Karl Liebknecht: Die Leipziger Justiz auf der Anklagebank1 Aus einem Zeitungsbericht über den Prozess
[Leipziger Volkszeitung, Nr. 246 vom 23. und Nr. 248 vom 25. Oktober 1906. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 202-231] I Aus der Zeugenvernehmung Gestern früh, 9 Uhr, begann die diesjährige Herbstjustizkampagne gegen die „Leipziger Volkszeitung" vor der 4. Strafkammer. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Adam, öffentlicher Ankläger war Staatsanwalt Kunze, die Verteidigung lag in den Händen des Rechtsanwalts Genossen Liebknecht, der vor Eintritt in die Verhandlungen die ganze Kammer wegen Verdachts der Befangenheit ablehnte. Er zog jedoch diesen Antrag nach Rücksprache mit seinem Klienten zurück, als sich herausstellte, dass eine andere Kammer nicht sofort zu beschaffen sei. Darauf äußerte sich der Angeklagte zur Anklage. Vorsitzender: Sie haben schon früher gesagt, dass Sie von dem Artikel Kenntnis genommen haben und den Verfasser nicht nennen wollen. Die „Volkszeitung" erscheint täglich und in einer Auflage von 42.000 Exemplaren. Aus dem Artikel, für den Sie nach Paragraph 20 des Pressgesetzes verantwortlich sind, macht man Ihnen zum Vorwurf, dass Sie darin behaupten, der Herr Oberstaatsanwalt Böhme habe den politischen Redakteuren der „Leipziger Volkszeitung" den Vorwurf der Feigheit gemacht, und dass Sie sagen: Wir mussten deshalb Herrn Böhme öffentlich zur Ordnung rufen. Angeklagter: Der Herr Oberstaatsanwalt hat in seinen Plädoyers nicht nur in diesem Jahre, sondern auch im vorigen Jahre Ausfälle gegen die gesamte Redaktion gemacht, obwohl er sich doch sagen musste, dass er sich an den verantwortlichen Redakteur zu halten hatte. Insbesondere hat er sich in den früheren Prozessen im Januar und Februar über die gesamte Redaktion ausgelassen, damals sagte er, dass es der bekannte Sauherdenton der „Leipziger Volkszeitung" sei, der zu bestrafen sei, dass es insbesondere die Tendenz der Zeitung sei. Das wurde ausgesprochen in der Verhandlung vom 20. Januar. Später, in der Verhandlung vom 9. Februar – nicht wie es im Eröffnungsbeschluss heißt, gegen Kressin, sondern gegen Heinig –, wurde insbesondere den politischen Redakteuren der Vorwurf gemacht, sie zögen sich feige zurück, sie wären keine Freunde der Verantwortlichkeit. Diesen Vorwurf in der Öffentlichkeit zu erheben hatte Herr Böhme um so weniger Veranlassung, als gegen den verantwortlichen Redakteur verhandelt wurde, und über diesen hinaus vorzugehen hatte der Oberstaatsanwalt gar keine Veranlassung gehabt. Hier wie auch schon am 25. Februar vorigen Jahres hat er die Redakteure der „Volkszeitung" der Feigheit beschuldigt. Weil das systematisch geschah, war die „Volkszeitung" gezwungen, dagegen Verwahrung einzulegen. Den politischen Redakteuren blieb nach den Verhandlungen vom 9. Februar nichts anderes übrig, als in einer Erklärung die Angriffe des Oberstaatsanwalts zurückzuweisen. Diese Erklärung war berechtigt; das hat der Oberstaatsanwalt dadurch anerkannt, dass er darüber mit Stillschweigen hinweggegangen ist … Als erster Zeuge tritt Oberstaatsanwalt Böhme auf. Er wird vereidigt. Zeuge Böhme: In der Strafsache Heinigs wegen Anreizung zu Gewalttätigkeiten und Beleidigung der 2. Sächsischen Kammer, wo die Verhandlungen am 9. Februar stattfanden, habe ich in meinem Schlussvortrage die unter Anklage stehenden Worte allerdings gesprochen. Jawohl! Diese Worte sind von der „Volkszeitung" in der Erklärung der politischen Redakteure im Wesentlichen fast vollständig richtig wiedergegeben worden. Ich habe also da gesagt, die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" sind keine Freunde der Verantwortlichkeit, in dem Sinne: Sie sind keine Freunde davon, eine Zeitung als verantwortliche Redakteure zu zeichnen. Jawohl! Und sie halten die Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit oder des Mutes. Der Bericht der „Leipziger Volkszeitung" ist im Ganzen richtig. Es steht in dem Bericht: Es ist nicht einer gewesen, vielleicht der eine und seine Schüler. Ich habe hier die politischen Redakteure im Auge, einer ist der politische Chefredakteur, Dr. Franz Mehring, die Schüler sind die anderen politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung", Dr. Lensch und Haenisch. Jawohl! Angeklagter: Hat der Zeuge in der Verhandlung vom 24. Februar 1905 gesagt, schon die Tendenz der „Leipziger Volkszeitung" sei eine Beleidigung? Zeuge: Ich weiß nicht, ob diese Frage zur Sache gehört oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich das gerade in diesem Prozess gesagt habe. Angeklagter: Dann hat der Herr Oberstaatsanwalt gesagt: Der Angeklagte ist zum Sitzen geradezu angenommen, er ist Sitzredakteur. Da möchte ich die Frage stellen, woher er seine Kenntnis hat und wie er dazu gekommen ist? Vorsitzender: Diese Frage ist ganz unerheblich. Das ist vor dem 9. Februar 1906 gefallen und hat also mit diesem Falle überhaupt nichts zu tun. Angeklagter: Die Bezeichnung Sitzredakteur ist eine schwere Beleidigung, sie ist in herabsetzender Weise erfolgt, und ich wollte feststellen lassen, woher der Herr Oberstaatsanwalt diese Kenntnis hat. Vorsitzender: Ja, dass man in der Sozialdemokratischen Partei von Sitzredakteuren sehr wohl reden kann, das ist klar. Angeklagter: Ich bestreite das. Vorsitzender: Na, bestreiten Sie's! Liebknecht: Sie sagten, Herr Zeuge, dass Sie die Ehre allgemein verteidigen, gleichgültig, ob es sich um Sozialdemokraten handelt oder nicht. Machen Sie da keinen Unterschied? Staatsanwalt Kunze (aufspringend): Das ist eine Beleidigung! Liebknecht: Dann will ich auf Einzelheiten eingehen. Ich will fragen: Erheben Sie auch dann Anklagen im öffentlichen Interesse, wenn es gilt, die Ehre von Sozialdemokraten zu schützen? Zeuge: Diese Frage halte ich nicht für zur Sache gehörig und für ungerecht. Sie betrifft übrigens den inneren Dienst, und zu diesem Punkte hat das Ministerium nicht die Erlaubnis gegeben, mich auszusprechen. Jawohl! Aber es ist selbstverständlich, dass, wenn ich im öffentlichen Interesse eine Anklage erhebe, ich auch nach meinem besten Wissen und Gewissen dieses öffentliche Interesse für gegeben erachte. Ganz gewiss! Jawohl! Liebknecht: Der Oberstaatsanwalt hat gesagt, dass er die Ehre allgemein einschätze, er hat aber keineswegs in einer speziellen Wendung gesagt, dass er bei Sozialdemokraten anders verfahre, sondern es sei seine allgemeine Auffassung, die er bei jeder Gelegenheit vertreten habe. Ich bin bereit zu beweisen, und zwar im Gegensatz zu der beschworenen Aussage des Zeugen, dass er bei Beleidigungen von Nichtsozialdemokraten, ausgesprochen von Sozialdemokraten, ein öffentliches Interesse für vorliegend erachtet, im umgekehrten Falle aber nicht. Vorsitzender: Wir werden uns erst darüber schlüssig machen, ob wir diese Frage zulassen. Liebknecht: Es ist mir ein Fall bekannt, dass Herr Oberstaatsanwalt Böhme eine haltlose öffentliche Anklage gegen einen Arbeiter veranlasste, dann aber, nachdem sie sich als völlig unbegründet herausgestellt hatte und als es sich umgekehrt darum handelte, diesen Arbeiter gegen ganz gröbliche Beleidigungen, ausgesprochen durch einen Nichtsozialdemokraten, zu schützen, das öffentliche Interesse verneinte! Staatsanwalt Kunze bittet dringend, diese Frage nicht zuzulassen. Liebknecht: Der Wahrheitsbeweis wird beschränkt, wenn diese Frage abgeschnitten wird. Es gehört unbedingt zur