Karl Liebknecht‎ > ‎1904‎ > ‎

Karl Liebknecht 19040921 Solidarität mit den russischen Genossen!

Karl Liebknecht: Solidarität mit den russischen Genossen!

Diskussionsrede zu den Resolutionen 106 und 1071 und zum Bernsteinschen Amendement2

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904, Berlin 1904, S. 322-324. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 89-94]

Über die Resolution 106 und 107 brauche ich kein Wort der Begründung mehr zu verlieren. Ich halte es für selbstverständlich, dass diese Resolutionen einstimmig angenommen werden. Nur einige Bemerkungen zur Begründung des Bernsteinschen Amendements. Ich habe mich im vorigen Herbst aus Anlass der Fälle Krassikow und Schekoldin3 mit allen in Betracht kommenden deutschen Behörden in Verbindung gesetzt, um deren Auffassung zu erfahren, und habe gehört, dass die übereinstimmende Auffassung sowohl der Gerichte wie der Kriminal- und Verwaltungsbehörden dahin geht, dass Ausländer nicht einmal die verfassungsmäßigen Grundrechte – das Recht der Wohnung, der freien Persönlichkeit usw. – haben, die dem Einheimischen, selbst wenn er der größte Verbrecher ist, ohne Weiteres zustehen. Die Behörden sprechen sich das Recht zu, bei Ausländern Tag und Nacht beliebig Haussuchungen zu veranstalten, sie zu jeder Zeit zu verhaften, ihnen ihr Eigentum zu nehmen und sie unbegrenzt in Haft zu behalten. Sie deduzieren nämlich: Wir dürfen jederzeit prüfen, ob jemand ein lästiger Ausländer ist; alle Ermittlungen, die zu dieser Prüfung dienen, dürfen wir vornehmen, ohne dass uns das Gesetz irgendwelche Schranken auferlegt.

Angesichts solcher Zustände müssen wir mit aller Energie die Einführung genügender Garantien für Ausländer verlangen. Es muss für Ausweisungen ein geordnetes Verfahren festgesetzt werden. Solche Ausweisungen sind ja oft genug Existenzfragen für ganze Familien und viel schlimmer als zivil- und strafrechtliche Verfolgungen, bei denen noch dazu schützende Garantien gegeben sind. Gegen das unerhörte ausbeuterische und erpresserische Verfahren der beiden Schiffsgesellschaften4 müssen wir gerade hier in Bremen, dem Sitz des Norddeutschen Lloyd, aufs Schärfste protestieren. Es muss festgestellt werden, dass diese Maßnahmen durch die Erklärungen der „National-Zeitung", der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" und des „Hamburgischen Correspondenten" nicht im Geringsten gerechtfertigt sind. Man hat gesagt, eine Überwachung sei aus sanitären Gründen notwendig. Das kann nicht zutreffen, denn das sanitäre Interesse kann niemals erheischen, dass Russen, die seit Jahren in Deutschland gelebt haben, dann, wenn sie Deutschland verlassen wollen, der Untersuchung unterworfen werden. Die Untersuchung fällt aber auch weg bei allen Russen, die nicht 4. Klasse oder Zwischendeck fahren. Ein gewisses Maß von Zahlungsfähigkeit macht nach Ansicht jener Zeitungen ohne weiteres seuchenfrei und immun. Die höchst verdächtigen Zwischendecker dagegen hält man mit allen Schikanen in Deutschland zurück. Es heißt weiter, dass die Kosten eines eventuellen Rücktransportes vermieden werden müssten. Deshalb seien die Verträge mit den Gesellschaften abgeschlossen. Auch das trifft nicht zu. Ich sehe absolut nicht ein, weshalb, wenn es sich nur darum handelt, pekuniäre Lasten vom Staate abzuwehren, den beiden deutschen Gesellschaften ein Monopol übertragen werden soll. Wenn zum Beispiel irgendein Russe mit einer englischen oder holländischen Linie von England oder Holland abfahren will und in Amerika nicht angenommen wird, so erwächst Deutschland doch keinerlei Verpflichtung.

