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Karl Liebknecht19070826 Jugend im Kampf gegen den Militarismus

Karl Liebknecht: Jugend im Kampf gegen den Militarismus

Bericht über die Rede auf der Ersten Internationalen Konferenz der Sozialistischen Jugendorganisationen in Stuttgart

[Bericht über die erste internationale Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen. Abgehalten zu Stuttgart vom 24. bis 26. August 1907, Stuttgart 1907, S. 28-49. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 43-63]

Der Redner führte etwa aus:

Nicht darum könne es sich handeln, stets von Beuem zu betonen, dass der Militarismus eine Kulturschmach sei und dass wir ihn hassen und folglich beseitigen müssen. Die Grundlage für unseren Kampf gegen den Militarismus müsse ein klares Verständnis über das Wesen des Militarismus und seine Bedingungen sein, insbesondere über die innerhalb der Gesamtheit des Kapitalismus und innerhalb des Militarismus selbst wirkenden Triebkräfte, Tendenzen und Gegentendenzen.

Das Heerwesen hat historisch zwei Wurzeln, die eine in den Gegensätzen zwischen einzelnen Organisationen von Menschen (politischen Einheiten), die andere in den Gegensätzen innerhalb dieser politischen Einheiten selbst. In erster Beziehung handelt es sich um den Konkurrenzkampf der politischen Einheiten untereinander, wobei diese Einheiten sowohl auf verschiedenem wie auf gleichem Kulturniveau stehen können. In der zweiten Beziehung spielen nationale Differenzen innerhalb des Staates, vor allem aber die Klassengegensätze, eine entscheidende Rolle. Die Gegensätze innerhalb des Staates selbst besitzen auch ihre besondere Bedeutung für das Verhältnis der Staaten untereinander, insofern sie verschiedene Interessen der einzelnen Teile der Bevölkerung in Bezug auf die internationale Konkurrenz, die Konkurrenz der Staaten untereinander, ergeben.

Wir pflegen zu sagen, die Regierung sei ein Ausschuss der herrschenden Klassen. Das trifft so schlechthin nicht überall zu. Die Regierungsgewalt selbst hat sich vielfach in beträchtlichem Umfang verselbständigt, sich eine eigene ökonomische Grundlage geschaffen, ein großes Beamtenheer und andere Kostgänger in ihre unmittelbare ökonomische Abhängigkeit gebracht und sich schon durch das Recht zur mehr oder minder weitgehenden Disposition über die vorhandenen Machtmittel des Staates einen besonders charakteristischen Einfluss gesichert. Abgesehen von den rein demokratischen Ländern, bildet die Regierung daher, und zwar besonders in alten, fest fundierten Monarchien, gewissermaßen eine Klasse für sich selbst. Und die Klassen, auf die sie sich stützt, brauchen auch in kapitalistischen Ländern nicht unter allen Umständen die kapitalistischen Klassen zu sein, wenigstens nicht nur. Dafür bietet Österreich ein Beispiel. Dort hat die Monarchie ja erst in allerjüngster Zeit gegenüber den zentrifugalen Kräften der nationalen Gegensätze die zentripetale Kraft des Proletariats, die umstürzlerische Sozialdemokratie, durch Verleihung des allgemeinen Wahlrechts anrufen müssen. Natürlich liegt das nicht innerhalb der normalen Entwicklungsreihe. Es hat aber doch in den Köpfen mancher österreichischen Parteigenossen eine gewisse Verwirrung über das Wesen des Staates und des Militarismus hervorgerufen. Das Normale und Wesentliche aber ist immerhin durch den Satz getroffen, dass die Regierung ein Ausschuss der herrschenden Klasse, das heißt für den Kapitalismus: der kapitalistischen Klassen, ist.

Der Redner geht dann des Näheren auf die besondere politische Funktion ein, die die Gewalt ausübt, insbesondere die physische Gewalt, auf die politische Bedeutung der Waffen und der schlagfertigen Organisation der Gewaltausübung. Er führt Beispiele dafür an, wie das volle Verständnis der Regierung für diese Tatsache in den vielen Vorschriften über die Regelung des Waffenhandels und Waffentragens ganz naiv und drastisch zum Ausdruck kommt: Der Besiegte muss vor allem entwaffnet werden.

