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Karl Liebknecht 19060922 Rekrutenabschied

Karl Liebknecht: Rekrutenabschied1

[Die Junge Garde, Nr. 7 vom 22. September 1906. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 183-189]

Die Stunde der Aushebung hat geschlagen. Bald kommt der Gestellungsbefehl, und das Beste, was an jugendlicher Männerkraft im deutschen Volke gewachsen ist, muss sein Bündel schnüren und Eltern, Geschwister, Kollegen und Freunde, oft selbst Frau und Kind verlassen. Muss! Da gibt's kein Zerren und Sträuben; Gefängnismauern – drohen dem Widerstrebenden. „Das Vaterland ruft! Erbärmlich, wer sich seinem Dienst nicht freudig weiht!" So heißt es in den Schulen, so ruft es von den Kanzeln, so steht's in allen wohlanständigen und „angesehenen" Büchern und Zeitungen.

Bisher wart ihr freie Männer, ihr jungen Proletarier, soweit kapitalistische Unkultur Proletarierfreiheit kennt. Die Hungerpeitsche aber ist ein Symbol der Freiheit im Vergleich mit dem Druck, mit der Sklaverei, unter die euch der blutig-eiserne Militarismus zwingen wird. Sklaverei! Und nicht nur immer einem, sondern jedem Offizier, jedem Unteroffizier der deutschen Armee werdet ihr auf Gnade und Ungnade ausgeliefert; jedem Wink eurer Vorgesetzten habt ihr schweigend und ohne Widerrede mit Maschinenpromptheit Tag und Nacht zu gehorchen, mag euch auch das Unsinnigste und Unmoralischste, selbst Strafbares befohlen werden. Aber: „Ohne schärfste Disziplin ist keine Armee möglich. Ist auch der Dienst fürs Vaterland schwer, erbärmlich, wer sich ihm nicht freudig weiht." So heißt es überall, wo man auf Patriotismus hält.

Bisher durftet ihr euch Wohnsitz und Wohnung wählen; das hört nun auf – ihr werdet meist aus der Heimat weggerissen, müsst wie Auswanderer hinausziehen, werdet in Kasernen eingepfercht und in Stuben geteilt, wie eine Herde in die Ställe.

Bisher durftet ihr euch außerhalb der Arbeit frei bewegen; der Militarismus wird euch von nun an keinen freien Schritt gestatten; Essen. Trinken. Schlafen, Ausgehen, alles wird diszipliniert, reguliert, kontrolliert.

Bisher durftet ihr lesen und schreiben, was euch passte; aber auch damit ist's zu Ende. Bisher durftet ihr Vereinen angehören oder Versammlungen beiwohnen, die euch passten. Künftig werdet ihr nur lesen und schreiben dürfen, was der Vorgesetzte gestattet; schwere Strafe riskiert, wer andere als „staatserhaltende" Schriften liest oder auch nur bei sich hat, wer andere als „staatserhaltende" Reden führt, wer andere als „staatserhaltende" Gesellschaften besucht.

Aber", so wird man euch lehren, „die Armee ist die hohe Schule des deutschen Volkes; sie soll euch zur Treue gegen den Monarchen, zur Vaterlandsliebe erziehen, auf dass unser Deutsches Reich stark und gefestigt dastehe. Keine Erziehung ohne Zwang", so heißt es. „Erbärmlicher Nörgler, wer sich nicht willig in diesen Zwang schickt, um des edlen patriotischen Zwecks willen!"

Bisher durftet ihr um Besserstellung eurer Lage kämpfen; von morgen ab werdet ihr euch pro Tag mit wenigen 20 Pfennig Lohn für schweren Dienst begnügen müssen und nur ganz heimlich singen dürfen: „Präsentiert dem König! 22 Pfennig sind so wenig!" Essen, Trinken, Verpflegung und Kleidung werden euch ohne eigenes Wahlrecht und ohne dass ihr auch nur eine Kritik wagen dürftet, zugeteilt.

Bisher war das Maß eurer Arbeit, die ihr dem Arbeitgeber zu leisten habt, meist fest begrenzt; von morgen an werdet ihr arbeiten müssen, was immer und wie viel immer euch der Vorgesetzte befiehlt, und da gibt's bei schwerer Strafe kein Mucksen!

Aber: „All das bringt das raue Kriegsleben mit sich. Das Vaterland ruft. Erbärmlich, wer sich seinem Dienst nicht freudig weiht, in seinem Dienst nicht gern jede Sklaverei, jede Anstrengung, jede Entbehrung auf sich nimmt!"