Hier tritt deutlich hervor, dass durch diese Maßnahmen in Wirklichkeit lediglich reaktionäre Interessen verfolgt werden. Einerseits hat man ein lebhaftes Interesse daran, diese großen deutschen Unternehmungen im Gegensatz zu den ausländischen zu unterstützen; es ist eine Art Schutzzoll für unsre deutschen Schifffahrtsgesellschaften: „In Russland werden nur deutsche Linien honoriert", so belehrte man mich im Berliner Büro des Norddeutschen Lloyd. Auf der anderen Seite hat man das lebhafteste Interesse daran, auch Väterchen einen Gefallen zu tun. Wenn jemand einen richtigen legitimen Pass hat, mit dem er ohne Gefährdung wieder nach Russland zurückkehren kann, so wird er unter Umständen von den Schifffahrtsgesellschaften mit einem Billet nach London abgefunden. Sonst aber, wenn er in der bösesten Zwangslage ist – denn unerlaubtes Verlassen Russlands wird schon bestraft –, verlangt man, dass er ein Billet nach Amerika nimmt, und wenn er das nicht will, wird er an die Grenze zurück transportiert Die Leute haben also die Wahl: Entweder ihr zahlt Lösegeld an Ballin oder müsst nach Russland zurück und werdet, sofern ihr Deserteure seid, auf diese Weise ins Zuchthaus oder in den Tod gejagt. Mit andern Worten: entweder ein Extraprofit für Ballin oder ein Liebesdienst für den Zarismus. Dass das schmachvoll ist, darüber ist kein Wort zu verlieren. Ich möchte darauf hinweisen, dass dieselben Behörden, die diesen Auswanderern solche Schwierigkeiten bereiten, die Grenzen sperrangelweit aufmachen, wenn es sich darum handelt, russische Arbeiter, die für Junker und Großindustrielle billige Arbeit liefern, einzulassen. Man kann also auch anders! Man hat gesagt, es bestehe die Möglichkeit, sofort Abhilfe zu schaffen, da das Auswanderungsgesetz dem Reiche das Recht verleiht, Auswandereragenten und Unternehmern die Konzession zu entziehen. Aber das ist ja das Skandalöse, dass diese ganzen ungesetzlichen Machenschaften vor den Augen und mit Unterstützung der Polizei geschehen. Da kann, wenn nicht die Gesetzgebung eingreift, nur eine Hilfe kommen, nämlich vom Auslande. Amerika hat Ballin und Genossen ja schon einen bösen Schrecken eingejagt, indem es damit drohte, es würden nur noch Personen aufgenommen werden, die auf amerikanischen Schiffen transportiert sind.

Die Sache ist, wenn es sich um sanitäre Rücksichten handelt, so leicht zu beseitigen: Es braucht nur den Gesellschaften die Kontrolle in Deutschland ermöglicht, oder noch besser, eine meinethalben gebührenpflichtige, allgemeine Kontrolle von Reichs wegen eingeführt und das Monopol der beiden Gesellschaften aufgehoben zu werden. Jene unerhörte Verquickung der Profitinteressen einzelner Gesellschaften mit der Ausübung obrigkeitlicher Befugnisse ist es, gegen die wir aufs schärfste Front machen müssen. Sie ist das skandalöseste an der Sache!

Nehmen Sie die Anträge einstimmig an und dokumentieren Sie dadurch, dass es nach unsrer Auffassung genug ist der Liebedienerei und Kriecherei vor dem Zarismus und dass wir nicht wünschen, dass das Ausland mit den Fingern auf uns weist. Es ist Pflicht der Sozialdemokratie, den russischen Genossen, soweit es die deutschen Gesetze zulassen, Hilfe zu leisten. Die einmütige Annahme der Anträge wird dazu dienen, dies als einmütige Überzeugung der deutschen Sozialdemokratie zum Ausdruck zu bringen. (Beifall.)