Die Armee ist bei weitem die schneidigste Waffe des Staats. Aber sie ist nur Mittel zum Zweck, wenn sie auch vielfach die Tendenz zeigt, Selbstzweck zu werden. Ihr Umfang und ihre Form richten sich daher nach dem Zweck, in den außenpolitischen und innenpolitischen Spannungen als geeignete Waffe zu dienen; sie stehen in einem direkten Verhältnis zu diesen Spannungen. Der Militarismus ist hiernach nichts spezifisch Kapitalistisches.

In der kapitalistischen Gesellschaft tritt er in drei Formen auf: als Land-, See- und Kolonialmilitarismus. Die Armee setzt sich zusammen aus dem Landheer, der Marine und den besonderen Kolonialtruppen.

Es ist bedauerlich, dass die Resolution des Internationalen Kongresses zum Punkt Militarismus, so wie sie die Rolle des Militarismus in der inneren Politik gänzlich übergangen hat, auch dem Marinismus keine hinreichende Beachtung schenkt. Unsere englischen Freunde haben anscheinend nur unter Einfluss dieser Gedankenrichtung wiederholt betont, in England kenne man keinen Militarismus. Dabei haben sie ganz vergessen, dass gerade in England der See- und Kolonialmilitarismus einen Grad der Entwicklung erreicht haben, der den festländischen Militarismus nahezu in den Schatten stellt.

Natürlich entwickeln sich diese verschiedenen Arten von Militarismus nicht überall und auch nicht überall gleichmäßig, weil eben nicht in allen Staaten die Bedingungen oder wenigstens die gleichmäßigen Bedingungen für die Ausbildung jeder seiner Form gegeben sind.

Welches sind nun diese Bedingungen? Natürlich kann diese Frage hier nicht speziell für jedes einzelne Land behandelt werden. Es genügt, die Tendenzen aufzuzeichnen, wobei es im Begriff dieser Tendenzen liegt, dass sie sich nicht voll und rein verwirklichen können.

Der Redner erörtert nun eingehend zunächst die internationalen Gegensätze innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. – Die Kolonialpolitik vor allem schafft neue Reibungsflächen von größter Gefährlichkeit zwischen den kapitalistischen Staaten selbst. Sie hat aber auch ihre besonderen Kriegsgefahren: die Gefahr der Konflikte zwischen den verselbständigten Kolonien und dem Mutterland und die Gefahr der Eingeborenenaufstände. Denken Sie nur an Algier, Tongking, die verschiedenen Gebiete Afrikas und schließlich Indien.

Die kapitalistische Expansion, die wir als ein Naturgesetz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erkennen, macht die einzelnen kapitalistischen Staaten zu immer schärferen Konkurrenten untereinander. Bereits wird die Erde zu eng. Die Konkurrenten sind sich nah auf den Leib gerückt, sie stehen sich Brust an Brust, Auge in Auge bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Der Grundzug des Kapitalismus ist ja nicht: sowohl du als ich, sondern: du oder ich.

Es soll nicht bestritten werden, dass die Annexion von Elsass-Lothringen durch Deutschland, wie Marx prophetisch voraussagte, zu einer Aufrechterhaltung und besonders heftigen Zuspitzung auch der innerhalb Europas selbst bestehenden interstaatlichen Gegensätze viel beigetragen hat. Das gehört indessen jetzt nahezu der Vergangenheit an. Zum Verständnis der gegenwärtigen militaristischen Entwicklung braucht es kaum mehr herangezogen zu werden.

Die kapitalistische Expansion ist es, die allenthalben auf die Verschärfung der Rüstungen hinwirkt, eben weil sie die internationale Spannung verschärft. Nur einige wenige kleine Staaten stehen fast außerhalb dieser interstaatlichen und kapitalistischen Konkurrenz. So unterliegen insbesondere Schweden und Norwegen, in gewissem Sinne auch die Schweiz, infolge ihrer internationalen Neutralisierung besonderen Ausnahmebedingungen ebenso wie Holland und Belgien, trotz ihrer Kolonien. Im übrigen entwickeln sich vor unseren Augen in lebhaftem Tempo besonders der Marinismus und der Kolonialmilitarismus – ein deutliches Anzeichen für die Ursachen der zunehmenden internationalen Spannung.