Sache, festzustellen, inwieweit der Leipziger Oberstaatsanwalt imstande ist, die Objektivität bei dem wesentlichsten Teil seiner Funktionen, bei der Anklageerhebung, zu wahren. Wir bestreiten seine Objektivität und glauben, den Mangel an Objektivität schlagend nachweisen zu können! Also, ich beantrage, an den Herrn Oberstaatsanwalt die Frage zu richten, ob es im Allgemeinen richtig sei, dass er bei Erhebung von Anklagen, betreffend Beleidigungen gegen Sozialdemokraten, ausgesprochen von Nichtsozialdemokraten, in Bezug auf die Annahme des öffentlichen Interesses genau ebenso verfährt wie bei Beleidigungen von Nichtsozialdemokraten, ausgesprochen von Sozialdemokraten; ob es insbesondere nicht zutreffend ist, dass er in der Regel bei Beleidigungen gegenüber Sozialdemokraten die Erhebung der öffentlichen Anklage ablehnt, während er bei Beleidigungen, die von Sozialdemokraten ausgesprochen worden sind, grundsätzlich geneigt ist, öffentliche Anklage zu erheben. Auch insbesondere, ob der Staatsanwalt danach seine, unter dem Zeugeneid gegebene Behauptung aufrechterhalten kann, dass er die Ehre der Sozialdemokraten in gleicher Weise schütze wie die der Nichtsozialdemokraten Zeuge: Ich betone, das Wort „unter dem Zeugeneid" klingt gerade so, als ob er mich an meine Eidespflicht zu erinnern hätte. Das klingt, als ob er eine Befugnis dazu hätte, mich auf die Wichtigkeit des Eides aufmerksam zu machen. Liebknecht: Ich glaube, dass der Zeuge gar keine Befugnis hat, in seiner Eigenschaft als Zeuge das zu sagen. Im Übrigen wollte ich nur feststellen, dass ich dadurch keinen Zweifel aussprechen wollte. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung über den Antrag des Verteidigers zurück. Nach der Pause bemerkte der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat den Antrag abgelehnt, weil die unter Beweis gestellte Tatsache weder mittelbar noch unmittelbar hiermit zusammenhängt und für die zur Sache stehende Entscheidung unerheblich ist. Liebknecht: Herr Oberstaatsanwalt Böhme hat bereits die Güte gehabt zu bemerken, dass der Bericht vom 10. Februar in der „Volkszeitung" richtig sei. Es liegt mir nun daran, dass Sie mir dieses bestätigen in Bezug auf verschiedene Stellen dieses Berichtes. Haben Sie in Ihrem Plädoyer gesagt, der Angeklagte habe „hämische Beleidigungen des Beamten" ausgesprochen? Zeuge: Das sind hämische Beleidigungen eines Beamten, der nur seine Pflicht getan hat, und ich hatte die Beleidigungen erwähnt, Ausdrücke wie „böhmische Dörfer" usw. Es waren noch andere dabei, da habe ich gesagt: „Hämische Beleidigungen eines Beamten!" Das sind sie, das wiederhole ich jetzt, jawohl! Nach meiner Überzeugung, nach meinem Gewissen! Liebknecht: Haben Sie weiter den Satz gebraucht: Ich habe nicht nötig, die Tendenz der „Volkszeitung", die Gesinnung ihrer Führer anzuführen; die Gesinnungen sprechen für sich selbst? Zeuge: Ich gehe das zu. Ich kann auch von revolutionären Gesinnungen gesprochen haben. Liebknecht: Haben Sie weiter gesagt: Die Beleidigungen seien geäußert mit beispielloser Dreistigkeit? Zeuge: Es kommt auf den Zusammenhang an. Es waren bekanntlich die schweren Beleidigungen gegen die Ständekammer, diese charakterisierte ich bei der Strafzumessung, und da hob ich das alles hervor, was für eine hohe Strafe spricht. Jawohl! Liebknecht: Haben Sei weiter gesagt: Männer anderer politischer Auffassung sind durch unglaublich rohe Beschimpfungen verunglimpft worden? Zeuge: Das ist meine Meinung. Liebknecht: Haben Sie weiter gesagt: Ich erwarte deshalb und beantrage eine schwere Gefängnisstrafe, denn nur eine solche kann bewirken, dass der „Volkszeitung" ihr Schimpf- und Hetzhandwerk gelegt wird? Zeuge: Wörtlich habe ich das gesagt! Gewiss! Ich habe gesagt: Sie werden hoch greifen müssen, wenn Sie diese Beleidigungen sühnen wollen. Liebknecht: Am 31. Mai haben Sie eine Ausführung gemacht, die denselben Charakter trägt wie der speziell hier inkriminierte Passus. Sie sollen da gesagt haben: Ich habe den Redakteuren der „Volkszeitung" Gelegenheit gegeben, sich zu äußern. Der Außenredakteur hat es abgelehnt. Ich war den Redakteuren entgegengekommen, aber sie sind nicht darauf eingegangen. Nun muss wieder einer die Verantwortung tragen, die anderen weigern sich. Zeuge: Ich habe kein Wort dazu zu bemerken. Das war in der Verhandlung gegen Kressin. Der Mann kam in eine Ordnungsstrafe. Es wurde Beschwerde beim Oberlandesgericht und beim Justizminister erhoben, sie sind aber verworfen worden. Die„Volkszeitung" hat gesagt, sie würde das Resultat mitteilen, bis jetzt ist das aber nicht geschehen. Liebknecht: Haben Sie die Erklärung der drei Redakteure Dr. Mehring, Dr. Lensch und Haenisch am 12. Februar zur Kenntnis genommen? Zeuge: Sicher! Das sind alles Fragen, auf die ich zurückgekommen wäre in meinen Ausführungen, und da wäre es gut, wenn der Vorsitzende mir das Wort geben wollte, damit ich darüber sprechen kann. Vorsitzender: Wir legen auf das, was jetzt die Verteidigung vorbringt, wahrscheinlich sehr wenig Wert. Ich will die Erklärung aber hier verlesen, sie lautet: In dem Prozesse gegen unseren Kollegen Heinig hat der Oberstaatsanwalt Böhme sich in seiner Anklagerede folgende Äußerungen über die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" erlaubt: „Die politischen Redakteure der ,Leipziger Volkszeitung' sind keine Freunde der Verantwortlichkeit, sonst würden sie hergekommen sein und gesagt haben: Ja, wir haben es geschrieben, wir finden nichts darin und tragen die Verantwortung. Also die politischen Redakteure der ,Leipziger Volkszeitung' lieben nicht die Verantwortung. Möglicherweise ist ihnen ihre Persönlichkeit zu lieb, und sie halten die Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit." Die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung", die seit. Jahren und zum Teil seit Jahrzehnten im politischen Kampfe gestanden haben, auch mit den Kautschukparagraphen des deutschen Strafgesetzbuches und nicht zuletzt mit ihnen, müssten es an und für sich ablehnen, über Vorsicht und Tapferkeit mit einem Manne zu streiten, der seine tapferen Angriffe gegen die Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung seit Jahrzehnten nur in der sicheren Position eines sächsischen Staatsanwalts unternommen hat. Da jedoch die Ausfälle des Oberstaatsanwalts Böhme gegen die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" den Vorsitzenden des Gerichtshofes nicht veranlasst haben, ausdrücklich die Tatsache festzustellen, dass die Verantwortlichkeit der „Leipziger Volkszeitung" nach allen gesetzlichen Vorschriften vollkommen gedeckt war, so müssen wir diese Feststellung vollziehen, in der gewiss staatserhaltenden Absicht, eine klare Grenze zwischen Rechtspflege und Pasquillantenfreiheit zu schaffen. Wir weisen deshalb die gegen uns gerichteten Ausfälle des Oberstaatsanwalts Böhme als leichtfertige Verdächtigungen zurück, zu denen ihrem Urheber sowohl jede formale Befugnis wie jeder tatsächliche Anhalt fehlte. Die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung": Franz Mehring, Paul Lensch, Konrad Haenisch. Liebknecht: Haben Sie diese Erklärung gelesen und etwas daraufhin veranlasst? Zeuge: Diese Beleidigung und diese Erklärung – denn es ist auch wieder eine von den vielen Beleidigungen der „Leipziger Volkszeitung" – gegen mich habe ich sofort gelesen, denn ich lese amtlich die „Volkszeitung" tagtäglich, das gehört zur Amtspflicht. Jawohl! Eine Beleidigung in Beziehung auf den Beruf! Wir Beamten, insbesondere die staatsanwaltschaftlichen Beamten, wir haben die Übung, in eigener Sache keine Strafanträge zu stellen. Von meiner vorgesetzten Behörde ist ein Strafantrag nicht gestellt worden, und ich bin auch kein Freund von Strafanträgen; sonst wäre das nicht der erste gewesen, den ich zu stellen gehabt hätte. Seit Jahren werde ich in hämischer Weise von der „Leipziger Volkszeitung" beschimpft. Jawohl! Ich habe also keinen Strafantrag gestellt. Aber wenn in den späteren Artikeln, insbesondere in der Erklärung „In eigener Sache" gesagt wird, dass ich das ruhig hingenommen habe, dass ich das habe auf mir sitzen lassen, so protestiere ich gegen die Auffassung, dass die Erklärung deshalb richtig sei, weil ich keinen Strafantrag gestellt habe. Ich habe es für unnötig gehalten, auf solche Angriffe etwas zu sagen. Liebknecht: Haben Sie die Erklärung gelesen, die Dr. Franz Mehring unter dem 23. Juni im „Vorwärts" veröffentlicht hat gegenüber Ihren Auslassungen in der Sitzung vom 31. Mai. Haben Sie davon Kenntnis genommen? Zeuge.