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Karl Liebknecht 19070918 Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!

Karl Liebknecht: Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!

Diskussionsrede in der Debatte über den Bericht vom Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart

18. September 1907

[Nach Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Essen vom 15. bis 21. September 1907, Berlin 1907, S. 283 f. und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 71-73]

Die Frage1 scheint mir im wesentlichen geklärt zu sein, besonders nach den Ausführungen von Wurm und Kautsky. Ich möchte nur auf eins hinweisen. Wenn man sagt, es komme auf die Worte nicht an, sondern auf den Sinn, den man den Worten unterlegt, so trifft das nicht ohne weiteres zu. Es können Worte einen ganz traditionellen Sinn bekommen, den zu missachten ein schwerer taktischer Fehler ist. Wer die allgemeine Volksbewaffnung in unserem programmatischen Sinn mit dem Wort Militarismus bezeichnen würde, würde mit Fug und Recht auf heftigen Widerspruch stoßen. So steht's auch mit dem Wort Kolonialpolitik, das eine ganz bestimmte historisch herausgewachsene Bedeutung besitzt, die wir nicht ignorieren können. Und warum sollen wir das schmutzige und blutige Wort Kolonialpolitik mit dem uns heiligen Wort sozialdemokratisch verbinden? Wir wollen sozialdemokratische Zivilisationspolitik, Kulturpolitik treiben! Das Wort: „sozialdemokratische Kolonialpolitik" ist aber auch ein logischer Widerspruch in sich selbst; denn das Wort „Kolonie" schließt bereits die Begriffe „Bevormundung", „Beherrschung", „Abhängigkeit" ein.

Dass es sich hier aber nicht nur um einen sozusagen philologischen Streit handelt, dass das Wort „Kolonialpolitik" von den Hauptbefürwortern der Resolution van Kol2 auch in diesem Sinne gemeint ist, beweist die Betonung der Notwendigkeit, die niederen Völker gegebenenfalls zu bevormunden, ja, ihnen mit Waffengewalt gegenüberzutreten. Also kein bloßer Streit um Worte, sondern eine sachlich ernste Auseinandersetzung. Wir können uns beglückwünschen, dass in Stuttgart die sogenannte Minoritätsresolution3 angenommen worden ist.

Ich habe mich zum Worte gemeldet, um einige Ausführungen über die Frage der Ein- und Auswanderung zu machen, die in der Diskussion etwas kurz weggekommen ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die eminente Wichtigkeit dieser Frage lenken. Ich habe viel Gelegenheit, die Misere der Einwanderer in Deutschland und insbesondere ihre Abhängigkeit von der Polizei zu beobachten, und ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Leute zu kämpfen haben. Ihre Vogelfreiheit sollte gerade uns deutsche Sozialdemokraten besonders veranlassen, uns mit der Regelung des Fremdenrechtes, besonders der Beseitigung der Ausweisungsschmach, schleunigst und energisch zu beschäftigen. Es ist ja bekannt, dass die gewerkschaftlich organisierten Ausländer mit Vorliebe ausgewiesen werden.

In jüngster Zeit habe ich in meiner Praxis folgenden Fall erlebt, der zugleich ein Schlaglicht auf unsere agrarische Privilegienwirtschaft wirft: Ein russisch-polnischer Vergolder nimmt in Rummelsburg Stellung als Vergolder. Kurz darauf erhält er vom Amtsvorsteher eine Verfügung, er solle sich innerhalb 14 Tagen als landwirtschaftlicher Arbeiter verdingen, widrigenfalls werde er ausgewiesen. („Hört! Hört!") Ich habe dagegen alle zulässigen Rechtsmittel ergriffen. Ich habe gesagt, die „Verfügung" verstößt aufs Gröbste gegen Gesetz und Recht. Man hat erwidert: Die „Verfügung" entspreche den „bestehenden Bestimmungen". Auf mein wiederholtes Verlangen, mir diese „Bestimmungen" wenigstens zu bezeichnen, hat man einfach nicht reagiert. Jetzt schwebt die Sache beim Oberverwaltungsgericht. Namentlich die russischen Auswanderer befinden sich in einer sehr schwierigen Position.

