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Karl Liebknecht 19050620 Vom Plötzenseeprozess

Karl Liebknecht: Vom Plötzenseeprozess

Zuschrift an die „Sächsische Arbeiter-Zeitung"

[Sächsische Arbeiter-Zeitung, Dresden, Nr. 139 vom 20. Juni 1905.Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 147-151]

Bei den mannigfachen Kommentaren, denen der Plötzenseeprozess und sein merkwürdiger Abschluss unterzogen worden ist, empfehlen sich einige Bemerkungen.

Die inkriminierten Veröffentlichungen werfen ein grelles Licht auf die Mängel unseres Strafvollzugs, auf die hygienischen Mängel der Unterkunftsräume, die Arbeitswerkstätten der Gefangenen, ihre Bekleidung und Beköstigung, auf die Mängel der ärztlichen Beobachtung und Versorgung bei der Aufnahme ins Gefängnis, während der Haft und bei etwaigen Disziplinarstrafen, auf die allgemeinen sanitären und moralischen Wirkungen der Vollstreckung langfristiger Freiheitsstrafen, die unwürdige Stellung der jämmerlich bezahlten Gefängnisärzte, das unhaltbare Disziplinarverfahren und die oft grausamen Disziplinarstrafmittel. Kaum eine Seite des Strafvollzugs blieb unbeleuchtet. Der Mangel ärztlicher Versorgung wurde besonders krass in psychiatrischer Beziehung bloßgestellt. Sehr schlagend waren weiter auch einige Fälle der Strafvollstreckung an Tuberkulosen (mit der sich der Gefängnisbeamtenkongress gerade jetzt beschäftigt) und anderen innerlich Kranken.

Die Veröffentlichungen spitzen sich allenthalben auf die große Frage zu: Entspricht unser Strafsystem und die in unserem Strafgesetzbuch vorgenommene Regelung der kriminellen Verantwortlichkeit den Anforderungen der modernen Wissenschaft, den Anforderungen der Humanität?

Das in den Händen der Angeklagten befindliche unanfechtbare Beweismaterial wuchs zu Bergen an. Trotz der odiosen Umrubrizierung1 konnten sie der Verhandlung mit vollster Zuversicht entgegensehen. Die vom Staatssekretär Nieberding angekündigte und erstrebte sachliche Aufklärung gedachten sie in glänzender Weise zu schaffen.

Und tatsächlich ist ihnen das im Wesentlichen gelungen. Die vorausgeschickten allgemeinen Erörterungen führten zu wichtigen Ergebnissen, die leider in der Presse nicht ausreichend verbreitet sind; allerdings trugen diese allgemeinen Erörterungen, die vor Verlesung irgendeines der inkriminierten Artikel stattfanden, einen wesentlich akademischen Charakter, ohne darum doch – so wollte es die absolutistische Leitung des Herrn Dr. Oppermann – die allgemein interessierenden Probleme des Strafvollzugs berühren zu dürfen. Nun konnten die Angeklagten hier freilich ruhig zusehen, wie die Anklage ihr bestes Pulver verschoss: Hatten sie doch ein so schlagendes Material zum Beweise der Unrichtigkeit aller tatsächlichen Voraussetzungen, von denen jene Erörterungen ausgegangen waren, in ihren Händen aufgespart, dass ihnen nichts Angenehmeres geschehen konnte, als dass sich die Anklage hier in neuem illusionären Triumphe festrannte.

Die Fälle Sklärow und Grosse aber boten in ihren grauenhaften Details und ihrem Gesamtbild eine solche Fülle der Anregung, ein so beredtes Plädoyer für die Verbesserungsbedürftigkeit unseres Strafvollzugs, dass ein stärkerer Eindruck auch von einer weiteren Verhandlung kaum mehr erreicht werden konnte. Und dieses Plädoyer wirkte um so beredter, je außergewöhnlicher die Schwierigkeiten waren, die die Verhandlungsleitung rings um die Verteidigung auftürmte und deren Überwindung wahre Sisyphusqualen kostete.