- Den „Vorwärts" lese ich nicht. Liebknecht: Der Herr Vorsitzende hat vorhin gesagt, dass auf meine Ausführungen wahrscheinlich wenig Wert gelegt werden wird. Ich bedaure sehr, dass eine solche Meinung hier geäußert worden ist. Vorsitzender: Ich habe ja Ihre Ausführungen zugelassen. Liebknecht: Ich will auch jetzt keine Konsequenzen daraus ziehen. Herr Oberstaatsanwalt, Sie haben gemeint, Sie hätten die Wendung, dass die Redakteure keine Freunde der Verantwortung seien, in dem Sinne gemeint: Sie seien keine Freunde davon, eine Zeitung verantwortlich zu zeichnen? Zeuge: Außer dem verantwortlichen Redakteur ist doch jeder noch haftbar, der einen Artikel verfasst!! Liebknecht: Das wollte ich hören. Staatsanwalt: Der Verteidiger legt großes Gewicht darauf, dass Herr Oberstaatsanwalt Böhme gesagt habe, dass Sitzredakteure existieren. Ich frage ihn, ob er nicht weiß, dass die eignen Zeitungen der Sozialdemokratischen Partei, insbesondere die Mannheimer „Volksstimme", das Verfahren der „Leipziger Volkszeitung" gemissbilligt haben. Auch die „Sächsische Arbeiter-Zeitung" hat sich darüber ausgelassen. Ich möchte auch bitten, einen Artikel des „Correspondenten" zur Verlesung zu bringen, also eines Blattes, das dieselbe Tendenz verfolgt wie die „Leipziger Volkszeitung" (er hält eine Nummer des „Correspondenten" triumphierend in die Höhe). Zeuge: Auf diesen Punkt wäre ich auch gekommen. Von den Blättern der Ordnungsbande, wie die „Leipziger Volkszeitung" das genannt hat, will ich gar nicht reden. Aber auch im eignen Lager ist man nicht damit einverstanden gewesen, und da berufe ich mich besonders auf die Mannheimer „Volksstimme". Außerdem aber auch noch auf Stimmen von gewerkschaftlicher Seite. Aus dem Lager der Gewerkschaftspresse. Liebknecht: Ist Ihnen bekannt, dass dieser Artikel der Mannheimer „Volksstimme" die Äußerung eines einzigen Organs ist, das energisch von der gesamten Presse der Partei zurückgewiesen worden ist? Zeuge: Das habe ich nicht verfolgt. Angeklagter: Ich wollte den Herrn Zeugen fragen, ob er nicht bereits in seiner vorigen Stelle in Chemnitz Parteigenossen, beispielsweise den verstorbenen Reichstagsabgeordneten Albert Schmidt, als gewerbsmäßige Verleumder hingestellt hat und gemeint hat, die Sozialdemokraten seien gewerbsmäßige Verleumder? Vorsitzender: Wir werden den Antrag protokollieren. Liebknecht: Wenn ich nachweise, dass der Zeuge schon 1903 die Sozialdemokratie verunglimpft hat, so gehört das ebenso zur Sache, als wenn ein Staatsanwalt nachweist, dass einer, der wegen hundertmaligem Diebstahl angeklagt ist, schon tausendmal gestohlen hat. Der Staatsanwalt beantragt Ablehnung der Frage. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und verkündet nach seinem Wiedererscheinen, dass der Antrag abgelehnt sei, weil er unerheblich für die Straffrage sei. Staatsanwalt: Ich möchte Sie auf die Artikel des „Correspondenten" und der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung" aufmerksam machen, die sich in ähnlichem Sinne ausgelassen haben wie die Mannheimer „Volksstimme"2 Liebknecht: Der „Correspondent" ist ein Blatt, das mit der „Volkszeitung" in allerschlimmster Fehde liegt. Das dürfte der Staatsanwalt wohl wissen! Zeuge Böhme macht ein langes Gerede über seine Stilstudien, die er an den Leitartikeln der „Leipziger Volkszeitung" jahrelang gemacht habe. Die drei politischen Redakteure schriftstellern, sagt er, sie werden also den Ton und die Tendenz des Blattes bestimmen. Ihre Arbeit besteht im Leitartikelschreiben. Dann ist mir ja infolge des fortgesetzten Studiums der Zeitung der Stil der „Leipziger Volkszeitung" bekannt, man hat sich ein Urteil gebildet, ob es ein Mehringscher Artikel sei!3 Er wird dabei aber vom Vorsitzenden unterbrochen, der ihm begreiflich macht, dass er genug geredet habe. Damit ist die Vernehmung Böhmes beendet. Auf die Vernehmung des Landgerichtsdirektors Maukisch wird verzichtet. II Plädoyer Der Herr Staatsanwalt ist sehr nachdrücklich auf allgemeine Angelegenheiten vor dem 9. Februar 1906 eingegangen und hat seine Ausführungen auf die Tendenz der „Leipziger Volkszeitung" zugespitzt. Ich habe alle Veranlassung, einer derartigen Beurteilung der Sache entgegenzutreten, und ich bin wohl berechtigt, zu wünschen und zu verlangen, dass die Sache ruhig und objektiv erledigt wird. Über eines ist wohl Klarheit: Jener Artikel, ausdrücklich als eine Abwehr gedacht, hat den Charakter einer Erwiderung auf vermeintliche oder wirkliche Beleidigungen, die der Zeitung, beziehungsweise ihren Redakteuren zuteil geworden sind von den einzelnen, in dem Artikel bezeichneten Personen. Wenn das zutreffend ist, dann steht ohne weiteres auch der Paragraph 1934 außer Zweifel. Dass bei Angriffen gegenüber der Öffentlichkeit, die auch in der Presse aller Parteien gestanden haben, der Schutz des Paragraphen 193 einzutreten hat, kann nach der Judikatur des Reichsgerichts keinem Zweifel unterliegen, und ich glaube fest, dass auch die Staatsanwaltschaft dieser Auffassung huldigt. Es ist im Einzelnen zu prüfen, ob der Artikel richtig ist, schon wegen der Möglichkeit, aus einer formellen Wendung die Absicht der Beleidigung zu ersehen. Herr Böhme ist ein Vertreter der Behörde, die man in Berlin vor kurzem als die objektivste Behörde bezeichnet hat. Es ist allerdings von Objektivität in seinem Auftreten anscheinend nirgends die Rede. Böhme hat am 9. Februar in seinem Plädoyer gegenüber dem Angeklagten Ausdrücke gebraucht wie „hämische Beleidigungen", „beispiellose Dreistigkeit", „unglaublich rohe Beschimpfungen", er hat von einem „Schimpf- und Hetzhandwerk" gesprochen, kurzum, er hat Ausdrücke gebraucht, die man als sehr kräftig zu bezeichnen pflegt. Es ist daraus ohne Weiteres ersichtlich, dass wir es in Böhme mit einem Herrn zu tun haben, der in temperamentvoller und subjektiver Weise seines Amtes waltet. Solche Ausdrücke pflegt man nicht zu gebrauchen – weder privatim noch amtlich –, und wenn solche Ausdrücke von ihm hier zeugeneidlich bestätigt werden und man ihm das Bedauern vom Gesicht abliest, nicht noch kräftigere Ausdrücke gebraucht zu haben, dann geht daraus hervor, dass es sich um eine eigentümliche Form der Ausübung von Amtspflichten handelt. Dann ist in einem besonderen Falle durch Dr. Hüblers Zeugnis erwiesen, dass Böhme auch die Gleichheit