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Karl Liebknecht 19070200 Die Methoden des Reichslügenverbandes

Karl Liebknecht: Die Methoden des Reichslügenverbandes

[Institut für Marxismus-Leninismus heim ZK der SED, Berlin, Archiv, Nachlass: Karl Liebknecht. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 3-9]

Die agitatorischen Methoden des Reichsverbandes1 sind im Wesentlichen: mündliche Agitation durch besonders ausgebildete Agitatoren; schriftliche Agitation durch die Presse und durch Flugblätter.

Der Reichsverband veranstaltet eigene Versammlungen oder unterstützt die von ihm geförderten Parteien durch seine Redner in ihren Versammlungen. Ferner schickt er seine Redner systematisch in gegnerische Versammlungen. Sehr geschickt sucht er in die von ihm selbst veranstalteten Versammlungen Anhänger der Sozialdemokratie zu locken, insbesondere dort, wo die Sozialdemokratie keine Versammlungen abhalten kann, und in sehr geriebener Weise versteht er, überall die Sozialdemokratie zu hindern, diese seine Versammlungen zu ihren Zwecken agitatorisch auszunutzen. Er bindet sich beileibe an keine Schablone, sondern passt sich skrupellos aufs Geschmeidigste den jeweiligen örtlichen und zeitlichen Verhältnissen an.

Wo ihm die Zulassung von Sozialdemokraten gefährlich werden könnte, verweigert er ihnen den Zutritt; anderwärts, wo er sicher ist, eine Mehrheit seiner Freunde zu finden, gewährter ihnen Zutritt, aber keine Redefreiheit. Wo er überzeugt ist, unter den Sozialdemokraten keinen wirksamen Gegner zu finden, gibt er ihnen Zutritt und Redefreiheit. Bald gibt er Redefreiheit jedermann, bald nur den Wählern des Kreises, bald nur denen des Ortes, je nachdem er am besten abschneiden zu können glaubt. Stets gibt er nur beschränkte Redezeit und sucht die Grenze willkürlich so zu ziehen, dass der Gegner den Kürzeren ziehen muss. So gelingt es ihm nicht selten, bei urteilslosen Zuhörern den Anschein eines Kampfes mit gleichen Waffen zu wecken und das Odium von sich abzuwälzen, als scheue er den Kampf Aug in Auge mit der Sozialdemokratie. Er reizt durch diese niederträchtige und hinterhältige Taktik die anwesenden Sozialdemokraten bis aufs Blut, so dass sie gar oft begreiflicherweise ihre Empörung nicht mehr zügeln können und die Versammlungen einen stürmischen Verlauf nehmen. Das nützt er dann wieder aufs Gewissenloseste aus, um den Spießer gegen den „Terrorismus" der Sozialdemokratie scharf und wild zu machen und schwankenden, aussichtslosen Elementen einen schrecklichen Popanz, tituliert Sozialdemokratie, in grellen Farben vorzumalen.

Alles in allem sind die Erfolge des Reichsverbandes und seiner Verbündeten, die sie mit dieser Versammlungstaktik errungen haben, nicht gerade glänzend. In sehr vielen Fällen wurden unsere Versammlungen durch das Auftreten dieser „Gegner" doppelt wirksam. Das hängt mit der Qualität der Reichsverbandsagitatoren zusammen, die ein besonderes Kapitel verdient.

Diese Qualität ist, soweit es sich um die üblichen berufsmäßigen Reichsverbandssöldlinge handelt, sehr mäßig. Diese armen Schacher, meist verkrachte, angefaulte Existenzen, lügen und verleumden gegen Barzahlung, vertreten jede ihnen aufkommandierte „Überzeugung" gegen Barzahlung, verkaufen ihre Seelen gegen Barzahlung – wahrhafte Bravos des Kapitalismus. Mit den groben Schmutzereien dieser meist wenig gebildeten Burschen fertig zu werden, fällt der Regel nach auch dem sozialdemokratischen Durchschnittsredner um so leichter, je stereotyper sich die Hauptvorwürfe oder -anwürfe, ihre Hauptschlager, wiederholen. Das gilt vom Kaliber der Komoll, Kretschmar usw.

