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Karl Liebknecht 19060923 Rede zum politischen Massenstreik

Karl Liebknecht: Rede zum politischen Massenstreik

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 280-82, nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 190-193]

Parteigenossen! Wenn Bömelburg bemerkt hat, innerhalb der Partei bestehe über den politischen Massenstreik eine große Unklarheit, ein Wirrwarr, so würde aus einer solchen Auffassung nur mit besonderer Deutlichkeit die Notwendigkeit einer möglichst intensiven Diskussion dieses Kampfmittels zu folgern sein. Wenn er aber als Beweis für diesen Wirrwarr auch darauf hingewiesen hat, dass ein Redner auch die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit eines eventuellen Demonstrationsstreiks hat erörtert wissen wollen, so befindet er sich im Irrtum. Der politische Massenstreik kann eben verschiedene Formen annehmen, zu denen auch die des Demonstrationsstreiks gehören. („Sehr richtig!“) Es ist unmöglich, sich von vornherein ausschließlich auf die Möglichkeit einer einzigen Form festzulegen. Legien hat gemeint, der Massenstreik müsse unbedingt in Straßenschlacht und Blutvergießen enden. Dass dies nicht richtig ist, ist bereits mit Recht hier und in Jena hervorgehoben worden. Zu beachten ist besonders die wichtige Rolle, die die stete und proklamierte Bereitschaft zum politischen Massenstreik besitzt. Sie wird wesentlich bestimmend sein für den Zeitpunkt, an dem die Reaktion ihre entscheidenden Attacken gegen das organisierte Proletariat unternehmen wird. Es kommt nicht nur darauf an. ob die Reaktion solche Attacken unternehmen wird — denn dass sie sie unternehmen wird, ist mir klar —‚ sondern auch, wann eine solche Attacke erfolgt. Je weiter dieser Zeitpunkt hinausgeschoben wird, um so günstiger wird unsere Lage. Schon aus diesem Grunde muss es für uns heißen: Stets das Gewehr in Anschlag!

Legien hat die Meinung geäußert: Ein verlorener Massenstreik bedeute eine Vernichtung der Organisation. Das ist nicht nur durch die Vorgänge in Russland widerlegt, auf die bereits die Genossin Luxemburg hingewiesen hat, sondern auch durch die jüngsten österreichischen Ereignisse, wo der Massenstreik, obwohl er nicht zum Ziele geführt hat, einen gewaltigen Aufschwung aller Organisationen geschaffen hat. Dass es andererseits in Belgien anders war, ist bekannt. Daraus müssen wir folgern, dass die Rückwirkung eines nicht erfolgreichen Massenstreiks auf die Organisationen je von der Spannung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation abhängt, dass ein Verallgemeinern hier unmöglich ist und es Sache der Taktik ist, die Möglichkeiten der jeweiligen Lage richtig zu erkennen. („Sehr richtig!“) Nicht mit Unrecht ist schon verschiedentlich betont worden, dass die Rede Bebels von gestern gegenüber seiner Jenenser Rede fast wie eine Schamade geklungen hat. Aber Genosse Bebel wird gewiss selbst noch Gelegenheit nehmen zu erklären, dass dieser Eindruck nur durch die polemische Stellung hervorgerufen worden ist, die er in seinem gestrigen Referat nach einer gewissen Seite hin glaubte einnehmen zu müssen. Es ist von größtem Werte, dass gerade aus den Reihen der Delegierten heraus mit fast völliger Einmütigkeit einer solchen vermeintlich schwachmütigeren Auffassung mit allem Nachdruck entgegengetreten wurde. („Sehr richtig!“) Damit ist bewiesen, dass der Massenstreikgedanke in den Massen lebendig geworden ist und dass er durch nichts mehr aus den Herzen der deutschen Arbeiter herausgerissen werden kann. (Lebhafte Zustimmung.)