vor dem Gesetz eigentümlich beurteilt. Er hat ja nur anzuklagen, aber gerade für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft gilt es – weil sie in der Öffentlichkeit liegt und somit nicht dem privaten Interesse dienen soll –, dass sie verpflichtet ist, objektiv zu verfahren. Für den Staatsanwalt gilt, dass er den vor die Schranken zieht, der vor den Richterstuhl gehört, und nicht Unterschiede macht, die sich aus seiner persönlichen politischen Stellung ergeben. Böhme hat nicht in Abrede stellen können, dass er in dem einen Falle eine Anklage sofort und ohne jede eingehende Prüfung gegen einen Sozialdemokraten erhob und dass er, der Oberstaatsanwalt – als diese ins Wasser gefallen und Strafantrag gestellt worden war wegen einer recht kräftigen formellen Beleidigung des Anzeigenden –, einfach die Erhebung der Anklage ablehnte, weil kein öffentliches Interesse vorläge. Ich habe den Zeugen in dieser Richtung fragen wollen. Die Frage ist mir abgeschnitten worden. Ich hätte sonst den Beweis liefern können, dass es sich hierbei um einen Grundsatz des Herrn Böhme handelt, nicht um einen einzelnen Fall. Dann würde sich die grundsätzliche Anwendung von zweierlei Maß gegenüber den politischen Parteien ergeben. Nun hat der Oberstaatsanwalt gesagt: Wer die andern Redakteure sind, wissen wir nicht, das können wir nur vermuten. Und nun kommen die Wendungen, die hier speziell zur Anklage stehen. Ich stehe auf dem Standpunkte, dass das, was Böhme hier beständig gesagt hat, sich durchaus deckt mit dem, was auch im Eröffnungsbeschluss von dem Angeklagten in Bezug auf Böhme behauptet worden ist: Er habe in einer Verhandlung ohne den Schein einer Berechtigung den Redakteuren den schmachvollen Vorwurf der Feigheit gemacht, so dass er öffentlich habe zur Ordnung gerufen werden müssen. Nun kann man die deutsche Sprache in der Tat so gewaltsam verrenken, dass man in diese Formulierung den Sinn hineinbringen kann, den die Anklage unterstellt. Aber ich bin der Meinung, dass es sich in der Tat um eine gewaltsame Verrenkung handelt. Es liegt näher, das Wort so aufzufassen: schmachbringend, verletztend für den, gegen den der Vorwurf erhoben wird. Es ist nun die Frage, ob die von Böhme gebrauchten Worte inhaltlich gleich sind dem Vorwurf der Feigheit. Ich meine, das ist nicht zu bestreiten. Er hat gemeint: Man kann sagen, die politischen Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" sind keine Freunde der Verantwortlichkeit. Was heißt das? Böhme hat es zu erklären gesucht: Sie sind keine Freunde davon, verantwortlich zu zeichnen. Aber das ist wohl nicht ganz ernst zu nehmen, das ist wohl ein Gedächtnisirrtum des Herrn Böhme. Er sagte; Sonst wären sie hierher gekommen und hätten gesagt, wir haben es geschrieben. Er meint es also in dem Sinne der Nennung des Verfassers des Artikels, trotz Vorhandenseins eines verantwortlichen Redakteurs, und er macht damit den Redakteuren den Vorwurf, sie versteckten sich hinter dem verantwortlichen Redakteur. Er macht ihnen diesen Vorwurf nicht vorsichtig und objektiv zurückhaltend, wie man das von der Staatsanwaltschaft verlangen muss, sondern er hat ihn polemisch zugespitzt, indem er noch die Schlusswendung anknüpft, die auch nicht gerade eine normale äußere Form erkennen lässt. Er sagt: Aber die politischen Redakteure lieben nicht die Verantwortung; möglicherweise ist ihnen ihre Person zu lieb, und sie halten die Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit. Das ist nichts weiter als eine sprichwörtliche Wendung für das, was wir Feigheit nennen. Darüber kann kein Streit bestehen. Wer die deutsche Sprache kennt, der weiß, was das bedeutet. Genauso gut hätte er sagen können: Wenn hier steht, sie hätten das Hasenpanier ergriffen, so ist das noch kein Vorwurf der Feigheit. Nun liegt in diesem Vorwurf der Feigheit, der tatsächlich vorhanden ist, etwas so Beleidigendes, dass es unnötig ist, etwas Näheres darüber zu sagen. Haenisch hat sich darüber gründlich ausgesprochen, und ich denke, die Legende wird nunmehr aufhören, dass es bei der „Leipziger Volkszeitung" Strohmänner, Sitzredakteure, handwerksmäßige Schreiber oder Redakteure gäbe, die nicht einmal schreiben könnten. Damit ist bewiesen, dass dieser Vorwurf durchaus unbegründet ist, und damit ist ebenfalls bewiesen, dass die „Volkszeitung" alle Veranlassung hatte, über diesen Vorwurf in Harnisch zu geraten. Über gewisse Sachen, die sich auf dem Gebiete der Beleidigung abspielen, denkt man kühl, über andre Sachen denkt man nicht kühl. Worüber man kühl denkt, das mag verschieden sein. Liman5 denkt in dieser Richtung vielleicht anders als die Angeklagten. Die Angeklagten halten vielleicht nicht soviel davon, ob einer einmal ein kräftiges Wort gebraucht, wie ja auch der Oberstaatsanwalt. Böhme in dieser Beziehung nicht so ängstlich ist. Aber die „Leipziger Volkszeitung" hat ein ganz besonders feines Ehrgefühl, soweit es sich darum handelt, den Charakter und die Ehre des einzelnen Redakteurs als eines Kämpfers einer bestimmten Partei zu schützen. Und wenn einem Kämpfer einer Partei der Vorwurf der Feigheit gemacht wird, so ist das für einen solchen Kämpfer ein geradezu durch nichts zu übertreffender schwerer Vorwurf, ebenso schwer, wie für den Soldaten, wenn ihm im Kriege Feigheit vorgeworfen wird. Dass man ein feiger Kerl sei, ist die ärgste Lumperei, die man sich im politischen Kampfe sagen lassen darf. Und speziell in der Sozialdemokratie wird ein Rechnungsträger in der Tat nicht geduldet, und dass die Zeitung bei einem solchen Vorwurf eine Abwehr eintreten lassen kann, ist selbstverständlich. Das ist nun in dreifacher Weise geschehen. Zunächst einmal hat die „Leipziger Volkszeitung" in der Nummer vom 12. Februar eine Erklärung abgegeben, gezeichnet von Mehring, Lensch, Haenisch, wo sich also die Personen offen nennen, die sich angeblich feig verstecken, und in ihr ist die Äußerung wiederholt, die hier zur Anklage steht. Dem Staatsanwalt Böhme wird, nachdem die Äußerung sachlich zurückgewiesen war, der Vorwurf gemacht, dass er sich leichtfertige Verdächtigungen habe zuschulden kommen lassen, wozu ihm jede Veranlassung fehlte. Daraufhin hat Böhme nichts veranlasst. Er hat diese Geschichte auf sich beruhen lassen. Die Motive, die er dafür angibt, haben mich nicht überzeugt. Er hat die Anklageerhebung nicht veranlasst, weil er durchaus erkannt hat, dass er hier über die Grenzen seiner Amtsbefugnisse hinausgegangen ist. Es ist dann von Böhme ein ganz ähnlicher Vorwurf in einer späteren Verhandlung erhoben worden, und auch dieser hat zu einer Erklärung Mehrings in Nummer 144 des „Vorwärts" geführt. Diese hat der Oberstaatsanwalt nach seiner eidlichen Aussage nicht kennengelernt. Die Erklärung enthält gleichfalls einen so heftigen Angriff gegen Böhme – unter Mehrings voller Zeichnung –, dass daraus ganz klar hervorgeht, dass der sachliche Vorwurf der Feigheit sehr ernst aufgefasst worden ist, während die persönlichen Schimpfereien ja im Allgemeinen als minder wichtig betrachtet zu werden pflegen. Damit ist auf das Klarste dargetan, dass alles dasjenige, was in dem fraglichen Artikel inkriminiert ist, auf Tatsachen beruht. In Bezug auf den Oberstaatsanwalt Böhme kann die Frage des Wahrheitsbeweises glatt bejaht werden. Nun der Fall des Assessors Lange, der ja auch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft ist. Ihm wird vorgeworfen, er habe die gesamte