Gerade im verflossenen Wahlkampf aber war für den Reichsverband eine ganze Armee von Agitatoren viel besseren Kalibers auf den Beinen, und zwar zum großen Teil unbezahlte Kräfte, Lehrer, Beamte und sogenannte Intellektuelle aller Art, die oft politisch gut geschult waren und nicht selten alle Register der Demagogie beherrschten. Gewiss hängt das gerade mit dem besonderen Charakter der diesmaligen Wahl, die das Bürgertum außergewöhnlich mobilisierte und in allen seinen Schichten zusammenbrachte, eng zusammen.

Noch eine andere Förderung gewährte dieser besondere Charakter der Wahl der Reichsverbandsagitation im Allgemeinen: Der Reichsverband hat, äußerlich wenigstens, kein positives Programm, sondern nur ein negatives, polemisches, das im Kern und Erfolg freilich positiv genug ist. Das Hin- und Herlavieren zwischen den verschiedenen nicht-sozialdemokratischen Parteien, diese grundsätzliche Grundsatzlosigkeit in all den Fragen der praktischen Politik, in denen jene Parteien nicht übereinstimmen – und das sind sehr viele Fragen –, muss auf die Dauer kläglich wirken, der Agitation Kraft und Saft rauben. Bei den verflossenen Wahlen währte einerseits der Kampf nur kurz, andererseits wurde er unter einigen immerhin zugkräftigen Parolen geführt, die als Surrogate für ein gemeinsames Programm der sogenannten „nationalen" Parteien dienten.

Daraus folgt, dass die diesmalige Kraftentfaltung des Reichsverbands und seiner Trabanten nicht normal war. Da aber viele andere Umstände, mindestens für alle sozial kritischen Zeiten, eher bessere als schlechtere Gesamtbedingungen für die Kraftentfaltung jenes Verbandes oder irgendeiner gleichartigen Organisation sichern, so wäre es gründlich verfehlt, sich hier in Seelenruhe auf bessere Zeiten zu getrösten: Der Gewerkschaftskampf zeigt hier dem geschärften Auge die Spuren, die zwar nicht schrecken, aber warnen. „Cave Consul!"

In der Presseagitation ist uns der Reichsverband bei weitem über. Natürlich arbeitet er unter sehr bequemen Bedingungen, die ganze Ordnungspresse, die ja auch schon bisher ihr Möglichstes in der Hetze gegen den „inneren Feind" geleistet hat, steht seiner Korrespondenz offen. Sie wird damit uniformiert und, soweit davon überhaupt noch die Rede sein kann, in ihrem Niveau herabgedrückt. Aber das ist dem Ordnungsbrei ganz gleichgültig. Ihm passt diese Presse-Drillanstalt, denn er will keine geistige Selbständigkeit.

In der Großstadtpresse spielt die Reichsverbandskorrespondenz, die ihren Unrat unablässig über die Arbeiterbewegung schüttet, naturgemäß eine geringere Rolle; hier könnte sie aber auch gerade am wenigsten schaden, weil hier die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften sich ziemlich leicht wehren können. Um so gemeingefährlicher ist sie für die Provinz, am gefährlichsten für das flache Land, das der korrupten Kreisblattpresse auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist, in das unsere Presse kaum dringt und auf das unsere Presse auch dem Inhalt und der Schreibweise nach meist gar nicht zugeschnitten ist. Man beachte: So gering die Auflage all jener Schmutzblätter ist, sie dürfen ohne Furcht von allen gelesen werden und verbreiten sich leicht von Hand zu Hand. Sie liegen in allen Wirtschaften aus und werden massenhaft gelesen.