1 Resolution 106 – „Parteigenossen in Königsberg:

In Erwägung: dass das abscheuliche Willkürregiment in Russland auf das Entschiedenste im Interesse der Kultur bekämpft werden muss, dass die russischen Genossen, welche diesen Kampf unter den schwersten Opfern führen, der Unterstützung auch der deutschen Sozialdemokraten versichert sein dürfen;

in Erwägung: dass die preußischen Justizbehörden denjenigen deutschen Parteigenossen, welche den russischen Genossen durch Mitwirkung bei der Verbreitung von Agitationsschriften offen vor den Augen der deutschen Behörden behilflich gewesen sind, durch Erhebung einer Anklage von Geheimbündelei diese Mitwirkung zu unterbinden versucht haben, beschließt der Parteitag:

1. es ist eine selbstverständliche Pflicht internationaler Solidarität, den russischen Parteigenossen bei der Verbreitung von Druckschriften, sofern sie nicht gegen die deutschen Gesetze verstoßen, gefällig zu sein;

2. diesen Beschluss der Staatsregierung auch ausdrücklich bekanntzumachen." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904, Berlin 1904, S. 131/132.)

Resolution 107 – „Parteigenossen in Potsdam-Spandau-Osthavelland schließen sich dem Antrag der Königsberger Genossen an:

Der Parteitag möge durch eine Resolution den Zarismus brandmarken und die Pflicht aller deutschen Sozialdemokraten, unseren russischen Brüdern in ihrem schweren Kampf nach Kräften, insbesondere bei dem Transport sozialdemokratischer, in Deutschland nicht verbotener Literatur nach Russland beizustehen, ausdrücklich feststellen; diese Resolution ist mit Rücksicht auf § 128 des Deutschen Strafgesetzbuches den zuständigen Behörden ausdrücklich bekanntzugeben." (Ebenda, S. 132.)

Resolution 106 wurde mit dem Amendement Bernstein/Bebel einstimmig angenommen. Antrag 107 war durch diese Beschlussfassung erledigt.

2 Eduard Bernstein und August Bebel brachten zum Antrag 106 folgenden Zusatzantrag (158), der einstimmig angenommen wurde, ein:

Des weiteren ersucht der Parteitag die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, einen Gesetzentwurf einzubringen zur Schaffung eines der modernen Kultur entsprechenden Rechts der Fremden im Deutschen Reiche und insbesondere zur Sicherung von Ausländern gegen die seit längerer Zeit befolgte und neuerdings verschärfte, verwerfliche Praxis der Auswandererpolitik, sie durch Nötigung zum Lösen von Fahrkarten nach bestimmten Ländern bestimmten Reedern in die Hände zu spielen und sie im Falle der Weigerung ihrem Heimatland auszuliefern." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904, Berlin 1904, S. 137.)

3 Zwei russische Staatsbürger, die nach einer Haussuchung grundlos verhaftet und nach Verbüßung einer Gefängnishaft ausgewiesen worden waren. Karl Liebknecht hatte sie 1903 verteidigt.

4 Gemeint ist das zwischen der deutschen Regierung und bestimmten Reedereien (vor allem mit der von Ballin geleiteten Hamburg-Amerika-Linie) vereinbarte und rigoros gehandhabte Verfahren, durch die deutsche Grenzpolizei aus jedem von Russland kommenden Eisenbahnzug alle Leute herausgreifen zu lassen, die nach Amerika auszuwandern beabsichtigten, um sie den von der Hamburg-Amerika-Linie und auch vom Norddeutschen Lloyd eingerichteten Kontrollstationen zuzuführen. Da nach einer Polizeiverordnung vom 12. April 1897 Auswanderern und auch anderen Reisenden die Durchreise durch Deutschland nur gewährt wurde, wenn sie im Besitz hoher Geldmittel oder „einer Kajütenfahrkarte einer deutschen Reederei" waren, wurden die russischen Emigranten faktisch gezwungen, Schiffskarten dieser Linien zu kaufen (obwohl sie dreimal teurer waren als zum Beispiel die der englischen Schiffslinien), wenn sie nicht wieder an die russische Grenze zurückgebracht werden wollten.

Kommentare