Redaktion der „Leipziger Volkszeitung" mit ebenso nichtsnutzigen wie haltlosen Beschimpfungen beleidigt. Lange hat selbst erklärt, dass er seine Äußerungen in einer schroffen und scharfen Weise gemacht habe, er hat zugegeben, dass er das schon häufig getan habe, wo er die Tendenz der Zeitung in den Vordergrund hat treten lassen. Nun meine ich, dass die Wendungen, die er hier hat zugeben müssen, allerdings als äußerst schroff und beleidigend angesehen werden können. Nicht etwa, weil man hier gesagt hat, eine unterminierende Kleinarbeit liege vor, alles werde zur Agitation ausgenützt; nicht etwa, weil die Rede davon ist, die „Leipziger Volkszeitung" sei sozialdemokratisch und pflege deshalb als sozialdemokratische Zeitung jeden geeigneten Stoff auszunützen; sondern weil hier in ganz unzweideutiger Weise der Vorwurf der Fälschung gemacht worden ist. Man muss nur verstehen, so gut zwischen diesen Zeilen des Staatsanwaltes zu lesen wie die Staatsanwaltschaft zwischen den Zeilen der sozialdemokratischen Redakteure. Hier ist gesagt, dass die „Leipziger Volkszeitung" einen an und für sich ganz einfachen Vorgang aufgebauscht und in gehässiger Weise zugespitzt habe. Wenn ein einfacher Vorgang in dieser Weise aufgebauscht und verändert wird, ist das eine Tatsachenfälschung. Die „Leipziger Volkszeitung" hat alle Veranlassung, eine solche Behauptung zurückzuweisen, und Lange hat keinen Versuch gemacht, einen Beweis für das von ihm Gesagte zu liefern. Dass unter solchen Umständen ein derartiger Vorwurf auf eine besondere Empfindlichkeit stößt, liegt auf der Hand. Man hat dann nicht mehr das Gefühl, einer Staatsbehörde, sondern einem Feinde gegenüber zu stehen, der einen rücksichtslos an den Boden zu bringen versucht. Nun ist dem Assessor Lange gegenüber die Wendung gebraucht worden, dass der Ton bei ihm charakteristisch sei, er habe die Eigentümlichkeit, die Angeklagten so gewissermaßen durch die Zähne zu ziehen, und wenn er den Angeklagten damals durch die Zähne gezogen hat bei dem Vorwurfe des gehässigen Besprechens einfacher Vorwürfe, kann ich mir wohl vorstellen, dass man meint, dass hier ein recht bösartiger Vorwurf erhoben wird, den die „Leipziger Volkszeitung" zurückzuweisen verpflichtet war. Und das hat sie getan. Ja, diese Beschimpfungen sind in der Tat doch wohl haltlos, auch darum, weil der Staatsanwalt die „Tendenz" herein gezogen und von gehässigem Aufbauschen der Vorgänge gesprochen hat und weil er den Leserkreis der Zeitung gehässig herabgesetzt hat, ohne dass dies Gegenstand der Verhandlung war. Ich weiß ja, dass überall, wenn man von der „Leipziger Volkszeitung" spricht, jeder bereit ist, sofort einen Vortrag zu halten, und man ist sich darüber einig, über Franz Mehring einen Schimpf-Vortrag zu halten, und meistens sind es Leute, die die „Leipziger Volkszeitung" überhaupt gar nicht kennen. Böhme hat ja die, wie ich begreife, für ihn sehr unangenehme Pflicht, sie zu lesen; aber die anderen Herren lesen sie wohl nicht, sie lesen sie höchstens nur gelegentlich. Aber um die „Leipziger Volkszeitung" würdigen zu können, dazu muss man sie gründlich kennen; mit so allgemeinen Redewendungen, wie der Staatsanwalt Kunze sie gebraucht hat, kann man da nicht kommen. Bei Beginn der Verhandlungen war es absolut gerichtsnotorisch, dass in der „Leipziger Volkszeitung" Strohmänner zu zeichnen pflegen. Das haben der Staatsanwalt und der Vorsitzende jedenfalls für gerichtsnotorisch gehalten, und es ist nicht ein Prozessbeteiligter hier, außer dem Angeklagten und dem Verteidiger, der nicht sofort bereit gewesen wäre, dies als gerichtsnotorisch in das Urteil zu schreiben. Und das ist alles in die Luft geflogen. So steht es mit diesen gerichtsnotorischen Auffassungen ganz allgemein. Gelegentlich enthält die „Leipziger Volkszeitung" allerdings scharfe Artikel, das ist richtig. Aber ihr sonstiger, absolut sachlicher Teil, der doch 99 Hundertstel des ganzen Inhalts in Anspruch nimmt, ihre glänzenden theoretischen Artikel werden dabei ganz vergessen. Eine solche Haltung lässt das Maß von Objektivität vermissen, das man sogar von der Staatsanwaltschaft erwarten sollte. Also, es ist hier ein Vorwurf gemacht worden, der als haltlos bezeichnet wird und der so lange so bezeichnet werden darf, solange man nicht in der Lage ist, ihn nachzuweisen, und wenn das als „nichtsnutzig" bezeichnet worden ist, so ist das etwas gröblich, aber es fragt sich, ob das Wort hier nicht verzeihlich und verständlich ist und ob in diesem Worte die Absicht der Beleidigung liegt. Weiter kommt dann der Amtsrichter Hänel in Frage. Dieser ist in der heutigen Verhandlung sicherlich nicht gut weggekommen. Er hat sich ja allerdings einer Sachlage gegenüber befunden, die für ihn günstiger ist als die Sachlage Böhmes. Es handelt sich um eine Äußerung, über „wüste und rohe Beschimpfungen", die er gemacht haben soll. Nun, es fragt sich, ob diese Äußerung tatsächlich gefallen ist. Der Zeuge Hänel selbst hat sie in Abrede gestellt, er hat gesagt, er sei sehr vorsichtig gewesen. Aber es handelt sich nicht um die Verkündung des Beschlusses, sondern des Urteils. Das geht aus der Notiz der „Leipziger Neuesten Nachrichten" hervor. Dort ist ausdrücklich von Urteilsgründen die Rede, und am Schlusse ist nochmals gesagt, was ungefähr der Wortlaut des Urteils ist. Also, deshalb ist das, was der Zeuge gesagt hat, nicht beweiskräftig. Die übrigen Zeugen, die vernommen worden sind, soweit sie in Frage kommen, Dr. Hübler und Kressin, haben nichts gewusst. Sie haben nur noch gewusst, dass ein außerordentlich heftiger Angriff gegen die „Leipziger Volkszeitung" erhoben worden ist. Aber Dr. Liman hat hier doch eine Bekundung gemacht, die nicht von der Hand zu weisen ist. Der Staatsanwalt legt so viel Gewicht auf Dr. Liman. Er hat mit großer Genugtuung darauf hingewiesen, dass Liman dem Amtsrichter Hänel ein Attest ausgestellt habe, das ausgezeichnet sei. Ich überlasse es dem Staatsanwalt, sich mit Hänel darüber auseinanderzusetzen, ob dieser damit zufrieden ist, dass Liman ihn heraus hauen soll. Aber Liman hat am Tage des Prozesses dieses Wort hineingebracht und wenn nicht hineingebracht, so doch mit vollem Wissen und Gewissen gutgeheißen, und er hat diese Worte in Anführungszeichen gesetzt. Er hat doppelt soviel gesagt, wie man zu sagen pflegt, um etwas als ganz sicher zu bezeichnen. Heute hat er freilich angefangen, zurückzuziehen. Er hat gesagt, von heute nach rückwärts bestimmte Erinnerungen nicht mehr zu haben. Daraus mag man entnehmen, dass man aus seiner Äußerung nichts Bestimmtes feststellen kann. Aber was soll ich zu den „Leipziger Neuesten Nachrichten" sagen, wenn sie den Bericht in dieser Form gebracht haben und später zurückgehen und sagen, dass man keine Garantie für den Wortlaut übernehmen könne! Dann bleibt nur die Alternative übrig: Entweder muss jedes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Zeitung erschüttert werden, oder aber, es hat seine Richtigkeit mit dem Bericht! Hier ist das Siegel Daniels zweimal darauf geklebt. In seinem Artikel hat Liman die Äußerungen: „wüst" und „roh" als „Worte des Urteils" bezeichnet und sie dann noch in Gänsefüßchen gesetzt. Und nun sagt Dr. Liman doch: Das kann auch falsch sein!!!! Ja, was soll man dann von der Zeitung noch glauben? Die Erklärung Mehrings, er bezweifle, dass die Äußerungen gefallen sind, ist nicht in dem Sinne einer bestimmten Ablehnung der Richtigkeit, sondern