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Karl Liebknecht 19050921 Partei und Gewerkschaften

Karl Liebknecht: Partei und Gewerkschaften

Diskussionsrede zum Referat über die Maifeier

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 251-253. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 152-157]

Dass die Gewerkschaften die besondere Aufgabe haben, die konkreten wirtschaftlichen Kämpfe zu führen, dass das die Legitimation der gewerkschaftlichen Bewegung ist, darüber besteht nirgends ein Zweifel. Von keiner Seite ist denn auch die Notwendigkeit der Arbeitsteilung in der Arbeiterbewegung angezweifelt worden. Von keiner Seite ist vorgeschlagen worden, dass das, was jetzt der politischen Bewegung obliegt, künftig die gewerkschaftliche oder auch umgekehrt übernehmen solle. Es handelt sich um eine andre Frage. Es ist nicht zutreffend, dass, wie Schmidt behauptet, keine Differenzen zwischen den beiden Bewegungen beständen, dass keine Versuche gemacht würden, den politischen Geist in den Gewerkschaften zu unterdrücken. Das von Fischer Vorgebrachte hat er nicht widerlegt.1 Seine Behauptungen könnten durch ein erdrückendes Material entkräftet werden. In den Gewerkschaften wird nicht bloß vielfach Neutralität verkündet, sondern zuweilen sogar gegen die politische Betätigung Stellung genommen. Dass eine wachsende Entfremdung zwischen Gewerkschaften und politischer Partei sich bemerkbar macht, ist eine Auffassung, die keineswegs aus dem Blauen gegriffen ist. Sie wird vertreten auch von Gewerkschaftsführern. Zwei Antipoden in der Partei, Kautsky und Elm, sind sich darin einig. Wenn Schmidt meinte, die politische Bewegung sei schuld an dem bedauerlichen Verhältnis der beiden proletarischen Organisationen zueinander, so ist das einseitig.

Mit seinem Zitat gegen Kautsky hat er sich selbst in die Nesseln gesetzt. Kautsky soll es angeblich als bedenklich bezeichnet haben, wenn die Gewerkschaften zu günstige Lohnverhältnisse für ihre Mitglieder erreichen würden, weil sonst der klassenkämpferische Geist verlorenginge. Das ist nicht richtig. Wahr aber ist etwas anderes. Calwer hat den Gewerkschaften geraten: Stellt nur nicht so hohe Forderungen, sonst untergrabt ihr euch euren Arbeitsmarkt; seid fein bescheiden. So sagt ein Revisionist.

So werden im Widerspruch mit dem Klassenkampfe die Gewerkschaften zur Bescheidenheit statt zur Unzufriedenheit gemahnt; schlimmer kann nicht gesündigt werden. Das Zerwürfnis zwischen Partei und Gewerkschaften ist schon so weit gediehen, dass der „Tabakarbeiter" von der unmittelbar bevorstehenden Gefahr einer ernsten Zersplitterung sprechen konnte. Unzweifelhaft besteht diese Gefahr.

Es ist richtig, was Molkenbuhr gesagt hat, und auch ich halte nicht dafür, dass die Gewerkschaften dauernd einer anglisierenden Tendenz verfallen. Eine Tatsache verhindert das: die deutsche Kultur, die bekanntlich „Freiheit" ist, die deutsche Judikatur und die deutsche Polizeipraxis. Die paukt den Arbeitern den Klassenkampf schon ein und ist weit entfernt von den relativ demokratischen Zuständen Englands, die sich übrigens auch verschlimmern. Es ist sehr bezeichnend, dass die jetzt auftretenden politischen Neigungen der englischen und holländischen Gewerkschaften anknüpfen an gesetzgeberische Aktionen und Polizeipraktiken. Was dort erst gelegentlich auftritt, haben wir in Deutschland ständig. Deshalb habe ich keine so große Besorgnis in dieser Beziehung. Die deutsche Gewerkschaftsbewegung wird von selbst korrigiert.

Aber ich sehe nicht ein, weshalb wir die Dinge so laufen lassen sollen. Die innere Zusammengehörigkeit der beiden Organisationsformen des Proletariats muss äußerlich mehr zum Ausdruck kommen. In den „Monatsheften"2 und in der „Neuen Zeit"3, überall und immer stoßen wir auf die Wendung: Es ist engere Fühlung zwischen Partei und Gewerkschaften notwendig. Ich beziehe mich auch auf „Die Gleichheit"4 vom 20. September; auch dort wird die Notwendigkeit eines geregelten Verhältnisses betont.

