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Karl Liebknecht 19060927 Über die Bedeutung des politischen Massenstreiks

Karl Liebknecht: Über die Bedeutung des politischen Massenstreiks

Diskussionsrede zum Referat über den politischen Massenstreik 27. September 1906

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 280-282. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 190-194]

Parteigenossen! Wenn Bömelburg bemerkt hat, innerhalb der Partei bestehe über den politischen Massenstreik eine große Unklarheit, ein Wirrwarr, so würde aus einer solchen Auffassung nur mit besonderer Deutlichkeit die Notwendigkeit einer möglichst intensiven Diskussion dieses Kampfmittels zu folgern sein. Wenn er aber als Beweis für diesen Wirrwarr auch darauf hingewiesen hat, dass ein Redner auch die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit eines eventuellen Demonstrationsstreiks hat erörtert wissen wollen, so befindet er sich im Irrtum. Der politische Massenstreik kann eben verschiedene Formen annehmen, zu denen auch die des Demonstrationsstreiks gehören. („Sehr richtig!") Es ist unmöglich, sich von vornherein ausschließlich auf die Möglichkeit einer einzigen Form festzulegen. Legien hat gemeint, der Massenstreik müsse unbedingt in Straßenschlacht und Blutvergießen enden. Dass dies nicht richtig ist, ist bereits mit Recht hier und in Jena hervorgehoben worden. Zu beachten ist besonders die wichtige Rolle, die die stete und proklamierte Bereitschaft zum politischen Massenstreik besitzt. Sie wird wesentlich bestimmend sein für den Zeitpunkt, an dem die Reaktion ihre entscheidenden Attacken gegen das organisierte Proletariat unternehmen wird. Es kommt nicht nur darauf an, ob die Reaktion solche Attacken unternehmen wird – denn dass sie sie unternehmen wird, ist mir klar –, sondern auch, wann eine solche Attacke erfolgt. Je weiter dieser Zeitpunkt hinausgeschoben wird, um so günstiger wird unsere Lage. Schon aus diesem Grunde muss es für uns heißen: Stets das Gewehr in Anschlag!

Legien hat die Meinung geäußert: Ein verlorener Massenstreik bedeute eine Vernichtung der Organisation. Das ist nicht nur durch die Vorgänge in Russland widerlegt, auf die bereits die Genossin Luxemburg hingewiesen hat, sondern auch durch die jüngsten österreichischen Ereignisse, wo der Massenstreik1, obwohl er nicht zum Ziele geführt hat, einen gewaltigen Aufschwung aller Organisationen geschaffen hat. Dass es andererseits in Belgien anders war, ist bekannt. Daraus müssen wir folgern, dass die Rückwirkung eines nicht erfolgreichen Massenstreiks auf die Organisationen je von der Spannung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation abhängt, dass ein Verallgemeinern hier unmöglich ist und es Sache der Taktik ist, die Möglichkeiten der jeweiligen Lage richtig zu erkennen. („Sehr richtig!") Nicht mit Unrecht ist schon verschiedentlich betont worden, dass die Rede Bebels von gestern gegenüber seiner Jenenser Rede fast wie eine Schamade geklungen hat. Aber Genosse Bebel wird gewiss selbst noch Gelegenheit nehmen zu erklären, dass dieser Eindruck nur durch die polemische Stellung hervorgerufen worden ist, die er in seinem gestrigen Referat nach einer gewissen Seite hin glaubte einnehmen zu müssen. Es ist von größtem Werte, dass gerade aus den Reihen der Delegierten heraus mit fast völliger Einmütigkeit einer solchen vermeintlich schwachmütigeren Auffassung mit allem Nachdruck entgegengetreten wurde. („Sehr richtig!") Damit ist bewiesen, dass der Massenstreikgedanke in den Massen lebendig geworden ist und dass er durch nichts mehr aus den Herzen der deutschen Arbeiter herausgerissen werden kann. (Lebhafte Zustimmung.)

Die Stellungnahme zu Legiens Antrag ist schwierig.2 Ich für meinen Teil glaube nicht an die Identität der Kölner und der Jenaer Resolution, wenigstens nicht, wenn die Auslegung der ersteren, wie sie bisher zumeist gegeben wurde, richtig ist. Auch die Ausführungen Legiens hierzu waren ganz und gar nicht geeignet, diese Bedenken zu beseitigen. Nach den vortrefflichen Ausführungen Bömelburgs aber scheint es mir möglich zu sein, diesen Antrag mit einer gewissen Abänderung zu akzeptieren. Kautskys Amendement3, gegen das ich die formaljuristischen Bedenken des Genossen Sachse nicht habe, scheint mir aber wenigstens in dem Teile, gegen den sich auch Bömelburg gewandt hat, unannehmbar. Er sucht in seinem Relativsatz eine grundlegende Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft zu entscheiden, und zwar in einem Sinne, der mit der bisher überall nahezu allgemein vertretenen Auffassung über dieses Verhältnis in striktem Widerspruch steht. Dieser Teil des Amendements, der in der Tat nur zu neuen unerträglichen Reibungen führen müsste, ist zudem nach den heutigen Erklärungen Bömelburgs überflüssig.

