landarbeiter, selbst. Auch ich verfüge aus meiner Praxis als Anwalt über ein reichhaltiges Material. Im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Recht zum Prügeln des Gesindes ausdrücklich aufgehoben, aber trotzdem ist nach wie vor das Prügelrecht für Preußen anerkannt. Um das zu verstehen, muss man Jurist, sogar Kammergerichtsrat sein. (Heiterkeit.) Es wird nämlich gesagt, die preußische Gesindeordnung enthalte gar kein Prügelrecht, sondern bloß eine prozessuale Bestimmung, die bei gewissen Misshandlungen und Beleidigungen das Klagerecht der Dienstboten ausschließe, und diese gewissermaßen prozessuale Bestimmung sei aufrechterhalten. Das ist die Auffassung des Kammergerichts und des Reichsgerichts.

In der Provinz Brandenburg bestehen auf einem Gut, das durch eines der schönsten Gedichte von Fontane berühmt geworden ist, Arbeitsverträge, die unter anderem die Bestimmung enthalten, dass die Instleute ihre Kinder nur bis zum 15. oder 16. Lebensjahr bei sich im Hause behalten dürfen. Wenn die Kinder vom 15. Jahre an für den Gutsbesitzer arbeiten wollen, dann dürfen sie noch weiter dableiben, sonst müssen sie aus dem Elternhaus heraus. („Hört! Hört!") Das ist geradezu eine Erpressung. Ich bin jederzeit bereit, auf Grund dieses Tatbestandes eine Anklage wegen Erpressung genauso gut und besser zu begründen wie die zahlreichen Anklagen wegen Erpressung, die tagtäglich gegen Arbeiter wegen Ausübung ihres Koalitionsrechtes erhoben werden. („Sehr gut!")

In einem anderen Falle prügelte der Bauer das Gesinde. In der Knechtstube hatten die Ratten die Dielen angefressen und tanzten des Nachts vergnügt herum. In der Mädchenstube war ein Loch in der Decke, so groß, dass man sich leicht über die Vorgänge im oberen Stock orientieren konnte und umgekehrt, und in ein einziges Bett wurden alle Mädchen gebracht, die auf dem Gute beschäftigt waren. Eines Tages wurde auch die sogenannte Lauseschulze, ein schmutziges Mädchen, in das Bett gelegt zu einem reinlichen und anständigen Mädchen. Nach einiger Zeit war dieses Mädchen natürlich über und über verlaust, es lief in seiner Verzweiflung nach Hause, aber die Polizei holte es mit Gewalt zurück. („Hört! Hört!") Es wurde mit Strafe belegt, und als schließlich unser Parteiorgan diese Wirtschaft in gebührender Weise kennzeichnete, wurde auch noch der Redakteur angeklagt und verurteilt. („Hört! Hört!") Noch schlimmer als das Gesetz von 18541 in seinen Strafbestimmungen ist die Befugnis der Polizeibehörde, die Dienstboten mit Gewalt in den Dienst zurückzuführen, entweder durch zwangsweisen Transport oder durch Zwangs-, Geld- und Haftstrafen.

Der Redner führt einen Fall an, in welchem ein Mädchen, das nicht weit von Berlin aus dem Dienste entlaufen war, auf Grund sich jagender polizeilicher Zwangsverfügungen in kurzer Zeit über 100 Mark Strafe zahlen musste. Durch diese Bestimmung besteht die Möglichkeit, ein Mädchen wirtschaftlich vollständig zu ruinieren, und wenn es die Strafe nicht bezahlen kann, dann wird es in Haft genommen und kommt schließlich überhaupt nicht mehr aus dem Gefängnis heraus.

Sie sehen daran, in welch krassen Formen sich die Rechtlosigkeit der Arbeiter gerade hier auf dem Gebiete des Polizeiverwaltungsrechtes offenbart. Besonders schlimm ist es, wenn der Amtsvorsteher gleichzeitig der Dienstherr ist. Wie eigenartig es wirkt, wenn Schwangerschaft als Entlassungsgrund statuiert wird, beweist folgender Fall: Ein Rittergutsbesitzer in der Nähe von Berlin war zwei Jahre lang allnächtlich mit seinem Dienstmädchen zusammengekommen, und als nun das Malheur da war und die Alimentationsklage drohte, gab er ein paar hundert Mark und glaubte auf diese Weise die Sache aus der Welt zu schaffen. Das alte jus primae noctis feiert hier eine höchst bedenkliche Auferstehung. Es bleibt nicht mehr bei der ersten Nacht, die Gutsherren mit ihrer Sippe verlangen oft genug alle Nächte, die der Herrgott werden lässt, von den Mägden für sich.