Auch der Landmilitarismus steigert sich überall dort, wo seine Verwendung überhaupt in Frage kommt. England schien hier bisher geschützt. Durch die Verbesserung der Technik aber ist es erreicht, dass die insulare Lage nur noch ein immer schwächer werdendes Hindernis für den Einfall feindlicher Truppen bildet. Sie entsinnen sich der Panik, die die phantastisch übertriebene Betonung dieses Umstandes in einigen Sensationsromanen in weiten Kreisen der englischen Bevölkerung hervorgerufen hat. Gewiss, die Voraussetzungen des bisherigen englischen militaristischen Systems beginnen zu wanken. Daher eine gewisse Unsicherheit und die außergewöhnliche Geschäftigkeit Eduards1. Daher die Haltung auf der Haager Konferenz2 und das lebhafte Streben nach einer Reform des Landmilitarismus, wobei die Einführung einer Miliz und der allgemeinen Wehrpflicht – das haben unsere englischen Freunde deutlich genug erkannt – einen Schritt zur Verstärkung des Militarismus bedeuten würde.

Je größer die Armee, um so stärker die Waffe. Daher ist die Tendenz zur Vergrößerung von Heer und Marine der kapitalistischen Entwicklung immanent, ohne dass sich diese Tendenz freilich überall zu realisieren braucht. Die Tendenz geht zur höchstmöglichen Ausbildung der militärischen Kraft, also zur allgemeinen Wehrpflicht. Die kapitalistische Expansion aber bedarf auch eines Heeres, das zum Angriff die höchste Tüchtigkeit besitzt, das gilt für die Form des stehenden Heeres, einer Art Zwitter zwischen Berufsheer und Volksheer: Das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht ist das letzte Wort unserer internationalen militaristischen Entwicklung. Es ist insbesondere in den großen Staaten des europäischen Festlandes schon seit langem zum höchsten Raffinement ausgebildet, und Japan steht nicht zurück. Diese Form des stehenden Heeres bildet aber für diese Staaten selbst eine neue, besondere Kriegsgefahr.

Der Redner erläutert dies näher unter Anführung einer brutal offenherzigen Äußerung Bismarcks in seinen „Gedanken und Erinnerungen".

Dies sind die Tendenzen für den äußeren Militarismus. Ihre Darstellung ist aber nur die halbe Wahrheit.

Die Steigerung der Lasten, besonders die ungeheuerliche Zunahme der Kostenlast, ist unseren Herrschenden höchst unangenehm. Freilich suchen sie nach Möglichkeit diese Lasten auf die Schultern der minderbemittelten Volksklassen abzuwälzen – auch in der höchst brutalen, selbst gemeinen Art der Invalidenabfindung. Indessen hat das seine zwei Seiten und seine Grenze, da es zur Verschärfung der innerpolitischen Situation beiträgt und die Ausbeutungsfähigkeit des Proletariats vermindert.

Ein wesentlicher Grund für die großen Kosten ist die lange Dienstzeit. Eine Verkürzung der Dienstzeit ermöglicht die raschere und billigere Ausbildung eines großen Heeres. Trotz der aus der innerpolitischen Situation sich ergebenden Neigung zur Ausdehnung der Kasernierung als eines besonderen Mittels zur Züchtung des militaristischen Geistes gegenüber dem äußeren und dem inneren Feind setzt sich daher in neuerer Zeit vielfach die Tendenz zu einer Verkürzung der Dienstzeit durch. Das neueste Beispiel bietet Frankreich, wo freilich auch der Antiklerikalismus mitwirkt.