Die Verhandlungsleitung des Herrn Dr. Oppermann trug aber auch sonst ihre guten Früchte für die Angeklagten und ihre Bestrebungen. Die prozessuale Methode des Herrn Dr. Oppermann, der, wo man ihn auch kennt, dem weiland Landgerichtsdirektor Brausewetter zur Seite gestellt wird, hatte bisher noch niemals Gelegenheit gehabt, sich so unter der Kontrolle der Öffentlichkeit zu entfalten. Die Methode Oppermann, die Methode der 4. Berliner Strafkammer, wurde endlich – wie lange das von der Berliner Rechtsanwaltschaft geradezu herbeigesehnt war, lässt sich gar nicht sagen – in die öffentliche Diskussion geworfen, und der Ausgang der Debatte schien nicht zweifelhaft. Mit der speziellen Frage Oppermann wurden aber zahlreiche allgemeine Fragen des Strafprozesses aufgeworfen. Nie war die ganze Unwürdigkeit der Stellung, die der Verteidigung nach der heutigen deutschen Strafprozessordnung zugewiesen ist, so sinnfällig dargetan. Nie war das System der Umrubrizierung so gesteinigt worden.

So lag die Situation, als den Angeklagten durch die auf eigne Faust unternommenen Sondierungsversuche des Rechtsanwalts Dr. Löwenstein, der den Angeklagten Ahrens vertrat, Vergleichsverhandlungen mit der Oberstaatsanwaltschaft am Berliner Kammergericht nahegelegt wurden.

Diese Verhandlungen und der Vergleich sind in der Parteipresse mehrfach merkwürdig missverstanden worden. Ob der Vergleich ein Fehler war oder nicht, soll hier nicht von vornherein entschieden werden; jeder möge sich aus den hier vorgetragenen Tatsachen sein Urteil selbst bilden.

Die zuerst in unserer Parteipresse und daran anknüpfend in gegnerischen Zeitungen erhobenen hauptsächlichen Vorwürfe schlagen jedenfalls gründlich daneben. Wie kann im Ernst von dem Unternehmen einer Kabinettsjustiz, einem Eingriff in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gesprochen werden? Der Justizminister ist natürlich auch nicht mit einem Jota als Aufsichtsinstanz angegangen worden. Die Vergleichsverhandlungen haben sich allenthalben absolut ausschließlich mit der Frage der Rücknahme des Strafantrages befasst, den der Oberstaatsanwalt am Kammergericht, natürlich in Übereinstimmung mit dem Justizminister, für die angeblich beleidigten Gefängnisbeamten gestellt hatte: mit der Rücknahme des Strafantrages, die im Gesetz ausdrücklich zugelassen ist. Und wenn die Angeklagten auch noch massenhaftes schlagkräftiges Material im Sack hatten, eine günstigere Gelegenheit zum Abbruch des Prozesses, als auf der Höhe des Triumphes im Fall Grosse, war kaum denkbar. Gewiss hat jeder Sozialdemokrat das gute Recht, fast die Pflicht, bei Vergleichsverhandlungen dieser Art ein energisches Missbehagen zu empfinden; aber die von den Angeklagten abgegebene Ehrenerklärung wich nicht wesentlich ab von der Erklärung, die sie und ihre Verteidiger in fast ermüdender Wiederholung ein paar dutzendmal vor und in der Verhandlung abgegeben hatten: „Was sind uns Hekuba-Pfleger und Hekuba-Baer? Für letzteren als Menschen und Strafvollzugsreformer können wir sogar besondere Achtung empfinden! Wir wollen nicht einzelne Verfehlungen irgendwelcher Personen nachweisen, wir wollen die Mängel des Strafvollzugssystems treffen, die sich auch in der Amtsausübung der Plötzenseer Ärzte und Beamten manifestiert haben." Die Wiederholung dieser bis dahin von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht mit Achselzucken aufgenommenen Erklärung im Vergleich konnte nur dazu dienen, wiederholt das Wesentliche und von den Angeklagten Gewollte von dem Unwesentlichen und von der Anklage Gewollten, den Angeklagten wider ihren Willen Aufoktroyierten, scharf zu scheiden – zu Nutz und Frommen der Sache, der Reform des Strafvollzugssystems.