Nun noch eines. Bebel hat in seinem Referat unter anderem bemerkt, es gibt im Leben der Parteien wie der Völker Situationen, in denen sie den Kampf aufs Äußerste aufnehmen müssen, selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin. Wie stehen wir nun zur russischen Revolution, in deren Verlauf gerade jetzt wieder von der Konterrevolution Orgien der Grausamkeit und Gemeinheit gefeiert werden, die in der Weltgeschichte ohnegleichen sind. Das Blut, das unsere Brüder drüben vergießen, vergießen sie für uns, für das Proletariat der ganzen Welt („Bravo!"), und was immer wir für unsere kämpfenden russischen Brüder von hier aus getan haben, ist nichts als ein kleines Scherflein, mit dem wir uns von den Blutopfern loskaufen, die im Osten auch für uns gebracht werden. Wir stehen trotz allem, was wir bisher getan haben, unendlich tief in der Schuld gegenüber unseren russischen Brüdern und Schwestern. Kein Zweifel, auch für uns deutsche Sozialdemokraten muss das Wort gelten und gilt das Wort: Lieber von den Henkern des Zarismus und seinen Helfershelfern gehenkt, als Helfershelfer der Henker des Zarismus sein. („Bravo!") Darüber darf weder in Deutschland noch in Russland ein Zweifel sein. Das wird auch Bebel, aus dem gestern mehr seine grauen Haare als sein immer junges Herz gesprochen haben, dennoch mit aller unzweideutigen Schärfe dorthin rufen, wo man es zu hören hat. Auf die Stellung des deutschen Proletariats zu dieser Frage blickt nicht nur die deutsche und die russische Regierung, sondern auch die gesamte russische Freiheitsbewegung. (Zwischenruf.) Bebel hat gestern von der Möglichkeit einer Intervention gesprochen. Die von mir angegriffenen Ausführungen handeln gerade von diesem möglichen Falle, dessen äußerste Unwahrscheinlichkeit allerdings außer Zweifel steht. Wir müssen daher einmütig betonen, dass uns kein Opfer zu groß ist für unsere russischen Freunde. Sollte versucht werden, das deutsche Volk zum Scharfrichter an der russischen Freiheit zu machen, was gleich sein würde einer Selbstschändung und kulturellen Selbstvernichtung des deutschen Volkes, so würde einfach alles aufhören, so würde eine von jenen Situationen vorliegen, von denen Bebel gestern in dem oben von mir zitierten Satz sprach. Es soll nicht in der Weltgeschichte heißen: Die russische Freiheitsbewegung ist durch das deutsche Volk, das zugleich die größte und stärkste Organisation des internationalen Proletariats besaß, niedergeworfen worden. Vor dieser Todsünde müssen wir uns bewahren. Wir wären erbärmliche Kerls, und der Teufel sollte uns holen, wenn wir nicht dafür sorgen würden, dass jeder etwaige Versuch, der russischen Revolution aus Deutschland in den Rücken zu fallen, mit einer gründlichen Niederlage auch der preußisch-deutschen Reaktion enden würde. (Lebhafter Beifall.)

1 Für das allgemeine Wahlrecht zum Reichsrat und zu den Landtagen. Die Red.

2 Legien hatte den Antrag gestellt, dem ersten Absatz der Resolution Bebels (136) „Der politische Massenstreik" folgende Fassung zu geben: „Der Parteitag bestätigt den Jenaer Parteitagsbeschluss zum politischen Massenstreik, der mit der Resolution des Kölner Gewerkschaftskongresses nicht im Widerspruch steht." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 138.)

Dieser Antrag wurde im Verlauf der Debatte durch einen von Legien und Bebel gemeinsam eingebrachten Abänderungsantrag ersetzt: „Der Parteitag bestätigt den Jenaer Parteitagsbeschluss zum politischen Massenstreik und hält nach der Feststellung, dass der Beschluss des Kölner Gewerkschaftskongresses nicht im Widerspruch steht mit dem Jenaer Beschluss, allen Streit über den Sinn des Kölner Beschlusses für erledigt." (Ebenda, S. 143.)

Dieser Antrag wurde mit 323 gegen 62 Stimmen angenommen. Karl Liebknecht stimmte für den Antrag, Rosa Luxemburg dagegen. Die Abstimmung bedeutete faktisch einen Sieg der Revisionisten über die Linken. Die Kölner Resolution hatte selbst die Diskussion des politischen Massenstreiks als verderblich erklärt.

3 Kautskys Amendement enthielt die Forderung, der Resolution Bebels (136) den folgenden Passus anzuschließen:

Um aber jene Einheitlichkeit des Denkens und Handelns von Partei und Gewerkschaft zu sichern, die ein unentbehrliches Erfordernis für den siegreichen Fortgang des proletarischen Klassenkampfes bildet, ist es unbedingt notwendig, dass die Gewerkschaften von dem Geiste der Sozialdemokratie beherrscht werden. Es ist daher Pflicht eines jeden Parteigenossen, in diesem Sinne in den Gewerkschaften zu wirken (und sich bei der gewerkschaftlichen Tätigkeit wie bei jeder anderen öffentlichen Betätigung an die Beschlüsse der Parteitage gebunden zu fühlen. Dies ist geboten im Interesse der gewerkschaftlichen Bewegung selbst, denn die Sozialdemokratie ist die höchste und umfassendste Form des proletarischen Klassenkampfes, und keine proletarische Organisation, keine proletarische Bewegung kann ihrer Aufgabe vollständig gerecht werden, die nicht vom Geist der Sozialdemokratie erfüllt ist)." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 138.)

Nachdem im ersten Satz das Wort „beherrscht" durch „erfüllt" ersetzt und der in Klammern gesetzte Teil, der entscheidendste des Amendements, zurückgezogen worden war, wurde der Antrag angenommen.

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