Die Flugblattagitation des Reichsverbandes e tutti quanti war zweifelsohne ihr Meisterstück. Gewiss wurden auch Flugblätter allgemeinen Inhalts gebracht, die sich sozusagen mit der politischen Gesamtlage beschäftigten. Die Hauptrolle spielten aber, und zwar beim Fortschreiten des Wahlkampfes in zunehmendem Maße, Flugblätter, die sich ausschließlich je einer einzelnen Frage widmeten, zum Beispiel „Die Führer der Sozialdemokratie", „Sozialdemokratie und Sozialpolitik", „Sozialdemokratie und Mittelstand", „Sozialdemokratie und .Bauernschaft", „Unser Sandloch Südwestafrika" usw. Diese Flugblätter, wie viele andere Presseerzeugnisse des Reichsverbands durchsetzt – mit zahlreichen „Zitaten" aus sozialdemokratischen Reden und Schriften, wurden in riesenhaften Auflagen meist über ganz Deutschland verbreitet. Für alle erdenklichen Verhältnisse wurden Flugblätter auf Lager gehalten, die, allenthalben in Probeexemplaren bekanntgegeben, bei Bedarf aufs Schnellste – äußerlich für jeden Wahlkreis zurechtgestutzt – geliefert wurden.

Großer Druck und auch sonst wirksame Ausstattung, kurze, gemeinverständliche und agitatorisch raffinierte Fassung waren der Mehrzahl dieser Schriften eigen. Die Formate wechselten; auch kleine Broschüren nach Traktatenenart wurden unter die Wähler geworfen. Die Titel waren meist geschickt gewählt. Kleinen Broschüren wurden oft gute Abbildungen beigefügt. Und dann die Bilderbogen-Flugblätter, mit denen à la Septennatswahlen2 in gemeinster Weise machiavellistisch auf die Schwächen und niederen Instinkte spekuliert und die Frauen mobilisiert wurden.

Sehr zu beachten ist auch die strategische Berechnung, mit der unsere Gegner, die Flugblattagitation wie den ganzen Wahlkampf allmählich steigernd, ihre wirksamsten Flugblätter, von langer Hand vorbereitet, bis zuletzt aufgespart haben.

Welche Aufgaben hat sich nun die Partei nach den Erfahrungen des Wahlkampfs zu stellen?

Gewiss hat sie sich allenthalben schon ihrer geschichtlichen Mission mit mustergültiger Hingebung gewidmet. Indessen fehlt, zwar nicht ihrer abwehrenden, wohl aber angreifenden Tätigkeit, in mancher Hinsicht das bis ins einzelne genügend ausgearbeitete und befolgte System. Natürlich hat damit das kindische, böswillige und verleumderische Geschwätz von der Unfruchtbarkeit der Sozialdemokratie an „positiven Leistungen" nicht das mindeste zu tun Die positive gesetzgeberische Reformarbeit der Sozialdemokratie in den Parlamenten des Reiches und der Einzelstaaten und in den Kommunen ist eine gewaltige und verzweigte. Dazu tritt die nicht-gesetzgeberische Gewerkschaftsreformarbeit, durch die unsere mangelhafte Sozialgesetzgebung vor allem auf den Gebieten des Arbeiterschutzes (der Lohn- und Arbeitsbedingungen) und der Arbeiterversicherung in oft glänzender Weise auf dem Wege der Selbsthilfe ergänzt worden ist – von dem Kassen- und Genossenschaftswesen ganz zu schweigen. Und sind die positiven Leistungen im Bildungswesen nicht schon jetzt respektabel? Ist nicht auf allen diesen Gebieten ein frisches, kühnes Vorwärtsschreiten auch dem blödesten Auge erkennbar?3

Die außerparlamentarische Arbeit wird durch den Wahlausgang, der die Gewerkschaften und die Partei enger und fester zusammen geschmiedet hat, als es ein Dutzend Mannheimer Parteitage vermocht hätten, einen lebhaften Ansporn, einen doppelt beschleunigten Aufschwung erfahren müssen. Emsigster Aufbau und Ausbau aller Organisation muss die unerlässliche Grundlage hierzu bilden, eine Grundlage, die gleichzeitig der parlamentarischen Arbeit am besten einen erhöhten Nachdruck zu verleihen vermag.

Also: Vorwärts mit verdoppelter Kraft zur organisatorischen Arbeit! Das ist die eine Parole.

Organisation ist an und für sich nur eine Form. Ihren Inhalt erhält die Form durch die Zielklarheit, die entschlossene Opferbereitschaft der Organisierten.