Weit wichtiger aber ist folgendes: Der Zuspitzung der Interessengegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten steht eine sich fortgesetzt verstärkende Verknüpfung der Lebensinteressen dieser Staaten gegenüber. Handel und Verkehr, das Bankwesen und selbst die Industrie sind längst international geworden. All die großen Staaten sind auf den gegenseitigen Güteraustausch schlechthin angewiesen. Eine internationale Arbeitsteilung beherrscht die Weltwirtschaft; selbst der Arbeitsmarkt ist längst in größerem Umfange international geworden. Dass sich auch im übrigen die geistigen Kulturen der kapitalistischen Staaten immer mehr untereinander nähern und gegenseitig durchdringen, spielt daneben freilich nur eine geringe Rolle. Natürlich bildet all dies für eine kriegerische Auseinandersetzung ein schwerstes Hindernis.

In der gleichen Richtung wirkt die immer größere Riesenhaftigkeit der Armeen, die schließlich in vielen Staaten fast alle arbeitsfähigen Menschen umfassen, deren Einberufung dem gesamten Volke die Möglichkeit nimmt, für seinen Unterhalt zu sorgen, und in Verbindung mit der Unterbrechung der auswärtigen Zufuhr zunächst zu einer gewaltigen Steigerung aller Preise und Schlag auf Schlag zu einer gänzlichen Unterbindung aller Lebensquellen führen muss.

Und noch ein weiteres: Die technische Entwicklung unseres Kriegswesens geht geradezu ins Phantastische. Ein Jules Verne und selbst die größten Konzeptionen der Menschheit von den Schrecken des Jüngsten Gerichts und der Hölle sind übertrumpft worden durch unsere heutigen Kriegsinstrumente und die Grauenhaftigkeit unserer heutigen Kriege. Ich will nur auf eines hinweisen. Noch ist's nicht lange her, dass die Kriege auf gleichem Niveau, auf der Oberfläche von Meer oder Land, ausgefochten wurden. Das gehört der Vergangenheit an. Das Unterseeboot und die kolossal entwickelte Minentechnik ermöglichen den Kampf von unten nach oben. Durch das lenkbare Luftschiff ist nun auch die Luft erobert: Der Krieg kann von oben nach unten geführt werden. Der dreidimensionale Krieg ist heute die kriegstechnische Wirklichkeit. Damit sind alle Grundlagen unserer gegenwärtigen militaristischen Systeme verändert. Die Niveauheere verlieren ihre Bedeutung. Ich erinnere an den bekannten amerikanischen Roman „Caesars Denksäule", in dem schon vor mehreren Jahrzehnten die Folgen einer solchen technischen Entwicklung hellseherisch ausgemalt worden sind. Die Verwendung von giftigen Gasen, die bereits in den Festungskriegen, zum Beispiel in den sogenannten Stinkbomben, erfolgt, eröffnet hier unsägliche Perspektiven. Die in meinem beschlagnahmten Buch erwogene Möglichkeit einer so hohen technischen Entwicklung, dass die Kriege schon allein durch sie unmöglich werden, scheint sich trotz des Spottes, mit dem sie hier und da überschüttet wurde, rascher zu verwirklichen, als ich selbst geglaubt hatte.

Doch auch damit nicht genug. Die Entwicklung und Verschärfung der Klassengegensätze selbst mag zwar eine gewisse Neigung zu bonapartistischen Kunststücken hervorrufen, indessen wirkt sie zweifellos viel energischer in der entgegengesetzten Richtung und erzeugt eine Tendenz gegen kriegerische Auseinandersetzungen. Im Kriege ist weit mehr als in Friedenszeiten das ganze Volk in Waffen. Der Kasernenhofdrill vermag das Kriegsheer weit schwerer zu umklammern als das stehende Heer des Friedens. Die zur Ergänzung herangezogenen älteren Mannschaften sind an sich mehr zur Selbständigkeit geneigt. Der Stand unserer heutigen Kriegstechnik zwingt zur Verleihung immer größerer Selbständigkeit an den Einzelnen. Die persönliche Bravour des einzelnen Soldaten spielt eine gesteigerte Rolle. Die große Masse des Heeres muss mit Leib und Seele, mit dem ganzen Herzen für den Krieg begeistert sein, wenn das Heer seine volle Schlagkraft entfalten soll. Das um so mehr, je unmenschlichere, wahnsinnigere Anforderungen rein physiologisch aber auch psychologisch die heutige Kriegführung, aber auch die Schlacht erheben. Die Stellung der breiten Massen des Volkes zum Kriege kann den herrschenden Gewalten weniger denn je gleichgültig sein. Das schlagendste Beispiel ist, von den Koalitionskriegen und den Burenkriegen abgesehen, der Russisch-Japanische Krieg. Damit gewinnen die Interessengegensätze innerhalb der kapitalistischen Staaten, die verschiedene Stellung der einzelnen Klassen zu den innerstaatlichen, insbesondere den aus der kapitalistischen Expansion folgenden Konflikten, eine stets wachsende Bedeutung.