in dem Sinne des Für-Unmöglich-Erklärens aufzufassen, wie man Sachen für unmöglich zu erklären pflegt, wenn sie einem nicht in den Kopf kommen, obwohl man doch weiß, dass sie wahr sind. Wenn irgendein fürchterliches Ereignis eingetreten ist, so gebraucht man die Wendung: Es ist unmöglich! So ist die Erklärung Mehrings natürlich aufzufassen. Die Sache liegt so, dass die hiesigen Redakteure nach der besonderen Form des Wortes in den „Leipziger Neuesten Nachrichten" der Überzeugung sein konnten und sein mussten, dass es sich um eine genaue Wiedergabe von Äußerungen handeln musste. Sogar den „Leipziger Neuesten Nachrichten" pflegen die Sozialdemokraten die Wahrheit der Darstellung zu glauben, wenn noch hinzugefügt wird: Wortlaut des Urteils. Soll man es ihnen übelnehmen, dass sie zu der Zuverlässigkeit der „Leipziger Neuesten Nachrichten" soviel Vertrauen hatten? Es ist eine ganz grenzenlose, unmögliche Leichtfertigkeit Limans, dass er mit solcher Pointierung unwahre Tatsachen verbreitet. Mir scheint, dass man angesichts der heutigen unbestimmten Aussage Limans doch wird sagen müssen: Dem Angeklagten ist diese Wendung in einer solchen Weise zugetragen worden, dass sie den Stempel des Autoritativen hatte, den Stempel der Richtigkeit, und sie ging in einer Weise in die Öffentlichkeit hinaus, die diese bestimmen musste, an die Richtigkeit einer solchen Wendung zu glauben. Was die „Leipziger Volkszeitung" herausgegriffen hat, war nicht, dass von Hänel gesagt worden ist: „Hier ist in der schärfsten und persönlichsten Weise gekämpft worden", sondern: „Es ist gerichtsnotorisch, dass die ,Leipziger Volkszeitung' regelmäßig so zu kämpfen pflegt", ohne dass dieses System oder diese Tendenz zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden war, ohne dass sie in anderer Weise zur Kenntnis des Gerichts gekommen war als auf Grund der berühmten, und ich möchte fast sagen, berüchtigten Gerichtsnotorietät. Diese Verallgemeinerung gegenüber der Zeitung, diese Tendenz, persönliche Angriffe beweislos auf die Zeitung zu richten, wird mit Recht zurückgewiesen. Und nun kommt noch das andere hinzu, dass Hänel an und für sich einen Ton zu haben pflegt und Ausdrücke zu brauchen pflegt und die Verhandlung leitet in einer Weise, die überall Missstimmung hervorruft. Wir haben aus Hüblers Aussage zu entnehmen, dass Hänel mit Krethi und Plethi Zank und Unfrieden hat, dass Beschwerden gegen ihn vorgebracht werden, dass er als ein Herr gilt, dem die Eigenschaft außerordentlich wenig eignet, in üblicher und angemessener Weise seine Funktionen auszuüben. Deshalb liegt es nahe, dass dieser Ausdruck von seiner Seite gefallen ist. Er hat hier in seiner Zeugenaussage Worte gebraucht, die diese Meinung durchaus glaubhaft erscheinen lassen. Darum ist es wohl zulässig, dass man diesen Angriff der „Leipziger Volkszeitung" als verzeihlich betrachtet, ihn gewissermaßen mit dem Mantel der christlichen Liebe zudeckt, mit Rücksicht darauf, dass der Mantel der christlichen Liebe ja auch gegen Hänel recht notwendig ist… Nun zu einem ganz besonders wichtigen Punkte. Der Angeklagte hat den Schutz des Paragraphen 193, und er kann nur bestraft werden, soweit seine Ausführungen oder andere Umstände ergeben, dass er die Absicht der Beleidigung gehabt hat. Es kommt also darauf an, ob er formelle Beleidigungen gebraucht hat. Wenn der Angeklagte oder die „Leipziger Volkszeitung" auf Angriffe zu antworten haben, haben sie sicherlich dasselbe Maß von Freiheit in der Abwehrung von Angriffen, wie die königliche Angriffsbehörde vor Gericht hat und wie der Vorsitzende des Gerichtshofes. Für alle gilt Paragraph 193 und nichts weiter. Und nun frage ich: Wie haben wir in dem Falle, wo die königliche Staatsanwaltschaft in Frage kommt, die Absicht der Beleidigung zu entscheiden? Ja, es liegt doch auf der Hand, dass in diesem Verfahren, wenn man versuchen sollte, jedes kleine Zufallswörtchen auf die Goldwaage zu legen und daraus die Absicht der Beleidigung zu deduzieren, auch der Oberstaatsanwalt Böhme sich in der Tat in zahlreichen Fällen strafbar gemacht hat und dass nicht ein einziger Beamter heute hier war, der sich nicht strafbar gemacht hätte. Wir haben aber heute gesehen, wie Böhme und Hänel ein voll gerüttelt Maß von Rede- und Meinungsfreiheit für sich in Anspruch genommen haben. Böhme hat gesagt: „Beispiellose Dreistigkeit", „unglaubliche Rohheit", „Beschimpfung seiner Person", „hämische Beleidigungen", „Schimpf- und Hetzhandwerk". Ich möchte den Staatsanwalt bitten, aus dem hier inkriminierten Artikel ein Wörtchen herauszusuchen, das ebenso schlimm oder schlimmer zu betrachten ist wie diese Worte Böhmes. Ja, soll man nun denn etwa sagen: Der Oberstaatsanwalt Böhme darf das sagen, aber wenn es die „Leipziger Volkszeitung" sagt, ist es strafbar?! Schönstedts Reproduktion des bekannten Wortes: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe, soll hier in der Verhandlung keine Rolle spielen! Ich bin der Ansicht, dass es sicherlich höchst bedenklich sein würde, wenn eine Tendenz in die Debatte hineingeworfen werden würde, wenn ein Messen mit zweierlei Maß eintreten sollte, nach dem Muster des früheren preußischen Justizministers. Wenn man zweierlei Maßstäbe zugeben wollte, so hat keiner ein höheres Maß von Verpflichtung, sich zu beherrschen und in der Form vorsichtig zu sein als gerade ein Vertreter der richterlichen Autorität und der staatsanwaltschaftlichen Autorität. Die „Leipziger Volkszeitung" hat niemals wegen Beleidigung Klage erhoben, sie hat den Beleidigern in der üblichen Weise des literarischen Kampfes gedient. Wie steht es mit der Staatsanwaltschaft? Sie ist die vom Gesetz dazu berufene Behörde, die Paragraphen 185, 186, 187 in Schutz zu nehmen; die Staatsanwälte sind die Schutzengel der Beleidigungsparagraphen, und diese Schutzengel misshandeln den ihnen anvertrauten Schützling Paragraph 185! Sie haben selbst in außerordentlich schroffer Weise gegenüber der Aufgabe, die Innehaltung des Gesetzes zu wahren, über diese Grenze hinaus Beleidigungen über Beleidigungen begangen und sich strafbar gemacht. Wenn, ja wenn die Anklage, die hier erhoben worden ist, Hand und Fuß hat, wenn man glaubt, die Staatsanwälte haben die Grenze nicht überschritten, dann muss auch die Anklage gegen die „LVZ" fallen, da die Staatsanwaltschaft schärfer zu betrachten ist als ein Blatt, das nicht von Staatsanwälten geschrieben ist, das für die Arbeiter geschrieben ist, ein Blatt, das im Kampfe steht, das sich täglich Hunderttausende von Feinden vom Halse zu halten hat, eine Zeitung, die selbst fortgesetzt auf der Anklagebank sitzt und selbst fortgesetzt von den Gegnern in rücksichtslosester Weise beschimpft wird und deren Redakteure zu 30 und mehr Prozent im Gefängnis sitzen. Dass eine solche Zeitung in Bezug auf die Form nicht so subtilen Ansprüchen genügen mag, das liegt auf der Hand. Eine andre Stellungnahme würde bedeuten, dass der Staatsanwalt berechtigt ist, über den Paragraphen 193 hinaus sich als über dem Gesetze stehend zu bezeichnen. Es würde dann anzunehmen sein, dass die Staatsanwaltschaft es nicht nötig hat, so wie der Oberstaatsanwalt Böhme es von sich direkt behauptete, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, welcher Paragraph in Anwendung kommt. Böhme hat die Meinung, dass er sagen darf, was er sagt, und dass ihm kein Gott und kein Teufel dieses Recht rauben kann. Würde das den