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Karl Liebknecht 19061126 Alle Kräfte zur Unterstützung der russischen Revolution!

Karl Liebknecht: Alle Kräfte zur Unterstützung der russischen Revolution!

Brief an das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel

26. November 1906

[Abschrift. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Archiv, Nachlass: Karl Liebknecht. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 232-235]

Verehrte Genossen!

Die russische Revolution steht vor einer neuen wichtigen Phase. Die geheimen Pläne der Hofkamarilla, welche mit der Auflösung der ersten Reichsduma die konstitutionelle Periode der politischen Geschichte Russlands zum Abschluss zu bringen hoffte, sind gescheitert: Die Wahlen für die zweite Reichsduma stehen vor der Tür. Im Gegensatz zu den ersten Dumawahlen haben sämtliche revolutionären Parteien Russlands mit nur einer Ausnahme (der PPS1) Wahlbeteiligung beschlossen. Damit sind diesen Parteien Aufgaben gestellt, deren Wichtigkeit und Schwierigkeit so außerordentliche sind, wie dies nur in revolutionären Perioden ersten Grades möglich ist.

Allerdings ist das Wahlrecht ein erbärmliches, und die zahlreichen Interpretationen, die ihm in jüngster Zeit von der übermütigen Gegenrevolution im Verwaltungswege zuteil geworden sind, haben gerade für das Proletariat die Schwierigkeit, eigene Abgeordnete durchzubringen, noch beträchtlich erhöht. Dennoch ermöglicht es wenigstens durch die Abstimmung innerhalb der Arbeiterkurien, sofern alle Kräfte rechtzeitig einsetzen, eine gewaltige Demonstration des Proletariats von Gesamtrussland zugunsten des Sozialismus. Eine solche Demonstration im Verein mit dem Ansturm der revolutionären Bauernschaft und des oppositionellen Bürgertums wird zugleich nicht nur eine bedeutsame Solidaritätserklärung mit der staatsstreichlerisch auseinandergejagten ersten Duma einschließen, sondern ein neuer heftiger Stoß für den Absolutismus sein, ihm den politischen Bankrott von neuem bestätigen und die letzte Möglichkeit nehmen, der Welt vorzulügen, dass Russland keine Revolution, sondern nur Revolutionäre habe. Und sie wird sein ein vernichtendes Verdikt über das heuchlerische und blutrünstige Regime Stolypins, der, ein williger Schüler der Plehwe, Trepow und Durnowo, statt liberaler Reformen Feldgerichte, statt sozialer Reformen den teuren Landverkauf an die Bauern und die Entrechtung der Arbeiterschaft, statt Beruhigung der Bevölkerung vollkommene Anarchie geschaffen hat.

Eine solche Vertrauenskundgebung der Massen für die revolutionären Parteien wird weiter, je imposanter und einmütiger sie ist, den etwa gewählten Vertrauensleuten der revolutionären Parteien bei ihrer Tätigkeit in der neuen Duma eine um so stärkere Stütze bieten und auch den oppositionellen bürgerlichen Parteien das radikale Rückgrat steifen.

Jene erstrebte und erwartete Manifestation des klassenbewussten Proletariats Russlands wird aber auch eine agitatorische Bedeutung ersten Ranges haben. Agitatorisch durch die Wahlbewegung vor allem selbst, durch die Agitation, die, mit dem bestimmten Ziele der Wahl vor Augen, eine ungewöhnlich eindringliche Energie entfalten muss; agitatorisch aber sodann durch die Nötigung zu einem klaren politischen Bekenntnis, das heute in Russland eine Tat sein wird und so die Massen erzieht; agitatorisch schließlich durch die Wirkung des Resultates auf die Massen des Volkes selbst: Ein großer Erfolg wird die Massen begeistern und eine neue lebendige Aufwärtsbewegung der revolutionären Entwicklung fördern.

Denn diese Wahl ist nicht eine Wahl im westeuropäischen Sinne, sondern eine Etappe in der Fortentwicklung der Revolution, ein erneuter Antrieb zum Vorwärtsschreiten der ungeheuren politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzung Russlands, deren Bedeutung für das Proletariat der ganzen zivilisierten Welt offenkundig ist.

Die Verantwortung für ein großes Stück des Schicksals des internationalen Proletariats lastet seit mehreren Jahren auf den Schultern der russischen Revolutionäre, die diese Verantwortung freudig unter unsäglichen Gut- und Blutopfern tragen. Das Proletariat des Auslandes erkennt dies begeistert an und hat seine Pflicht, den russischen Helden alle mögliche moralische, persönliche und materielle Unterstützung zu leihen, willig anerkannt.

Genossen! Der gegenwärtige Augenblick verdoppelt angesichts der Orgien, die die Gegenrevolution mit infernalischer Bestialität im Blute der Besten unter den russischen Revolutionären feiert, die Aufgaben und die Verantwortung der sozialistischen Parteien Russlands. Sie bedürfen der tatkräftigen und schleunigen Unterstützung ihrer glücklicheren Bruderparteien, für die sie zugleich kämpfen. Und diese besondere, tatkräftige und schleunige Unterstützung ist Pflicht. Der Wahlkampf vollzieht sich, wie jeder Tag von Neuem bezeugt, unter fortgesetzt sich steigerndem barbarischem Druck vor den stets geöffneten Toren der mörderischen Gefängnisse, die Russland übersäen, unter den Galgen und vor den Flinten der Feldgerichte.

Ein solcher Wahlkampf kostet außerordentliche materielle Mittel. In Russland selbst gehören Geldsammlungen größeren Stils jetzt zur Unmöglichkeit. Die Begeisterung und Kraft und persönliche Aufopferung bringen unsere russischen Brüder in übervollem Maße mit. An materiellen Mitteln leiden sie bittere Not!

Nachdem wir Ihnen, verehrte Genossen, diese unsere Erwägungen dargelegt haben, erlauben wir uns, beim Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros die Frage anzuregen, ob es nicht angängig wäre, bei allen angegliederten sozialistischen Parteien Sammlungen für die russischen sozialistischen Parteien vorzuschlagen und zu veranstalten zum Zwecke der agitatorischen Ausnutzung der Wahl, und zwar bei der Kürze der Zeit, die für die Wahlbewegung zu Gebote steht, mit größter Beschleunigung, auf dass der günstige Moment gehörig ausgenützt werden könne. Wir sind überzeugt, dass dieser Vorschlag lebhaften Widerhall bei dem Proletariat der ganzen Welt finden wird.

1 Polska Partia. Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei). Die Red,

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