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Karl Liebknecht 19060404 Bergarbeiterleben in der Mark

Karl Liebknecht: Bergarbeiterleben in der Mark1

Zeitungsbericht über das Plädoyer

[Vorwärts, Nr. 80 vom 5. April 1906. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 166-172]

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Liebknecht, leitet seine Ausführung ein mit dem Hinweis, dass man die Situation berücksichtigen müsse, in der die zur Anklage stehenden Beleidigungen fielen. Es handelte sich um die Zeit eines Streiks, wo, wie ja auch der Staatsanwalt sagte, eine besondere Erregung herrschte.

Auch hier im Gerichtssaale seien, wie der Redner an Hand der bekannten Einzelfälle ausführt, Beleidigungen gegen ihn und den Angeklagten gebraucht worden. Wenn man das berücksichtige, werde man auch die Äußerungen Gärtners unter dem versöhnenden Gesichtspunkte der Menschlichkeit betrachten müssen und ihm nicht Ausdrücke als Beleidigung zur Last legen, die getan sind in einer erregten Situation und in einem Milieu, wo nach Ansicht des Staatsanwalts kräftige Worte, von den Grubenbeamten gebraucht, nicht als beleidigend anzusehen sind.

Der Redner geht nun auf die Einzelheiten der Anklage ein. Erwiesen sei, dass die Polizei einen legitimationslosen Mann legitimierte, damit er auf der Stadtgrube während des Streiks arbeiten könne. Die Glaubwürdigkeit der Polizeibeamten, besonders des Wachtmeisters Amm, sei entschieden in Abrede zu stellen. Wachtmeister Amm sei selbst hier im Gerichtssaale so feindselig gegen den Angeklagten aufgetreten, und die Polizeiverwaltung habe in ihrem Bericht an den Staatsanwalt eine solche Gehässigkeit gegen Gärtner bekundet, dass man die Polizeibeamten nicht als objektive Zeugen ansehen könne.

Bestimmend für das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß scheine die Beleidigung des Bergrats Netto zu sein. In dieser Hinsicht sei erwiesen, dass Beschwerden von Arbeitern über die Revierbeamten der Grubenverwaltung zugestellt und infolgedessen die Beschwerdeführer entlassen worden seien. Wenn der Angeklagte sagte, Bergrat Netto habe wohl nichts sehen wollen, so sei das eine Redewendung, die nicht wörtlich genommen werden könne. Jedoch sei in diesem Punkte erwiesen, dass der Bergrat den Tagebau nicht besichtigt habe, obgleich ihm bei seiner Anwesenheit auf der Grube Mitteilung von Missständen im Tagebau gemacht wurde.

Die festgestellte Zahl der vom Bergrat Netto vorgenommenen Revisionen könne nicht als ausreichend angesehen werden. Die Grundlage jeder wirksamen Revision müsse die unerwartete Revision sein, die das Werk in seinem normalen Zustande kennenlernt. Da aber auch die unerwarteten Revisionen vorher angezeigt wurden und anscheinend auch in bestimmten Zeitabständen vorgenommen wurden, so sei immer noch Zeit gewesen, Missstände, die in der Regel vorhanden waren, zu beseitigen. Im Ruhrrevier komme eine Revision auf 12,4 Arbeiter, im Bezirk Halle aber erst eine Revision auf 35,5 Arbeiter. Aus diesen Gründen müssten die Revisionen im Senftenberger Bezirk als ungenügend bezeichnet werden.

Dem Angeklagten werde zur Last gelegt, dass er dem Bergrat Netto den Vorwurf der Bestechlichkeit gemacht habe. – Eine Verständigung in dieser Hinsicht sei deshalb schwer, weil sich hier zwei Weltanschauungen gegenüberstehen, deren Angehörige sich sowenig verstehen wie zwei Menschen, die verschiedene Sprachen reden. Keineswegs habe der Angeklagte von einer Bestechung sprechen wollen. Die betreffende Redewendung kennzeichne nur die Macht des Kapitals und dessen wirtschaftlichen Einfluss, der ein gewisses, den Betreffenden gar nicht zum Bewusstsein kommendes Abhängigkeitsverhältnis mit sich bringe.

Der Verteidiger geht nun auf die einzelnen Redewendungen ein, welche als Beleidigungen des Inspektors Möller aufgefasst werden. Alle die Fälle, wo leicht zu gewinnende Kohle aus gefährlichen Brüchen geholt wurde, bestätigen, dass auf der Grube Antreiberei herrschte, und darauf sei es auch zurückzuführen, dass die Löhne der Stadtgrube noch verhältnismäßig günstig seien. Was in dieser Hinsicht durch die Zeugen bekundet wurde, sei eine Illustration zu dem bekannten Worte: Akkordarbeit ist Mordarbeit. Die Vernagelungen in der Grube habe der Staatsanwalt zu leicht genommen.2 Dass Vernagelungen vorgenommen wurden, sei erwiesen, und die Schlüsse, welche die Arbeiter daraus zogen, seien begreiflich.