Angeklagten ebenfalls schützen? Die Aussage Böhmes in diesem Punkte ist ein schlagender Beweis dafür, dass dieser Herr sich grundsätzlich über die Grenzen seiner Amtsbefugnis nicht klar ist. Staatsanwalt (wild aufkreischend): Das geht zu weit! Das geht entschieden zu weit! Ich habe schon verschiedenes gehört, aber das geht ganz entschieden zu weit! Vorsitzender: Ich bitte allerdings, vorsichtig zu sein! Liebknecht: Es ist schwierig, aber ich kann nichts dafür, dass meine Äußerungen dem Herrn Staatsanwalt unangenehm sind, aber ich werde mich deshalb nicht von dem Herrn Staatsanwalt hindern lassen, in meinem Gedankengange fortzufahren. Ich betone allerdings nur noch, dass durch die Vernehmung Böhmes bewiesen ist, dass der Oberstaatsanwalt bei den Äußerungen, die als formelle Beleidigungen angesehen werden könnten, dass er bei dem Gebrauche dieser Redewendungen, die er, wie er selbst zugibt, sehr häufig gebraucht, sich nicht überlegt hat, ob er den Paragraphen 193 überschreitet oder nicht, sondern es auf Grund einer inneren Stimme, die er im Augenblick gehört hat, für zulässig hält zu sagen, was er zu sagen für nötig hält. Wenn nun dem Oberstaatsanwalt gegenüber ein Wörtchen gebraucht worden ist, dass er den schmachvollen Vorwurf der Feigheit erhoben hat, so hat er kein Recht, darüber entrüstet zu sein und insbesondere daraus die Absicht der Beleidigung deduzieren zu wollen. Wenn er daraus die Absicht einer Beleidigung herausdestilliert, dann hat er selbst die allergröbste und schwerste Beleidigung in diesem Prozess begangen, und er hat es nur der Nachsicht des Angeklagten, beziehungsweise der angeklagten Redakteure zu verdanken, dass er nicht bestraft worden ist. Wenn nun gesagt worden ist, er habe ohne einen Schein der Berechtigung den Vorwurf der Feigheit gemacht, ja, so ist das doch bewiesen! Und damit ist die ganze Geschichte, soweit sie Böhme betrifft, erledigt. In Bezug auf Lange liegt nur das Wort „nichtsnutzig" vor, dagegen stehen seine Angriffe auf die Tendenz der „Leipziger Volkszeitung", die außerordentlich heftige Angriffe persönlicher Art auf die Tätigkeit der Redakteure darstellen. Alles das muss dazu führen, dass man auch in diesem Falle formale Beleidigungen nicht annimmt. Aber wenn er nicht so weit gegangen sein sollte, dann bestreite ich die Absicht der Beleidigung. Hat der Oberstaatsanwalt Böhme nicht die Erkenntnis, dass seine gröblichen Worte eine Beleidigung sind, so wird man sagen müssen, dass auch dem Redakteur nicht die Absicht der Beleidigung wird unterschoben werden können. Dem Dr. Hänel sind ja eigentlich nur die Worte „Beschimpfungen" und „wüst" und „roh" als beleidigend erschienen, und das ist eine Reproduktion einer angeblichen Äußerung von ihm. Wenn nun hier behauptet worden ist, dass Hänel eine solche Wendung nicht gebraucht habe, dann ist es die Frage, ob das von der „Leipziger Volkszeitung" Gesagte überhaupt eine Beleidigung ist. Das war Gegenstand der Erörterung. Der Vorsitzende hat als seine persönliche Meinung bezeichnet, dass man nicht erstaunt sein dürfe, wenn gegenüber einem solchen Artikel der „Leipziger Volkszeitung" die Worte „wüste und rohe Beschimpfung" wirklich gefallen sein sollten. Ich kann dem nicht recht geben. Aber wenn es richtig ist, dann folgt das eine daraus: dass hier dem Assessor Hänel nicht vorgeworfen ist, eine unehrenhafte oder strafbare Handlung begangen zu haben, sondern dass – in der von dem heutigen Herrn Vorsitzenden für richtig gehaltenen Weise – er seine Pflicht getan hat. Das ist nicht beleidigend. Dann würde diese unerweisliche Wendung in Wegfall kommen. Es würde das Wort „Beschimpfung ohne Schatten eines Nachweises" in Betracht kommen. In Bezug auf die „Leipziger Volkszeitung" fällt dieses Wort Beschimpfung so oft, auch vom Oberstaatsanwalt Böhme und wohl auch in allen andern Fällen, dass man, wenn die „Leipziger Volkszeitung" einmal einen solchen Ausdruck ebenfalls gebraucht, nicht in der Lage ist, die Absicht der Beleidigung hinein zu destillieren. Infolgedessen kann hier der Paragraph 193 in vollem Umfange Anwendung finden. Was nun den Hilfsrichter Franke betrifft, so wird die von diesem ausgesprochene Beschimpfung durch die Toga des Richters geschützt. Das ist ja doch unbestreitbar richtig, denn hier handelt es sich um sehr heftige Angriffe (die allerdings niemals in dem Maße exzediert haben wie die des Oberstaatsanwalts Böhme), und hier handelt es sich um einen Richter, dem das Gesetz Objektivität im höchsten Maße zur Pflicht macht. In dem Richteramt setzt der Staat Richter über sich selbst ein, und der Richter darf nicht selber in die Arena hinuntersteigen. Justitia fundamentum regnorum! Und wenn man nun sieht, wie der Richter in die Arena hinabsteigt und wie er nicht imstande ist, seine persönliche politische Meinung zurücktreten zu lassen, dann wird damit eine Arbeit verrichtet, die im allerhöchsten Maße unterminierend wirkt, die im allerhöchsten Maße gefährlich wirkt für diejenige Instanz, die hier geschützt werden soll. Man soll nicht sagen: Der Talar des Richters muss geschützt werden, und wer es wagt, ihn anzugreifen, der muss aufs Allerschärfste bestraft werden. Erst mögen die Herren von der Justiz anfangen, vorsichtig zu sein, und dann werden sie berechtigt sein, in dieser außerordentlichen Weise den Schutz des Gesetzes in Anspruch zu nehmen. Über das Strafmaß mich auszulassen, das verbietet mir der Standpunkt, den ich grundsätzlich eingenommen habe. Es ist ja von dem Staatsanwalt ein bestimmtes Strafmaß nicht in Antrag gebracht worden. Staatsanwalt: Das ist nicht zulässig in Sachsen. Liebknecht: So? Und eine Geldstrafe ist von der Staatsanwaltschaft nicht für zulässig gehalten worden. Ich denke, wenn man sich immer nur die Worte des Herrn Oberstaatsanwalts Böhme vor Augen hält, wird man zu der Ansicht kommen: keine Strafe, sondern Freispruch! Staatsanwalt: Der Angeklagte war nicht beleidigt worden, sondern Kressin und die politischen Redakteure. Der Angeklagte aber setzte sich nach Monaten hin und verfasste den Artikel. Dem Angeklagten muss aus diesem Grunde schon das Recht des Paragraphen 193 versagt werden. Ich habe fast täglich die „Leipziger Volkszeitung" gelesen, und seit dem 9. Februar ist wohl keine einzige Zeitung erschienen, die nicht die schärfsten Beleidigungen gegen Böhme enthalten hat. Wenn nun Böhme deswegen scharf vorgegangen ist, so kann ihm das nicht verargt werden. Der Verteidiger hatte dann gesagt, das Wort „schmachvoller Vorwurf" sei gerechtfertigt infolge der Ausführungen Böhmes. Ich habe schon gesagt, dass Böhme nur die Worte gebraucht hat: „Wenn sie Mut gehabt hätten, hätten sie herkommen können und die Verantwortung tragen können." Das ist doch etwas anderes, als wenn ich sage, „sie haben sich schmachvoll feige benommen". Wenn ich als Zeuge vernommen werde und sage: „Eine Frauensperson führt einen nicht einwandfreien Lebenswandel", so ist das nicht strafbar, nicht beleidigend, aber wenn ich sage: „Sie ist eine Hure", so überschreite ich meine Befugnisse. Wenn er nun eine solche Form gewählt hat, die das ausschließt, so kann ihm niemand vorwerfen, dass er den schmachvollen Vorwurf der Feigheit gemacht habe. Nun hat der Verteidiger gesagt, die Redakteure der „Volkszeitung" haben ein sehr feines Empfinden für das Ehrgefühl. Ich meine, was er für die „Leipziger Volkszeitung" in Anspruch nimmt, können wir für uns auch in Anspruch nehmen. Es