Das Proletariat steht diesen Konflikten allenthalben mindestens kühl, meist feindlich gegenüber. Dem Proletariat aller Länder wird auch mit der zunehmenden Klassenscheidung die internationale Interessensolidarität immer mehr selbstverständlich und zu Fleisch und Blut. Dem gegenüber steht die fortwährende Steigerung des Gegensatzes zwischen dem Proletariat und den herrschenden Klassen innerhalb der einzelnen Staaten und die damit immer mehr wachsende Abneigung der großen Masse der Bevölkerung, sich zum Kanonenfutter für die herrschenden Klassen herzugeben, die sich die Entscheidung über Krieg und Frieden vorbehalten. Kurzum, die Armee wird mit der Zuspitzung der Klassengegensätze auch gegenüber dem äußeren Feind immer unzuverlässiger, und zwar je mehr sich das Proletariat zur Erkenntnis seiner besonderen Interessen durchringt und zum Entschluss, diese Interessen rücksichtslos zu vertreten, das heißt Klassenbewusstsein erwirbt.

Dieses Klassenbewusstsein verbreitet sich um so leichter, je mehr der Kapitalismus selbst zu seiner vollen Entfaltung einer gesteigerten Intelligenz des Proletariats bedarf und infolgedessen diese Intelligenz, wenn auch noch so widerwillig, erzeugen muss. Die herrschenden Klassen fühlen auch immer mehr, dass das klassenbewusste Proletariat vor der Tür steht, bereit und imstande, beim Ausbruch eines Weltkrieges die Zügel des Völkergeschickes selbst in die Hand zu nehmen, mag der Ausgang des Krieges sein, welcher er wolle.

So erzeugen Kapitalismus und Militarismus selbst den Feind, der sie zu Boden werfen wird.

Sie sehen aus diesen vielen widerstreitenden Tendenzen in schlagender Weise den antagonistischen Charakter, die innere Dialektik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und im Speziellen des Militarismus.

Es bedarf nicht mehr der besonderen Darlegung, dass das Proletariat, die Sozialdemokratie allen heute praktisch wahrscheinlichen Kriegen mit Notwendigkeit grundsätzlich gegnerisch gegenüberstehen, dass sie schon aus diesem Grunde durch und durch antimilitaristisch sind und dass ihre Forderung, dort, wo bisher stehende Heere bestehen, diese durch eine allgemeine Volkswehr zu ersetzen, den äußeren kapitalistischen Militarismus, der eben der Angriffsarmee bedarf, ins Herz trifft. Es bedarf auch keiner besonderen Betonung noch Begründung, dass wir uns in diesem Punkte wie auch in der Frage der Antikriegsaktion, in allem Wesentlichen die Resolution des Internationalen Kongresses zu eigen machen müssen.

Nun kommen wir zu einem anderen Kapitel, zu dem inneren Militarismus, der ein Machtmittel der herrschenden Klassen in den innerpolitischen Konflikten ist, von denen wir hier nur die Klassenkonflikte betrachten können.

In diesen Konflikten können sich die herrschenden Klassen eine ganze Strecke Weges mit dem Machtmittel der Polizei und der Gendarmerie, die gewissermaßen Spezialtruppen gegenüber dem inneren Feind sind, behelfen. Auf die Dauer ist aber auch hier das brutalere und stärkere Mittel der Armee nicht zu entbehren. Das zeigen uns selbst die skandinavischen Länder, die Schweiz, Holland, Belgien und schließlich Kanada. Selbst Großbritannien, wo sich unsere Genossen bisher so sicher wähnten, besitzt nicht nur in den Chartistenkämpfen sein Menetekel; Belfast3 ist für sie eine schlagende Lehre für den internationalen Charakter des kapitalistischen Militarismus – von Amerika, dessen Sünden ich in meinem Buche geschildert habe, ganz abgesehen.