Die Frage der Misshandlungen habe der Staatsanwalt doch zu burschikos behandelt. Demgegenüber sei darauf hinzuweisen, dass Bergrat Baselt sagte, so viele und so schwere Misshandlungen wie auf der Stadtgrube habe er auf keiner Grube kennengelernt. Es sei dem Angeklagten nicht eingefallen, für solche Leute einzutreten, die in der Trunkenheit Exzesse verübten. Außer den vom Staatsanwalt herangezogenen Misshandlungsfällen seien aber noch verschiedene andere Fälle vorgebracht worden, wo der Name des Misshandelten nicht ermittelt werden konnte und die dafür sprechen, dass Misshandlungen durch den Inspektor Möller öfter vorzukommen pflegten.

Auch mit den groben Ausdrücken und Rohheiten der Steiger habe es der Staatsanwalt zu leicht genommen. Einige Zeugen hätten in dieser Hinsicht der zutreffenden Meinung Ausdruck gegeben: Wenn mich ein Kamerad beschimpft, dann gebe ich ihm eine Schelle, aber von dem Vorgesetzten muss ich mir solche Worte gefallen lassen. Das Verhalten der Beamten der Stadtgrube zu den Arbeitern müsse entschieden verurteilt werden.

Bei der Beurteilung der ganzen Sachlage dürfe man sich nicht auf den Standpunkt stellen, dass nur soundso viele Fälle von Misshandlungen erwiesen seien. Der Angeklagte befinde sich in der ungünstigen Lage, dass er keine größere Zahl von Zeugen hierüber benennen konnte, weil es sich um eine ziemlich weit zurückliegende Zeit handelt und weil auch ein Teil der hierzu vernommenen Zeugen jetzt noch auf der Stadtgrube, teils in Vertrauensposten, beschäftigt sind und deshalb nicht recht mit der Sprache heraus wollten Immerhin sei soviel erwiesen, dass man sagen könne, die Prügeleien und Rohheiten gehörten zum System der Stadtgrube.

Der Verteidiger geht die vorliegenden Krankenstatistiken durch und führt aus, dass die Gesundheitsverhältnisse auf der Stadtgrube doch nicht so günstig seien, wie sie der Sachverständige darstellte.

Wenn man die Frage der Missstände behandelt, so dürfe man nicht sagen: Es ist ja noch nichts passiert, deshalb waren die Zustände nicht gefährlich. Der Zweck der bergpolizeilichen Vorschriften sei der, dass Zustände herbeigeführt werden, die jede Gefahr ausschließen. Man soll den Brunnen nicht erst dann zudecken, wenn jemand hineingefallen ist. Auch das große Unglück in Courrières sei ja darauf zurückzuführen, dass man den seit längerer Zeit vorhandenen Brand nicht für gefährlich hielt.3 Gewiss würde man gewisse in der Natur des Bergbaues liegende Gefahren nicht ganz beseitigen können. Aber den Gefahren vorzubeugen, das sei die Pflicht des Betriebsunternehmers, die auf der Stadtgrube nicht erfüllt worden sei.

Der Verteidiger geht die einzelnen in der Verhandlung zur Sprache gebrachten Unfälle durch und zeigt unter Berufung auf die Angaben der Zeugen, dass in allen diesen Fällen Mängel in den Betriebseinrichtungen die Ursachen der Unglücksfälle waren. Die festgestellte ungenügende Beleuchtung der Grube sei ja auch von dem Sachverständigen als „Bummelei" bezeichnet worden.

Die Maßregelungen sind als etwas besonders Bösartiges zu betrachten, denn sie sind geeignet, die Arbeiter in der Ausübung ihrer Rechte zu beschränken. Eine Verwaltung, welche Maßregelungen vornimmt, verdient die schärfste Verurteilung. Die vom Staatsanwalt vertretene Auffassung des Begriffs Maßregelung widerspricht der herrschenden Judikatur, die in Erpressungsprozessen aus Anlass gewerkschaftlicher Tätigkeit die Kündigung als ein Übel für den Arbeiter betrachtet. Nicht auf das formale Recht komme es an, sondern auf den Zweck, der mit der Kündigung erreicht werden soll. An Maßregelungen sei erwiesen, dass ein Arbeiter wegen eines Artikels in der „Bergarbeiter-Zeitung" eine schlechtere Arbeit erhielt, dass dem Vertrauensmann des Bergarbeiterverbandes bei passender Gelegenheit gekündigt und er auf die schwarze Liste gesetzt wurde.