Bedenken wir: Weder die Frage der Maifeier noch die des Generalstreiks können ohne die Gewerkschaften gelöst werden. Die Regelung des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaften ist die Voraussetzung für die Lösung dieser beiden Fragen. Deshalb müssen wir der Frage die größte Aufmerksamkeit schenken: Wie stellen wir uns künftig zu den Gewerkschaften, was soll geschehen, um unliebsame Vorkommnisse in Zukunft zu vermeiden? Es sind doch beides proletarische Organisationen. Auf dem Kölner Parteitag vom Jahre 1893 ist die Entwicklung, wie wir sie vor Augen haben, schon vorausgeahnt. Arons hat dort gefordert, dass zur Vermeidung einer Verflachung der Gewerkschaftsbewegung die politisch tätigen Genossen auch in den Gewerkschaften wirken sollten – was sich natürlich bei den hohen Anforderungen, die beide Bewegungen mehr und mehr stellen, nur in mäßigem Umfange durchführen lässt. Legien hat damals angeregt, dass auf jedem Parteitag ein besonderer Bericht über die Gewerkschaftsbewegung erstattet werde, und jetzt schlägt von Elm einen ständigen gewerkschaftlichen parlamentarischen Beirat vor; auch Hué tritt in seinem Artikel in der „Neuen Gesellschaft"5 für ein kollegiales Zusammenarbeiten, für eine Verbindung von Partei und Gewerkschaften ein. Nur will er nicht die organisatorischen Grenzen verwischt sehen. Auf der anderen Seite wünscht auch Kautsky eine Verbindung herzustellen, freilich nur in der Form, dass die Partei einseitig in ihren Vorstand einen Gewerkschaftsführer hinein wählen soll. Niemand denkt daran, wie Schmidt meint, aus den Gewerkschaften einen politischen Diskutierklub zu machen; die Gewerkschaften haben eben ihre bestimmten Aufgaben. Nur müssen sie Fühlung mit der großen Arbeiterbewegung behalten, die sie im Begriff sind zu verlieren.

Man wirft die Neutralität ein. Es ist aber nicht richtig, wenn Schmidt behauptet, die Frage der Neutralität sei endgültig entschieden. In gewerkschaftlichen Kreisen besteht durchaus nicht die Auffassung, dass die Neutralität ein Gottesgebot sei, von dem man nicht abgehen dürfe. Bebel ist zwar auch für die Neutralität eingetreten, aber ich glaube, dass es einer der wenigen Punkte ist, wo Bebel nicht die Mehrheit der Partei hinter sich hat. („Sehr richtig!") Und die Bebelsche Neutralität ist etwas ganz anderes als die von Schmidt vertretene. Man soll auch nicht mit rechtlichen Bedenken kommen. Gibt es denn noch irgend jemand, der die Gewerkschaften für friedliche Vergnügungsvereine ansieht? Die Judikatur, die Rechtspraxis, hat ganz andere Auffassungen. Es heißt Farbe bekennen! Wozu das Versteckspielen? Mir widerstrebt es, wenn ich als Verteidiger sagen muss: „Das ist ja gar kein sozialdemokratischer Verein." Es ist doch ein sozialdemokratischer Verein; aber er verfolgt seine Tendenzen auf gewerkschaftlichem Gebiet. Auch Hué sagt, dass die Gewerkschafter es jeden Augenblick hören müssten: Was wollt ihr denn? Sozialdemokraten seid ihr ja doch! Wenn uns die Gegner das nun einmal doch anhängen, weshalb sollen wir uns durch diese Zwirnsfäden die Hände binden lassen? Weshalb sollen wir es nicht ebenso machen wie der polnische Sokol6, den die Polizei trotz allen Widerstrebens zum politischen Verein gestempelt hat. Jetzt hat er den Satz, der die politische Beteiligung ausschloss, aus dem Statut gestrichen. Das Praktisch-Wesentliche ist, wir dürfen hier nicht auseinandergehen, ohne in dieser wichtigen Frage den Boden der Verständigung zu suchen.