ist nur ein einziger Artikel vorgelesen worden, der die berühmte Fraktur spricht. Nun, wenn Sie so feinfühlig sind, möchte ich meinen, dass wir auch feinfühlig sind, dass wir die Ausdrücke, die da gegen uns angewendet werden, als schwere Beleidigung empfinden. Der Verteidiger weiß ganz genau, dass bereits im Reichstage von der berühmten Fraktur der „Leipziger Volkszeitung" gesprochen worden ist. Ich wende mich nun zu den Ausführungen über Hänel. Ich stehe auch jetzt noch auf dem Standpunkte, dass Hänel gerechtfertigt aus den Verhandlungen hervorgegangen ist. Der Verteidiger meint, dass die Äußerungen Limans unterstützend für ihn wirken, dass der Artikel der „Leipziger Neuesten Nachrichten" ihn ebenfalls unterstützt. Wenn der Verteidiger sorgfältig die Worte Limans kontrolliert hätte, so wäre auch noch ein dritter Standpunkt möglich: ein Irrtum. Liman hat allerdings gesagt, dass er den Artikel gelesen habe, dass er aber dabei möglicherweise die Artikel über den Prozess in der ersten Instanz und in der Berufungsinstanz verwechselt habe. Also eine dritte Lesart ist da. Ich unterstütze also in allen Beziehungen den Antrag, den ich gestellt habe. Liebknecht: Der Staatsanwalt hat merkwürdige Auffassungen vom Paragraphen 193. Er sagte, in den früheren Prozessen waren andere Personen angeklagt, und infolgedessen ist die Abwehr, die jetzt der Angeklagte zu vertreten hat, nicht von derselben Person ausgegangen. Ja, aber die ganze Verhandlung hat doch bewiesen, dass alle Voraussetzungen des Staatsanwalts unzutreffend sind. Es ist dann gesagt worden, dass der Oberstaatsanwalt Böhme selbst von der „Leipziger Volkszeitung" angegriffen worden sei und dass deshalb die späteren Angriffe von ihm verzeihlich seien. Ich verstehe nicht, wie der Staatsanwalt derartige Äußerungen machen kann angesichts der Tatsache, dass die „Leipziger Volkszeitung" durchaus nicht alle Richter in Bausch und Bogen zusammenwirft mit Böhme. Wahrscheinlich ist, dass der Angriff von Böhme und nicht von der „Leipziger Volkszeitung" ausgegangen ist. Der Staatsanwalt hat dann ein Beispiel angeführt: Sie ist eine Hure, und sie führt keinen einwandfreien Lebenswandel, das ist identisch und bloß ein formeller Unterschied. Allerdings ist beides, was hier in Frage steht, dem Inhalt nach identisch. Ich kann also das Einverständnis des Herrn Staatsanwalts darüber konstatieren, dass dem Inhalt nach die Aussage Böhmes, die Redakteure seien keine Freunde der Verantwortung und ihre Persönlichkeit sei ihnen dazu zu wertvoll, den Vorwurf der Feigheit enthält. Und dieser Vorwurf der Feigheit ist deshalb um so schwerer, weil er eine Gesinnung kennzeichnet, die man aber noch in viel verletzenderer Weise bezeichnen kann mit der Wendung, dass Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist. Dann habe ich nicht gesagt, dass die Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" gerade in Bezug auf den Fall Lange eine besonders feine Empfindung haben. Ich habe gesagt: Wenn sie auch auf die äußere Form nicht viel Wert legen und ihren Feinden mit fröhlicher Kampfbereitschaft entgegenstehen, so sind sie doch in Bezug auf die Anschwärzung ihres Charakters außerordentlich empfindlich, soweit es sich um ihren Charakter als Kämpfer ihrer Partei handelt. Dann hat ferner Hänel erklärt, dass er verfeindet sei mit Dr. Hübler, aber es ist nicht wahr, dass Hübler dies ebenfalls gesagt hat. Es ist vom Staatsanwalt schließlich versucht worden, dem Liman eine Ehrenrettung zuteil werden zu lassen. Er sagte, es gäbe eine dritte Möglichkeit: die Möglichkeit des Irrtums. Damit hat der Staatsanwalt zugegeben, dass, wenn diese dritte Möglichkeit nicht vorhanden ist, nur die beiden ersten bleiben. Kunze führte als dritte Möglichkeit an: Liman könne das Urteil mit dem Urteil zweiter Instanz verwechselt haben! Ja, das hat Liman in Bezug auf seine heutige Aussage gesagt, aber das trifft für seinen Artikel selbst nicht zu, in dem er angibt, „wüste und rohe Beschimpfung" seien wörtliche Angaben des Urteils; denn dieser Artikel ist am Tage nach der Fällung des Urteils geschrieben worden, und da gab es keine Möglichkeit der Verwechselung mit der zweiten Instanz! Es bleibt somit nur die Möglichkeit übrig: Entweder das Wort ist gefallen, oder Limans Angabe in den „Leipziger Neuesten Nachrichten" ist unwahr! Ich legte von vornherein kein Gewicht auf die Behauptung dieser Position, weil Paragraph 193 durchgreift. Staatsanwalt Kunze hat den Vorwurf der Feigheit hier in verblümter Weise wiederholt. Er hat gesagt, einige schreiben, und andere müssen die Suppe auslöffeln. Er hätte diesen Vorwurf nicht machen sollen, da es sich hier gerade darum handelt, dass ein anderer diesen Vorwurf nicht hätte machen sollen! Staatsanwalt Kunze meint nun, der Oberstaatsanwalt Böhme habe nur seine Pflicht und Schuldigkeit getan, wenn er den wirklichen Täter suchte. Er hat das allerdings getan. Die Sache aber war erledigt, und es stand auf der Anklagebank ein konkreter Angeklagter. Es handelt sich nun darum, ob der Staatsanwalt demgegenüber berechtigt war, dritte Personen hineinzuziehen Wenn eine solche dritte Person überführt war, dann à la bonne heure! Aber Böhme hat bestimmte Personen bezeichnet, versteckt, also in der Form, die von der Staatsanwaltschaft als odios bezeichnet wird. Damit hatte er nicht bloß konstatiert, dass er auch andere Ermittlungen angestellt hatte, sondern damit hat er eine Methode der Beleidigung, der Behauptung von unerweislichen Tatsachen praktiziert, die, ihm gegenüber von einer Zivilperson praktiziert, zu einer Anklage geführt hätte. Es ist dies ein Menetekel für die Beurteilung der ganzen Sache, und ich bitte Sie, das zu würdigen in dem Sinne, wie ich es ausgeführt habe, und zu einer Freisprechung zu kommen. 1 Als Höhepunkt einer Reihe von Beleidigungsprozessen, die die Staatsanwaltschaft 1906 gegen die „Leipziger Volkszeitung" führte, fand am 22. Oktober ein Prozess statt gegen den Redakteur Friedrich Seger, der den am 31. Mai erschienenen Artikel „In eigener Sache" verantwortete, in dem beleidigende Äußerungen der Leipziger Justizbeamten Böhme, Franke, Lange und Hänel gegen die „Leipziger Volkszeitung" wiedergegeben und öffentlich zurückgewiesen wurden. Die „Leipziger Volkszeitung", 1902 bis 1907 von Franz Mehring geleitet, war in diesen Jahren das bedeutendste Sprachrohr der Linken. Der Prozess führte zu einem moralischen Sieg der Zeitung, die in einem ausführlichen Prozessbericht die Methoden der Leipziger Justiz in der Öffentlichkeit anprangerte. Seger wurde jedoch zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Red. 2 Hier ist Herr Kunze das Opfer Rexhäuserscher Berichterstattung geworden. Die „Sächsische Arbeiter-Zeitung" hat sich niemals auf den Standpunkt der Mannheimer „Volksstimme" gestellt. Vielleicht hat sie selber die Freundlichkeit, uns das zu bestätigen. Die Red. der „Leipziger Volkszeitung1'. 3 Bekanntlich ist Freund Böhme mit seinen „Urteilen" immer hereingefallen. Die Red. der „Leipziger Volkszeitung". 4 „Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, ingleichen Äußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sowie Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen, dienstliche Anzeigen oder Urteile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht." 5 Mitarbeiter der bürgerlichen „Leipziger Neuesten Nachrichten". Die Red. |
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