Der Verteidiger zieht noch andere Fälle dieser Art heran und stellt dann die Ursachen des Streiks dar. Die Auffassung des Herrn Lehder, dass Gärtner die Arbeiter verhetzt und den Streik herbeigeführt habe, sei gründlich widerlegt worden. In den Akten sei ja Gärtner so gekennzeichnet worden, dass man ihn für einen besonders bösartigen Menschen halten müsse. Tatsache sei dagegen, dass Gärtner als Vertreter des Bergarbeiterverbandes erzieherisch auf die Arbeiter eingewirkt habe, und zwar mit Erfolg, er habe sich bemüht, ein friedliches Verhältnis zwischen der Betriebsleitung und den Arbeitern herzustellen. Eine Vereinbarung in diesem Sinne sei auch zustande gekommen und habe eine Zeitlang auf der Stadtgrube bestanden. Dann wurden aber die dem Arbeiterausschuss vorgetragenen Beschwerden unbeachtet gelassen, und dadurch sei das Verhältnis gestört worden …

Gärtner sei nicht der Hetzer, als den ihn die Anklage hinstellt. Er habe hingewirkt auf die Abschaffung von Missständen. Einer der größten Missstände seien die schwarzen Listen, deren Vorhandensein Direktor Lehder bekundet habe.

Wenn man frage, wer schuld sei an dem Streik, so müsse geantwortet werden: die Werksleitung und in letzter Linie Herr Möller, denn er habe durch die Entlassung des Arbeiters Kaiweit dem Fasse den Boden ausgeschlagen und dadurch unmittelbar den Streik verschuldet. Nach Ausbruch des Streiks wandten sich die Arbeiter um Vermittlung an die Bergbehörde, aber die Grubenverwaltung lehnte jede Vermittlung ab.

Die Summe der Verhandlung sei dahin zu fassen: Der Angeklagte habe wohl in einigen Punkten formell beleidigt, aber man möge nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Der Angeklagte habe aus ideellen Interessen gehandelt, er habe sich durch Bekämpfung der Schnapsseuche ein Verdienst erworben, was auch der Staatsanwalt anerkannt, aber bei seinem Strafantrage wieder vergessen habe. Manches von dem, was der Angeklagte behauptet, möge übertrieben sein, vieles aber sei erwiesen worden. Die Absicht der Beleidigung habe der Angeklagte nicht gehabt, ebenso wenig wie diejenigen, welche im Laufe dieser Verhandlungen formelle Beleidigungen begingen. Von dem, was Gärtner durch die Anklage vorgeworfen werde, sei nur wenig übriggeblieben, und für diese Fälle stehe dem Angeklagten der Schutz des Paragraphen 1954 zur Seite. Es handele sich nur um einzelne Entgleisungen, die man beurteilen müsse unter dem Gesichtspunkt der erregten Zeit, in der die Äußerungen fielen.

Dieser Prozess spiele in einer sehr ernsten Zeit. Das große Unglück in Courrières habe gezeigt, dass man den Bergarbeitern eine gewisse Bewegungsfreiheit gewähren müsse, denn sie haben ein sehr großes Interesse, Missstände zu beseitigen, die eine beständige Gefahr für Leben und Gesundheit sind.

Aus allen diesen Gründen – so schließt der Verteidiger – bitte ich, Humanität walten zu lassen und die Angeklagten milde zu verurteilen, wenn man sie überhaupt verurteilen will.

1 Im Juni/Juli 1904 streikten in Senftenberg die Bergarbeiter der Stadtgrube. Der Funktionär des Bergarbeiterverbandes Max Gärtner war ein Organisator des Streiks. Er brandmarkte in einer Streikversammlung die Streikbrechermethoden der Senftenberger Polizeiverwaltung und die Missstände in der Grube, die zum Streik geführt hatten. Vom 19. März bis 4. April 1906 standen er und der Bergarbeiter Karl Taeß aus Raunow vor der Cottbuser Strafkammer wegen öffentlicher Beleidigung der Senftenberger Polizeiverwaltung, des Bergrats Netto und des Inspektors Möller. Gärtner wurde zu sechs Monaten, Taeß zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Die Red.

2 Um Missstände und unvorschriftsmäßige Abbaumethoden bei Revisionen zu verbergen, hatte die Grubenverwaltung die entsprechenden Arbeitsabschnitte durch Bretterverschläge „vernageln" lassen.

3 Am 10. März 1906 forderte eine Kohlenstaubexplosion in Courrières (Nordfrankreich) 1200 Todesopfer.

4 „Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, ingleichen Äußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sowie Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen, dienstliche Anzeigen oder Urteile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht."

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