Ich habe die Resolution 1437 eingebracht; ich weiß ja, sie ist nicht schön geraten, meinethalben: Sie ist unklar (Heiterkeit), aber ich wollte auch nur einen energischen Anstoß geben. Wir brauchen ja nicht darüber zu votieren, aber wir könnten eine Kommission wählen, die sich mit dieser Frage, die wichtiger als die der Organisationsform ist, auf das eingehendste beschäftigt.

Das Beispiel Dänemarks gibt uns ein vortreffliches Muster, wie Partei und Gewerkschaften Hand in Hand zusammenzuarbeiten haben.8 Wir haben nur einen Emanzipationskampf, aber er wird von zwei Armeen auf zwei verschiedenen Terrains und hoffentlich in Zukunft immer mehr unter einer taktischen Leitung geführt, und der Gedanke der Maifeier ist das Banner, unter dem die Armeen marschieren und kämpfen. (Bravo!)

1 Richard Fischer, der die Debatte über die Maifeier einleitete, sagte, es sei ein großer Fehler, wenn man sich darüber täuschen wollte, dass ,.in den Gewerkschaften da und dort der sozialistische Geist etwas verlorengegangen ist". Er sprach von Krankheitssymptomen in den Gewerkschaften und führte als Beispiel Bringmann, den Vertreter des Zimmererverbandes, an. Dieser hatte gesagt, nach seinen Erfahrungen habe die Arbeitsruhe am 1. Mai in den Gewerkschaften gewirkt wie ein Fremdkörper im menschlichen Organismus.

Die Debatte über die Maifeier auf dem Jenaer Parteitag wurde dadurch hervorgerufen, dass auf dem Kölner Gewerkschaftskongress vom 22. bis 27. Mai 1905 heftige Angriffe gegen die Arbeitsruhe der organisierten Arbeiter am 1. Mai gerichtet worden waren. Im Mittelpunkt der Kölner Diskussion hatte eine entsprechende, von Robert Schmidt eingebrachte Resolution gestanden, die bewies, dass die Generalkommission der Gewerkschaften dem 1. Mai seinen Kampfcharakter nehmen wollte.

2 Gemeint ist die Zeitschrift der Bernsteinianer „Sozialistische Monatshefte", die von 1897 bis 1933 erschien.

3 Theoretisches Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, erschien von 1883 bis 1923, bis 1917 von Karl Kautsky redigiert.

4 Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, erschien von 1891 bis 1925. Begründet von Clara Zetkin und von ihr redigiert, bis sie im Juni 1917 wegen ihres Kampfes gegen den imperialistischen Krieg von dem sozialchauvinistischen Vorstand der SPD ihrer Funktion enthoben wurde.

5 reformistische Wochenschrift, erschien vom Oktober bis Dezember 1903 als „Socialdemokratische Wochenschrift", herausgegeben von Heinrich Braun, und vom April 1905 bis Mai 1908 als „Sozialistische Wochenschrift", herausgegeben von Heinrich und Lily Braun.

6 Turnverein in Charlottenburg bei Berlin. Die Red,

7 Resolution 143 „Liebknecht und Genossen:

In Rücksicht auf die Misshelligkeiten zwischen Partei und Gewerkschaftsbewegung, die nicht notwendig aus der unumgänglichen Arbeitsteilung zwischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung folgen und sich zum Nachteil beider proletarischer Organisationen steigend bemerkbar machen, beschließt der Parteitag:

Es ist in erster Linie eine organisatorische und organische Verbindung zwischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung anzustreben;

in zweiter Linie und sofort bis zur Erzielung jener organisatorischen Verbindung ein Organ zu dem Zweck zu schaffen oder ein bestehendes Parteiorgan mit der besonderen Aufgabe zu betrauen, eine dauernde Fühlung und in allen Fragen gemeinschaftlichen Interesses eine Verständigung zwischen Partei und Gewerkschaftsbewegung und eine gemeinschaftliche Aktion beider herbeizuführen." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 139/140.)

Der Antrag wurde dem Vorstand als Material überwiesen.

8 Die maßgebende Zentrale der dänischen Gewerkschaftsverbände, der Samvirkende Fagforbund, erkannte bei ihrer Gründung im Jahre 1898 dem Parteivorstand der dänischen Sozialdemokratie eine besondere Vertretung in der Leitung zu, wofür die Gewerkschaften das Recht erhielten, auch ihrerseits zwei Vertreter in den Parteivorstand zu entsenden.

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