Die Übernahme der Prozesskosten durch die Angeklagten, die gerade in der Presse eine so lebhafte Kritik hervorgerufen hat, hat bei den Vergleichsverhandlungen gar keine Rolle gespielt, weil eine Verurteilung der Angeklagten aus formalen Gründen für alle Beteiligten einfach selbstverständlich war, woraus sich die Regelung dieses Punktes von vornherein ergab. Aus der Übernahme der Kosten regelmäßig ein Bekenntnis der Niederlage zu schließen, entspricht zwar einer weit verbreiteten, aber nicht gerade von tieferer Einsicht getrübten Auffassung.

Demgegenüber stand die Tatsache, dass eine hohe staatliche Behörde in einem eminent politischen Prozesse, der mit größtem Tamtam eingeleitet war, der nach Mugdan und Nieberding eine vernichtende Brandmarkung sozialdemokratischer Leichtfertigkeit erzielen sollte, nach dreiwöchigen aufsehenerregenden Verhandlungen ihren Strafantrag zurückzuziehen bereit war.2 Wer das politische und prozesspolitische Gewicht dieser Tatsache verkennt, verliert einfach den Maßstab zur Würdigung des Vergleichs.

Übrigens war schon nach den ersten Tagen der Verhandlung, die zu den bekannten peinlichen, in der Geschichte der Strafjustiz fast unerhörten Vorkommnissen führten, eben infolge dieser Vorkommnisse auch auf Seite der Nebenkläger die Stimmung für eine vergleichsweise Beilegung des Streits recht gründlich vorbereitet. Die Neigung, diesem Prozessmonstrum ein „unnatürliches" Ende zu bereiten, lag seit etlichen Tagen schon geradezu in der Luft. Und wer den Verhandlungen beigewohnt hat, wird das in seiner ganzen Bedeutung verstehen können.

Alles in allem: Man mag über die Zweckmäßigkeit des Vergleichs verschiedener Meinung sein können; die Auffassung, dass der Vergleich einen günstigen, den Angeklagten, der Strafprozessreform und der Partei dienlichen Abschluss des Prozesses bedeutet, wird mindestens als verständig und haltbar anerkannt werden müssen. Und trotz mancher Bedenken im Einzelnen treten wir dieser Auffassung im Großen und Ganzen bei.

Hoffentlich wird die Parteipresse die Auseinandersetzungen über den Vergleich baldigst beenden und sich an eine gründliche Ausnützung und Verarbeitung des sachlichen Prozessertrages, an eine energische Propaganda der Strafvollzugsreform machen.

1 Das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 bestimmte für die Landgerichte, dass vor Beginn für die Dauer des Geschäftsjahres die Aufgaben unter die Kammern abschließend aufzuteilen waren. Da gleichzeitig festgelegt wurde, welche Richter einer Kammer angehören sollten, stand für jeden Angeklagten im Voraus fest, welche Strafkammer und welche Richter die Verhandlungen führen würden. Diese auf Grund der Gesetze vorgenommene Geschäftsverteilung wurde von den bürgerlichen Gerichten jedoch öfters aus politischen Erwägungen verletzt.

In vorliegendem Fall wurde das Rubrum des Prozesses aus „Schneidt und Genossen" in „Kaliski und Genossen" abgeändert. Dadurch gelangte der Prozess vor die 4. Strafkammer, den berüchtigten Landgerichtsdirektor Oppermann, dem die Aburteilung des Buchstabens K oblag.

2 Dr. Mugdan, Abgeordneter, und Dr. Nieberding, Staatssekretär, versuchten in der Reichstagsdebatte am 15. Mai 1904 das durch den sozialdemokratischen Redner vorgetragene Material über die Missstände im Strafvollzug zu widerlegen.

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