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Karl Liebknecht 19051209 Der politische Massenstreik - eine neue Waffe des Proletariats

Karl Liebknecht: Der politische Massenstreik - eine neue Waffe des Proletariats

Aus einem Zeitungsbericht über eine Rede in Leipzig

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 287 vom 12. Dezember 1905. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 162-165]

Dasjenige, was die heftig geführten Debatten über das Verhältnis von der Partei zu den Gewerkschaften hervorgerufen hat, ist der Geist, der sich seit einiger Zeit in den Gewerkschaften breit macht, der für die Gewerkschaften selbst als unheilvoll angesehen werden muss. Es ist der Geist der engherzigsten Auffassung über Politik, die nicht über die Nasenspitze hinausgeht, vor der der Genosse von Elm warnte. Auf dem Kölner Gewerkschaftskongress haben sich Erscheinungen gezeigt, die sehr bedauerlich sind. Da sind solche oberflächlichen Reden über wirtschaftliche und politische Fragen gehalten worden, wie die über die Maifeier und den politischen Massenstreik, dass sie allenthalben Verwunderung hervorgerufen haben. Auch die Redensart von der Ruhe, die die Gewerkschaften brauchten, ist sehr bedenklich.

Erfreulich ist es, dass die Masse der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ihre Führer desavouiert und sich in klipp und klarer Weise gegen eine derartige Anschauung über die Gewerkschaftsbewegung erklärt hat. Zu fragen haben wir, wie solche Anschauungen entstehen konnten, und zwar bei Leuten, deren parteigenössische Gesinnung untadelhaft ist. Sie sind dadurch entstanden, dass man in den Gewerkschaften nur noch mit der Quantität, aber nicht mit der Qualität der Mitglieder rechnet. – Lasst uns nur erst noch Millionen von Mitgliedern haben, dann werden wir das tun, was ihr schon heute als Aufgabe der Gewerkschaften hinstellt. – Es wird aber dabei vergessen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften nicht sowohl von der Quantität, als vielmehr von der Qualität der Mitglieder abhängt. Das Unterstützungswesen ist auch vielfach als Grund für das Verschwinden des Klassenkampfcharakters der Gewerkschaften angeführt worden. Nach der Ansicht des Redners ist diese Auffassung irrig. Bei dem Unterstützungswesen handle es sich nicht um das Ob, sondern um das Was, um das Maß der Unterstützungseinrichtungen.

Auch den in neuerer Zeit so stark hervortretenden Bürokratismus in der Gewerkschaftsbewegung hat man für das Nachlassen des Klassenkampfcharakters der Gewerkschaft als Grund angeführt. Alle diese Erscheinungen dürfen durchaus nicht skeptisch genommen werden. In Deutschland brauchen wir keine Sorge um das Abflauen des Klassenkampfes zu haben; dass dies nicht eintritt, dafür sorgt schon die deutsche Justiz. Die gegenwärtig betriebene Reichspolitik lässt nicht nur kein Abflauen des Klassenkampfes zu, sondern verschärft ihn vielmehr in jeder Weise.

Dem Proletariat wird durch die „Recht"sprechung jeden Tag nachdrücklich eingepaukt, dass es minderen Rechts als andre Bevölkerungsklassen ist.

Noch nie war aber auch eine politische Situation für die Erweckung des Proletariats zum Klassenkampf so günstig gewesen wie die jetzige.

Das ganze internationale Proletariat wird mobilisiert. Die Wogen der russischen Revolution, der Wahlrechtsbewegung in Österreich schlagen auch nach Deutschland ihre Wellen.

Was in Deutschland den Klassenkampf besonders verschärfen wird, sind die neuen unerhört hohen Lasten, die dem Volke für Marineforderungen usw. auferlegt werden.

Zu all diesen Dingen kommt dann die Rechtsprechung in Streiksachen. Sagt sich schon jeder arme Schlucker, wenn er wegen irgendeines Vergehens auf die Anklagebank kommt: Auf Gnade hast du nicht zu hoffen, so ist es bei Streiksündern erst recht schlecht um die Gerechtigkeit bestellt. Bei allen größeren Streiks gibt es Legionen von Strafbefehlen und Prozessen, darunter solche wegen Landfriedensbruchs, die die Arbeiterschaft überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Was bei revoltierenden Studenten und Technikern wegen Verübung groben Unfugs geahndet wird, fällt bei Streikenden unter den Landfriedensbruchparagraphen, und Jahrzehnte von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen sind die Folge.

Wie die Dinge in Sachsen gehen, wissen Sie. Was der kleinliche, engherzige Polizeigeist der sächsischen Reaktion mit dem Wahlrechtsraub und sonstigen Hemmungen der Arbeiterschaft zu schaden versucht hat, kommt jetzt als Frucht einer gewaltigen Volksbewegung zum Ausdruck. Diese Bewegung zeigt, dass das Volk nicht auf die Dauer rechtlos zu machen ist. Wenn die Bahn nicht freigegeben wird, muss der Ring gesprengt werden, in den man das Volk geschmiedet hat.

Ist es schon eine Vermessenheit, im Interesse der herrschenden Klasse einer kulturell so hoch entwickelten Arbeiterschaft wie der sächsischen die Parlamentstür so vor der Nase zuzuschlagen, so ist die Unverfrorenheit noch größer zu glauben, dass sich die Arbeiterschaft auf die Dauer solches gefallen lasse.

Die gemeinsame Aufgabe der Gewerkschaften und der Partei ist es, die Arbeiter zu bewussten Klassenkämpfern zu erziehen und dann solche Aktionen gemeinsam durchzuführen, woran beide Teile der Bewegung interessiert sind; damit ist auch die Bewegung selbst unüberwindlich gemacht. Mögen dann auch die herrschenden Klassen sagen, dass sie die Macht noch haben, und mögen sie auch versuchen, das Rad der Weltgeschichte zurückzudrehen, indem sie die Arbeiterschaft mit Zwangsmitteln niederhalten; das wird ihnen nicht gelingen, sie fördern vielmehr damit nur um so schneller ihren Sturz.

Im politischen Massenstreik hat das Proletariat eine neue Waffe seinem Arsenal einverleibt, die es zu gegebener Zeit anwenden wird. Ob der politische Massenstreik zur Eroberung des sächsischen Wahlrechts angewendet werden wird, kann augenblicklich noch nicht gesagt werden. Ich fürchte aber, dass die Zeit nicht mehr fern ist, wo das Proletariat seine geraubten Rechte mit allem Nachdruck fordern wird, dann wird die Entscheidungsstunde nahen. Dann wird keine Rede von einer Trennung zwischen Partei und Gewerkschaften sein können. Das gemeinsame Ziel, der gemeinsame Feind wird sie einigen. Dann hat in Sachsen, in Preußen, in ganz Deutschland das letzte Stündlein der Unterdrückung und Knechtung geschlagen. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

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