Der Paragraph 3 des Kontraktbruch-Gesetzentwurfs nimmt sich in seinem Wortlaut sehr schön aus, beinahe als wäre er im Interesse der Arbeiter gemeint; aber in Wirklichkeit will man die Arbeitgeber nur darum zwingen, Zeugnisse auszustellen, damit künftig jeder Arbeitgeber, der einen Dienstboten ohne Zeugnis annimmt, schon ohne weiteres überführt ist, den Dolus oder die Fahrlässigkeit zu haben, die nach den Paragraphen 1 und 2 des Gesetzes zur Bestrafung ausreichen.

Der Zusammenhang dieses Gesetzentwurfs mit der Zollvorlage ist ein ganz eklatanter. Das Junkertum hat in der Zollvorlage versucht, sich dadurch ein Existenzminimum zu verschaffen, dass die Preise der Produkte möglichst in die Höhe getrieben werden. Es galt nun noch, die Spesen der Produktion möglichst herabzudrücken. Das Gesetz von 1854 hatte in dieser Beziehung eine Lücke gelassen. Um diese Lücke auszufüllen, um auch die Flucht in die Industrie aufs Äußerste zu erschweren, soll dies Gesetz geschaffen werden, dessen Tendenz keine andere ist, als billige Arbeitskräfte für dasselbe Junkertum zu besorgen, das durch die Zollvorlage seine Profite maßlos erhöht hat. Diesen Versuch müssen wir in der schärfsten Form zurückweisen. Wir müssen betonen, dass es keine Klasse gibt in Preußen, die gemeiner und eigennütziger ist als das Junkertum, und dass wir dieser heuchlerischen Ungerechtigkeit Kampf bis aufs Messer ansagen. (Lebhafter Beifall.)

II

30. Dezember 1904

Vor Gericht pflegen die Landarbeiter ganz besonders scharf vorgenommen zu werden. In einem mir vorliegenden Urteil heißt es, dass die ländlichen Arbeitgeber wegen der Schwierigkeit der Beschaffung von Arbeitskräften besonders geschützt und dass deshalb über ländliche Arbeiter wegen unberechtigten Verlassens des Dienstes besonders schwere Strafen verhängt werden müssen.

Nicht oft genug kann auf die Gefahren hingewiesen werden, die, infolge der Rechtlosigkeit der ländlichen Arbeiter, den ausländischen Arbeitern in Deutschland drohen. Die ausländischen Arbeiter werden in der Regel auf Grund von Pässen hineingelassen, die nur für eine bestimmte Zeit Gültigkeit haben, und dieser Umstand wird sehr häufig von den Arbeitgebern ausgenutzt, um sie in eine Zwangslage zu bringen und sich aus ihrer Haut noch mehr Riemen zu schneiden. Bei ihnen summiert sich die Rechtlosigkeit des Landarbeiters, und die Rechtlosigkeit des Ausländers.

Der Redner belegt dies durch ein drastisches Beispiel aus der Nähe von Neuruppin.

Wohl das rührendste Erlebnis meines Lebens ist folgendes: Unter dem Sozialistengesetz, es mag Mitte der 80er Jahre gewesen sein, erschien eines Tages eine Deputation ostpreußischer Landarbeiter bei meinem Vater im Exil in Borsdorf. Sie legten ihm ihre jammervolle Lage ans Herz und baten ihn, er möge doch bei dem deutschen Kaiser ein gutes Wort für sie einlegen, damit ihre Verhältnisse gebessert würden. Es kam in der Unterhaltung mit diesen braven biederen Leuten ein wahrer Kinderglaube an die Sozialdemokratie, ein wahrer Erlöserglaube, in geradezu überwältigender Weise zum Ausdruck. In der Tat, die Sozialdemokratie ist die Erlöserin der Landarbeiter. Sorgen wir dafür, dass der Kinderglaube dieser Leute nicht zuschanden werde! (Lebhafter Beifall.)

1 Das Gesetz vom 24. April 1854, betreffend die Verletzung der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter, verbot Streiks und Vereinigungen der Landarbeiter bei Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr.

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