Wer euch beleidigt und schlägt, und sei es selbst euer Arbeitgeber, euer Meister, gibt euch damit ohne viel Federlesens Grund zur sofortigen Arbeitsniederlegung und zum Schadenersatz. Ihr dürft straflos Notwehr üben und könnt selbst straflos bleiben, wenn ihr zur Vergeltung wieder beleidigt, wieder schlagt. Nach dem Gesetz gilt eine Verletzung eurer Ehre und eures Körpers durch den Unternehmer gleich der Ehr- und Körperverletzung des Unternehmers durch den Arbeiter. Als freie und gleiche Staatsbürger stehen sich Arbeitgeber und Arbeiter, wenigstens nach dem Gesetz, gegenüber, ein und derselbe Paragraph trifft beide.

Das wird nun anders. Die ehrverletzende Kasernenrohheit, die grausame Schmach der Soldatenmisshandlungen. die selbst nach den Worten des Kaisers und des Kriegsministers von Einem die Armee beflecken, werdet ihr gar bald an euch oder euren Kameraden erdulden müssen. Und ihr dürft nicht den Heeresdienst verlassen, mag's euch auch dem Tod oder dem Wahnsinn zu treiben. Ihr habt nicht das Recht der Erwiderung auf der Stelle: und selbst das Recht der Notwehr wird euch bestritten. Dem Vorgesetzten hingegen wird in den Kriegsartikeln selbst das Recht des Waffengebrauchs gegen den widersetzlichen Untergebenen ausdrücklich zugesprochen. Die Beleidigung, Demütigung und Misshandlung der Untergebenen, auch die schwerste, werden von den Militärgesetzen und den Militärgerichten meist nur als vorschriftswidrige Behandlung, seltener als Körperverletzung, meist nur mit geringen, nicht entehrenden Strafen, Stubenarrest und dergleichen von kurzer Dauer, seltener mit verhältnismäßig kurzfristigen Gefängnisstrafen belegt.

Dieselben Militärgesetze und Gerichte drohen an und verfügen drakonisch harte Freiheitsstrafen, meist Zuchthaus, gegen den Untergebenen, der sich, sei es auch nur unbedacht, zur Unbotmäßigkeit und Beleidigung oder gar irgendeiner wenn auch noch so verzeihlichen Gewalttätigkeit gegen den Vorgesetzten, und sei er persönlich noch so unwürdig und der gemeinste Soldatenschinder, hat hinreißen lassen. Die Militärgesetze messen grundsätzlich und grausam mit zweierlei Maß. Nur ein schwerfälliger und zweischneidiger, mit vielen Fallstricken versehener Beschwerdeweg schützt den Soldaten, der nicht alles einsteckt, was ihm sein Peiniger bietet. Der geringste Exzess gegen einen der unzähligen Vorgesetzten vernichtet mit tödlicher Sicherheit die Existenz des unglücklichen Soldaten.

Auch das muss mit in Kauf genommen werden! Eiserne Disziplin ist nötig, und sie führt zu den oft bedauerlichen Folgen; aber das sind nur Ausnahmen. Tragt auch sie im Dienste des teuren Vaterlandes."

Und man wird euch bunte, glitzernde Uniformen geben, euch mit Sang und Klang durch die Straßen führen. Den „vornehmsten Rock" wird man euer neues Kleid nennen, euch Hochmut gegenüber dem Feinde einimpfen; das soll euch über alle Fährnisse, über alle Schmach und Not der Kaserne hinwegtäuschen.

Aber seid ihr denn Kinder, seid ihr Wilde, dass man euch durch Prunk und grellen Schmuck wie durch Spielzeug euer Erstgeburtsrecht auf Menschenwürde vergessen machen könnte? Ist's nicht eine Beleidigung, dass man euch das zumutet?

Indessen: Es gilt das Vaterland zu schützen! Und da heißt's um des großen Zweckes willen die Augen zudrücken und die Zähne aufeinander beißen!

Das Vaterland schützen? Denkt an unsere chinesischen Heldentaten, an die Kämpfe in den afrikanischen Kolonien, an den Marokkohandel, der drauf und dran war, Deutschland in einen Weltkrieg zu verwickeln, Mord und Brand über Europa zu breiten. Was hatte das mit dem Schutz des Vaterlandes zu tun? Die großmannssüchtige Welt- und Kolonialpolitik mag den Interessen des großkapitalistischen Unternehmertums dienen; dem Vaterland, dem Proletariat bürdet sie nur Lasten auf.

Nun, wie ihm auch sei, ihr werdet in die Kasernen einziehen.

Dort werdet ihr bald hören: Nicht nur zum Kampf gegen den äußeren Feind, nein, auch zum Kampf gegen den inneren Feind sollt ihr dienen!

Wer ist der innere Feind?

Auf Vater und Mutter, Bruder und Schwester sollt ihr nach Kommando schießen! Fürs Vaterland?

Man wird euch zu Streikbrecherdiensten abkommandieren. Fürs Vaterland?

Man wird euch, wie in Nürnberg und Magdeburg und wie in ganz Preußen und Hessen am 21. Januar 1906, in den wirtschaftlichen Kämpfen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum zum Schutze des Unternehmertums und in den politischen Freiheitskämpfen der Arbeiterschaft zum Schutze eurer Unterdrücker gegen die Arbeiter, eure Kameraden, Kollegen und Gesinnungsgenossen zu den Waffen rufen.