Die Resolution des Stuttgarter Kongresses bestimmt auch über unsere Stellung zur Ausweisungsfrage4; darauf sei hier nachdrücklich hingewiesen. Sie enthält unter Ziffer 3 des Minimumprogramms die Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalte im Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen. Hierzu war von Ungarn ein Zusatzantrag gestellt, wonach die Ausweisung den Garantien einer gerichtlichen Entscheidung unterworfen werden sollte. Dieser Antrag wurde zurückgezogen, nachdem Übereinstimmung darüber erzielt war, dass durch die erwähnte Ziffer 3 die Beseitigung des gesamten Ausweisungsrechtes gefordert sei. Die Kongressresolution fordert also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein. Die Beschäftigung mit der Wanderungsfrage ist ein Ruhmesblatt für den Internationalen Kongress. Das Problem ist jedoch noch nicht entschieden, die Stuttgarter Resolution ist nur ein erster Schritt auf diesem Gebiet.

Ich bitte Sie, alles Ihnen zugehende Material in der Presse zu veröffentlichen, damit wir eine der wichtigsten Fragen im wirtschaftlichen und politischen Kampfe des Proletariats sachdienlich und gerecht lösen können. Der Ernst dieser Frage darf nicht verkannt werden. (Beifall.)

1 Gemeint ist die Stellungnahme des Parteitages zur Haltung der deutschen Delegation auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale zur Resolution über die Kolonialfrage. Die Red.

2 Karl Liebknecht bezieht sich hier auf die Diskussion über die Kolonialpolitik auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale 1907.

Die in ihrer Mehrheit aus rechten Sozialdemokraten wie van Kol, David und Bernstein bestehende Kommission legte dem Kongress eine Resolution vor, in der im ersten Absatz von einer in Zukunft möglichen „zivilisatorisch wirkenden sozialistischen Kolonialpolitik" gesprochen wurde. Lenin entlarvte die Haltung der Opportunisten als eine Absage an den proletarischen Internationalismus und wies darauf hin, dass in den Ländern, die über bedeutende Kolonien verfügten, viele sozialdemokratische Führer zu Verteidigern der Ausbeutung der Kolonialvölker geworden seien.

3 Die Kommissionsminderheit beantragte, den ersten Absatz der Mehrheitsresolution zu streichen und schlug eine neue Formulierung vor, in der es unter anderem hieß: „Der Kongress ist der Ansicht, dass die kapitalistische Kolonialpolitik ihrem innersten Wesen nach zur Knechtung, Zwangsarbeit oder Ausrottung der eingeborenen Bevölkerung der Kolonialgebiete führen muss. Die zivilisatorische Mission, auf die sich die kapitalistische Gesellschaft beruft, dient ihr nur als Deckmantel für die Eroberungs- und Ausbeutungsgelüste. Erst die sozialistische Gesellschaft wird allen Völkern die Möglichkeit bieten, sich zur vollen Kultur zu entfalten."

Der Kongress nahm am 22. August 1907 die durch den Minderheitsvorschlag verbesserte Resolution an. (Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 25 und 39.)

4 Gemeint ist die Resolution des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale 1907 zur Ein- und Auswanderung, die die Ein- und Auswanderung als Erscheinung des Kapitalismus brandmarkte, eine weitgehende Neuregelung des Transportwesens forderte und der organisierten Arbeiterschaft konkrete Maßnahmen vorschlug zur Herstellung der Gleichberechtigung der Einwanderer, zum Kampf gegen die Senkung des Lebensstandards der Arbeiter und zur Verhinderung der Ein- und Ausfuhr von Streikbrechern.

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