Natürlich sind die Anforderungen an Form und Umfang der Armee, soweit sie Machtmittel gegen den inneren Feind ist, ganz andere als gegenüber dem äußeren Feind. An sich bedarf es hier keiner so großen Massen, da der innere Feind ja der Regel nach ganz oder nahezu unbewaffnet und in seinen Formationen der Regel nach minder schlagfertig ist als die feindlichen Heere. Die Aufnahme der den herrschenden Klassen feindlichen Elemente der Bevölkerung in die Armee begegnet hier besonderen Bedenken. Unsere Militaristen kennen den desorganisierenden Charakter der Verwendung des Heeres gegenüber dem inneren Feind recht gut.

Der Redner belegt dies durch mehrere Zitate. – Das Blut der Mitbürger, das auf den Straßen fließt, wirkt auf den inneren Feind, möge er den bunten Rock oder den Arbeiterkittel tragen, gefährlich suggestiv: die bekannte Psychologie des Blutes.

Nach weiteren Ausführungen kommt der Redner auf die belgische Armee zu sprechen: Die Tendenz geht nach alledem an und für sich auf die Schaffung zweier verschiedener Armeen, der einen gegen den äußeren, der anderen gegen den inneren Feind. Das ist in Belgien verwirklicht. Ein hochinteressantes Dokument bildet hier ein Artikel, den der Fürst Menschikow vor wenigen Monaten in dem russischen Regierungsblatt „Nowoje Wremja" veröffentlichte.

Der Redner verliest einige Stellen dieses Artikels, in dem der bekannte, einflussreiche russische Politiker auf die Gefahren des „Heeres der Quantität" hinweist. „Auf Kosten des Staates erzieht die Revolution unter der äußeren Form der Regierungsarmee ihre eigenen Bataillone"; an Stelle der „Demokratisierung der Armee" seien „Kampfgenossenschaften der Tapferen" zu fordern. Auch die Elitetruppen sind hier zu erwähnen. Wo indessen durch die außenpolitische Spannung das Heer der allgemeinen Wehrpflicht aufgezwungen ist, können zwei verschiedene Heere nicht existieren. Das Heer der allgemeinen Wehrpflicht, sei es nun ein stehendes Heer oder eine Miliz, muss auch die Funktionen gegenüber dem inneren Feind erfüllen. Danach liegt in einer solchen Militärorganisation von vornherein schon ein innerer Widerspruch, dessen weitere Konsequenzen wir später sehen werden.

Die Armee der allgemeinen Wehrpflicht als Instrument gegen den inneren Feind unterliegt aber noch einer ganz besonderen inneren Dialektik. Sie will sein das Volk in Waffen gegen dasselbe Volk, soweit es außer Waffen ist. Der Proletarier im bunten Rock soll auf Vater, Mutter, Bruder, auf seine Arbeitskameraden von gestern und morgen gehetzt werden, und das Proletariat soll die Kosten dieser gegen sich selbst gerichteten mörderischen Waffe nicht nur mit seinem Blut und seinem Gewissen, sondern auch mit seinem eigenen Geld bezahlen. Der Klassencharakter der Armee springt hier auch den Dümmsten in die Augen. Das ist eine schier verzweifelte Lage für den Militarismus. Durch ein raffiniertes System sucht er sich zu retten.

Der Redner schildert die Methoden der Kasernierung, der Translozierung (nationale und soziale Translozierung; für erstere klassische Beispiele in Belgien, Ungarn, Österreich und vor allem Russland, übrigens auch in Deutschland; für letztere besonders in der Schweiz) und der militärischen Disziplin, die Schrecken der Militärjustiz und die Soldatenmisshandlungen sowie deren vielfältige organisch-militaristische und kapitalistische Wurzeln.

Der militaristischen Erziehungsweisheit letzter Schluss ist das cäsarenwahnsinnige: Oderint, dum metuant, das heißt: Hasst mich immerhin, wenn ihr mich nur fürchtet.