Die Stellungnahme zu Legiens Antrag ist schwierig. Ich für meinen Teil glaube nicht an die Identität der Kölner und der Jenaer Resolution, wenigstens nicht, wenn die Auslegung der ersteren, wie sie bisher zumeist gegeben wurde, richtig ist. Auch die Ausführungen Legiens hierzu waren ganz und gar nicht geeignet, diese Bedenken zu beseitigen. Nach den vortrefflichen Ausführungen Bömelburgs aber scheint es mir möglich zu sein, diesen Antrag mit einer gewissen Abänderung zu akzeptieren. Kautskys Amendement, gegen das ich die formaljuristischen Bedenken des Genossen Sachse nicht habe, scheint mir aber wenigstens in dem Teile, gegen den sich auch Bömelburg gewandt hat, unannehmbar. Er sucht in seinem Relativsatz eine grundlegende Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft zu entscheiden, und zwar in einem Sinne, der mit der bisher überall nahezu allgemein vertretenen Auffassung über dieses Verhältnis in striktem Widerspruch steht. Dieser Teil des Amendments, der in der Tat nur zu neuen unerträglichen Reibungen führen müsste, ist zudem nach den heutigen Erklärungen Bömelburgs überflüssig.

Nun noch eines. Bebel hat in seinem Referat unter anderem bemerkt, es gibt im Leben der Parteien wie der Völker Situationen, in denen sie den Kampf aufs äußerste aufnehmen müssen, selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin. Wie stehen wir nun zur russischen Revolution, in deren Verlauf gerade jetzt wieder von der Konterrevolution Orgien der Grausamkeit und Gemeinheit gefeiert werden, die in der Weltgeschichte ohnegleichen sind. Das Blut, das unsere Brüder drüben vergießen, vergießen sie für uns, für das Proletariat der ganzen Welt („Bravo!“), und was immer wir für unsere kämpfenden russischen Brüder von hier aus getan haben, ist nichts als ein kleines Scherflein, mit dem wir uns von den Blutopfern loskaufen, die im Osten auch für uns gebracht werden. Wir stehen trotz allem, was wir bisher getan haben, unendlich tief in der Schuld gegenüber unserem russischen Brüdern und Schwestern. Kein Zweifel. auch für uns deutsche Sozialdemokraten muss das Wort gelten und gilt das Wort: Lieber von den Henkern des Zarismus und seinen Helfershelfern gehenkt, als Helfershelfer der Henker des Zarismus sein. („Bravo!“) Darüber darf weder in Deutschland noch in Russland ein Zweifel sein. Das wird auch Bebel, aus dem gestern mehr seine grauen Haare als sein immer junges Herz gesprochen haben, dennoch mit aller unzweideutigen Schärfe dorthin rufen, wo man es zu hören hat. Auf die Stellung des deutschen Proletariats zu dieser Frage blickt nicht nur die deutsche und die russische Regierung, sondern auch die gesamte russische Freiheitsbewegung. (Zwischenruf.) Bebel hat gestern von der Möglichkeit einer Intervention gesprochen. Die von mir angegriffenen Ausführungen handeln gerade von diesem möglichen Falle, dessen äußerste Unwahrscheinlichkeit allerdings außer Zweifel steht. Wir müssen daher einmütig betonen, dass uns kein Opfer zu groß ist für unsere russischen Freunde. Sollte versucht werden, das deutsche Volk zum Scharfrichter an der russischen Freiheit zu machen, was gleich sein würde einer Selbstschändung und kulturellen Selbstvernichtung des deutschen Volkes, so würde einfach alles aufhören, so würde eine von jenen Situationen vorliegen, von denen Bebel gestern in dem oben von mir zitierten Satz sprach. Es soll nicht in der Weltgeschichte heißen: Die russische Freiheitsbewegung ist durch das deutsche Volk, das zugleich die größte und stärkste Organisation des internationalen Proletariats besaß, niedergeworfen worden. Vor dieser Todsünde müssen wir uns bewahren. Wir wären erbärmliche Kerls, und der Teufel sollte uns holen, wenn wir nicht dafür sorgen würden, dass jeder etwaige Versuch, der russischen Revolution aus Deutschland in den Rücken zu fallen, mit einer gründlichen Niederlage auch der preußisch-deutschen Reaktion enden würde. (Lebhafter Beifall.)

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