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Karl Liebknecht 19050922 Der Massenstreik – das spezifisch proletarische Kampfmittel!

Karl Liebknecht: Der Massenstreik – das spezifisch proletarische Kampfmittel!

Diskussionsrede zum Referat über den politischen Massenstreik

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 326 f.. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 159-161]

Die Wahl von 1903 hat gewissermaßen den formalen Parlamentarismus zu Tode gehetzt. Die Sozialdemokratie, deren Organisation und Agitation sich in Deutschland seit jeher im Wesentlichen an den Parlamentarismus und die parlamentarischen Wahlen angliederte, hat mehr und mehr eingesehen, dass die trotz alledem in weiten Kreisen gehegte Hoffnung trügerisch ist, mit Stimmenerfolgen Ausschlaggebendes zu erreichen. Man sieht, dass trotz der großen Wahlerfolge alles beim Alten geblieben ist. Daraus erklärt sich der Stimmungsumschwung, der darin besteht, dass man in Bezug auf außerparlamentarische Aktionen, wie die Maifeier, empfindlicher geworden ist, dass man nach neuen außerparlamentarischen Aktionen sucht und dass der Generalstreik immer mehr Anhänger findet. Freilich hat hierzu auch die russische Revolution beigetragen, die das Verständnis für katastrophische Entwicklung neu erweckt hat.

Es ist durchaus verfehlt, den Unterschied zwischen Generalstreik und Massenstreik für spitzfindig zu erklären. Der erste will den parlamentarischen Kampf ersetzen, der zweite ihn erst ermöglichen, ihm ein festes Rückgrat geben, außerdem aber ein selbständiges außerparlamentarisches Kampfmittel sein zum Schutz und zur Erringung wichtiger Rechte. Das ist ein grundlegender Unterschied.

Legien sagt, wir müssten unter Umständen allerdings die Flinten auf die Schultern nehmen. Aber diese Flinten fehlen uns; wohl aber hat das Proletariat seine Arme und die Macht, sie zu bewegen oder ruhen zu lassen. Dass der Massenstreik gleichbedeutend sei mit Revolution, ist nicht unter allen Umständen richtig, am wenigsten, wenn es sich um die Verteidigung von Rechten handelt.

Genosse Heine und Schmidt haben eine große Anzahl praktischer Bedenken geltend gemacht. Aber Legien hat uns erklärt: Ja, gewiss, der Massenstreik ist an sich wohl möglich. Das sollte doch Schmidt bedenklich machen. Die Gewerkschaften werden in dieser Beziehung wohl mehr hinter Legien als hinter Schmidt stehen. Wenn der Streik für wirtschaftliche Kämpfe ein geeignetes Kampfmittel ist, so muss er unter Umständen auch für politische Zwecke brauchbar sein. Was das Proletariat für fünf Pfennig Lohn tut, muss und wird es auch um sein Allerheiligstes, seine Grundrechte, tun! Der Massenstreik ist, nachdem sich die „Revolution im Heugabelsinn" überlebt hat, das spezifisch proletarische Kampfmittel für alle Gebiete des Klassenkampfes, organisch hervorwachsend aus der Stellung und Funktion des Proletariats in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Er ist die politische Realisierung der wirtschaftlichen Macht der Arbeiterklasse.

Gewiss werden wir, wie Schmidt betont, beim politischen Streik viele Abtrünnige sehen; aber tausendmal mehr Proletarier, die jetzt dem Klassenkampf fern stehen, werden begeistert und opferwillig zu uns stoßen; der Kampf um große Ziele reißt sie fort.

Heine fragt: „Werden wir siegen?" Ja, eine Revolutionsversicherung hat's noch nie gegeben; die müsste erst erfunden werden. Gewiss! Das Blut des Volkes ist uns teuer, aber die Ideale und die politischen Rechte des Volkes sind uns nicht minder teuer, und wir wollen sie uns nicht widerstandslos rauben lassen. Der Verantwortung für die Tat steht gegenüber die Verantwortung für die Untätigkeit. Juristerei erzeugt Neigung zum Formalismus und erschwert revolutionäres Denken und Fühlen. So erkläre ich mir die vielen Bedenklichkeiten Heines. (Die Redezeit ist abgelaufen.)

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