Kräftigste Förderung von Aufklärung und Schulung im Klassenkampfe! Das ist die zweite Parole.

Welche Mittel zur Verwirklichung dieser beiden Parolen, die nur eine schärfste Betonung jener Parolen sind, denen unsere Partei vom ersten Tag ihres Daseins gefolgt ist, stehen zu Gebote? Von der außerparlamentarischen Reformarbeit abgesehen: Agitation durch Wort und Schrift.

Diese Agitation hat einen doppelten Charakter. Sie ist kritisch bekämpfend, und sie ist positiv-zielsetzend, beides im Sinne der laufenden Tagespolitik und zugleich unserer weit ausschauenden Zukunftspolitik.: Die großen Grundsätze unserer Klassenkampf-Weltanschauung aber sind der einzig untrügliche Kompass für die kritische und die positive, zielsetzende Agitation.

Auch um sie vor der Gefahr seichtbeutelnder Verflachung immer besser zu bewahren und dem Verständnis der Massen immer näher zu bringen, bedarf es der parlamentarischen Reformarbeit, die von uns in erster Linie als ein Teil des Wegs zu unserem Endziel, sodann als Mittel zur Förderung der Kampffähigkeit des Proletariats geleistet wird und immer stärker und systematischer geleistet werden muss!

Unsere Genossen in den Staats- und Stadtparlamenten müssen künftig, das erscheint uns ein Gebot der Notwendigkeit, nicht mehr nur von Fall zu Fall mit Initiativanträgen hervortreten, sondern sie müssen stets mit einem möglichst allumfassenden Aktionsprogramm, mit großzügigen praktikablen, bis ins Einzelne gehenden Gesetzesvorschlägen auf allen wichtigen Gebieten vor die Parlamente treten.

Jene Anträge müssen sich auf die Verfassung, die Verwaltung, die Justiz, auf Heerwesen, Kolonial- und auswärtige Politik, auf Finanz- und Steuerwesen, auf Sozialpolitik in all ihren Verzweigungen, auf Wohnungs- und Schulwesen, auf das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen, auf Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehrswesen, auf Wissenschaft und Kunst, kurz, auf möglichst alle Punkte unseres Minimumprogramms erstrecken.

Das ist keine unausführbare Phantasterei! Wie viele Initiativanträge haben wir schon ausgearbeitet! Warum sollen sie nicht zusammengefasst, wo erforderlich umredigiert und nach allen möglichen Richtungen hin ergänzt werden können. Diese Arbeit muss die Partei leisten können, so schwer sie sein mag.

Sollen wir uns mit unseren Anträgen an die jeweilige parlamentarische Konstellation binden? Wir mit unserem klaren „Ewigkeitsprogramm", das uns allenthalben bis ins Kleinste hinein ohne große Schwierigkeit unsere Stellung finden lässt? Dieser umfassende Reformentwurf wäre, den veränderten Verhältnissen stets von Neuem geschickt angepasst, den Parlamenten stets von Neuem vorzulegen: ein machtvolles „Ceterum censeo" des Proletariats.

Wo ein Wille ist, da ist ein Weg! Die Kräfte, den großen Plan durchzuführen, sind vorhanden; es gilt nur, sie herauszurufen und einzuspannen. Und wenn die Mitglieder der Fraktion zu sehr belastet werden würden, was steht im Wege, außerparlamentarische Kräfte heranzuziehen? Jedes Bedenken dagegen wäre törichter Formalismus und Bürokratismus, wäre Zeichen einer Kleinlichkeit, an der die Partei sterben müsste.

1 Gemeint ist der reaktionäre Reichsverband gegen die Sozialdemokratie. Die Red.

2 Neuwahlen zum Deutschen Reichstag im Februar 1887, nachdem dieser in seiner Mehrheit gegen das Septennat, die auf sieben Jahre festgelegte Friedensstärke des deutschen Heeres, gestimmt hatte und durch Bismarck aufgelöst worden war. Die Sozialdemokratie hatte ihren Wahlkampf unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes und gegen eine wilde chauvinistische Hetze zu führen.

3 Randbemerkung Karl Liebknechts im Manuskript: Arbeitersekretariat! Die Red.

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