Fürs Vaterland?

Die Augen werden euch aufgehen, wenn sie nicht schon geöffnet sind.

Was ist das für ein Vaterland, das nicht das ganze Volk umfasst, euch von euren Liebsten reißt, zu Feinden eurer Freunde machen will? Das den Kampf gegen die Arbeiterschaft proklamiert, das sich eins fühlt mit dem Unternehmertum, mit jeder Reaktion?

Das ist nicht euer Vaterland; das ist nicht das einige deutsche Vaterland. Das ist nur die Vertretung einer Klasse des deutschen Volkes, die euch, seitdem ihr lebt, und schon euren Vätern, seitdem sie leben, feindlich ist bis aufs Blut, die euch und eure Väter, Mutter, Brüder und Schwestern, Kameraden. Kollegen und Gesinnungsgenossen von Kindesbeinen an ausbeutet und unterdrückt!

Der innere Feind, das sind eure Väter. Mütter. Brüder, Schwestern und Freunde, das ist das gesamte Proletariat und alles, was nicht mit der herrschenden Reaktion durch dick und dünn geht; der innere Feind: Das seid noch heute ihr selbst! Und das werdet nach eurer Entlassung wieder sein ihr selbst! Ihr selbst, die ihr zum Kampf gegenüber diesem inneren Feind aufgerufen werdet, zum Kampfe gegen euch selbst.

Zu „Hofhunden des Kapitals", ihres Feindes, werden die Proletarier degradiert, wenn man sie gegen den inneren Feind mobilisiert; ihr Lohn, und sei er noch so gering, soll ein Judaslohn sein: Trifft es nicht zu, wenn Freunde des Proletariats so sprechen?

Und habt ihr erst dies erkannt, so erkennt ihr weiter: Nur darum der furchtbare Druck und Drill und die eiserne Disziplin, damit das Proletariat durch Furcht und Schrecken gezwungen wird, dem Kapital und der Reaktion, seinen eigenen Feinden, zu dienen.

Und darum die Sklaverei und geistige Bevormundung, die Gesinnungsunterdrückung und der gleißende Prunk und Putz, damit das Proletariat im bunten Rock sich selbst und all die Seinen vergesse und willig den Willen des Kapitals und der Reaktion, seiner eigenen Feinde, tue.

Nur darum die Militärmisshandlungen und das grundsätzliche Messen mit zweierlei Maß durch Militärgesetz und Militärjustiz, weil man kein Volksheer kein Heer des deutschen Volkes, sondern eine Armee des Kapitals, der Reaktion geschaffen hat und braucht.

Nur darum schafft man euch aus der Heimat in die Fremde, damit ihr von euren Nächsten getrennt im Kampfe für eure Feinde durch Skrupel und Zweifel, durch Solidaritätsgefühl und unbequeme Herzensregungen weniger gestört werdet.

Und die wahnsinnigen jährlichen Milliardenkosten dafür, dass ihr in dieses für euch selbstmörderische Instrument verwandelt werdet, dass man aus euch Proletariern das stärkste Bollwerk eurer Zwingburg fügt, dass man euch Seele, Verstand, Selbstgefühl, Klassenbewusstsein, Kindes- und Geschwisterliebe, kurz alle edelsten Regungen zu verwirren und zu rauben sucht, müsst ihr, muss das Proletariat auch noch selbst aus seinem eignen sauren Schweiße pressen.

Ist das nicht Widersinn? Ist das nicht unmöglich? Warum schützt sich der Kapitalismus, schützt sich die Reaktion nicht durch ihre Kostgänger, durch die, deren Interessen sie vertreten?

Und der Militarismus ist der Würgengel der Kultur; er barbarisiert die Zivilisation und frisst, das Volk aussaugend, alle Mittel auf, die einem wahrhaftigen Fortschritt dienen könnten.

Er ist die Quintessenz und die Summe aller Volksfeindlichkeit, der brutale Exekutor und der blutig-eiserne Schutzwall des Kapitalismus.

Nehmet diese Erkenntnis in euch auf, ihr Proletarier, die ihr zu den Waffen gerufen werdet, und alle Versuche, euch in der Kaserne der großen Sache des proletarischen Befreiungskampfes abspenstig zu machen, müssen nicht nur zuschanden werden, sondern die Begeisterung eurer Überzeugung, eurer Ideen nur um so höher und heißer entfachen. Als doppelt gestählte Streiter werdet ihr aus dem Heere des Kapitalismus in die Reihen der proletarischen Armee zurückkehren.

1 Im Hochverratsprozess gegen Karl Liebknecht vom 9. bis 12. Oktober 1907 vor dem Reichsgericht in Leipzig spielte dieser Artikel eine erhebliche Rolle als Belastungsmaterial. Die Red.

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