Die Elitetruppen mit ihrer besonders bevorzugten Stellung und Bezahlung, dieser Versuch, innerhalb der für den äußeren Feind bestimmten Armee eine besonders zuverlässige Waffe gegen den inneren Feind zu schaffen, gehören zu diesem System. Die Kosaken sind das gegenwärtig interessanteste Beispiel dafür. Doch auch sie beginnen bekanntlich zu versagen: Die Revolution kann eben weder auf die Dauer eingeschüchtert, noch gekauft werden.

Alles vermag auf die Dauer nicht zu fruchten. Der Proletarier erkennt trotz aller Hindernisse instinktiv, dass vom Militarismus das Virgilische: Sic vos non vobis gilt, das heißt: Zu euren Lasten, aber nicht für euch!

Oderint, dum metuant! Das war seit je eine Methode im Sinne des: nach uns die Sintflut. Der durch die Militärmisshandlungen und die Grausamkeiten der Disziplin und der Militärjustiz erzeugte Hass ist ein dem Militarismus gar giftiges Nebenprodukt.

Und noch andere Maulwürfe sind hier an der Arbeit. Der militaristische Geist verleiht dem Offizier Gottähnlichkeit. Der exklusive Offiziersgeist treibt seit jeher eigene Blüten, deren absonderlicher Duft selbst ganz loyalen Gemütern peinlich in die Nase sticht und abschreckend und aufklärend zugleich wirkt.

Der Redner bespricht das Duellwesen, die Wucher- und Harmlosenprozesse, die verschiedenen „kleinen Garnisonen" und die dazugehörige Simplizissimusliteratur.4

Schließlich sei noch auf einen Zwiespalt innerhalb des Militarismus hingewiesen, der von einschneidender Bedeutung ist und unseren Militaristen immer härtere Nüsse zu knacken gibt. Ich spreche von dem immer mehr wachsenden Unterschied zwischen der kriegsgemäßen Ausbildung und Ausrüstung und der Ausbildung und Ausrüstung, deren der Militarismus bedarf, um seine Rolle als Drillinstitut gegen den inneren Feind und als Demagoge großen Stils voll entwickeln zu können. Besonders der preußische Militarismus sucht sich zu helfen, indem er gewissermaßen zwei verschiedenartige Ausbildungsarten und auch zwei verschiedene Sorten von Ausrüstungen, so gut es eben gehen will, nebeneinander gleichzeitig durchzuführen sucht.

Die wesentlichen innerpolitischen Schäden des Militarismus zeigen sich ebenso wie bei dem stehenden Heer auch bei den sogenannten Milizen. Nicht so sehr natürlich, wo alle waffenfähigen Staatsbürger Waffen und Munition zu Hause haben, obwohl auch hier die größere Schlagfertigkeit der staatlichen Truppe für deren Überlegenheit sorgt. Aber in der Schweiz hat man dem Volk die Munition entzogen, und die Ausbildungszeit, die Kasernierung, wird immer mehr verlängert: Das lehren wieder die letzten Monate. Dass diese Militarisierung der Miliz mit der Zuspitzung der Klassengegensätze Hand in Hand geht und den Zweck verfolgt, das Militärsystem zum Kampf gegen den inneren Feind geeigneter zu gestalten, springt in die Augen. In den häufigen Fällen, in denen in der Schweiz Truppen gegen die Arbeiter eingesetzt worden sind, wurden mit Vorliebe die kasernierten Truppen gewählt. Daneben aber spielte man, wie anderwärts die Nationalitäten, so hier die Klassen gegeneinander aus, besonders die Bauern gegen das Proletariat.

Der Redner schildert die Vorgänge beim diesjährigen Streik am Genfer See. Das Arbeiterblut, das dort vergossen ist, ist nicht auf Befehl eines Offiziers geflossen, sondern aus dem eigenen unbezähmbaren Antriebe der durch den Kampf um ihre Vermögensinteressen fanatisierten Angehörigen der Kapitalistenklasse.

Der Redner schildert nun die verschiedenen Methoden, mit denen die Armee gegen den inneren Feind eingesetzt wird: die Armee als Schule des Arbeitswilligengeistes, Soldaten als Ernte- und Winzerarbeiter, Soldaten als Streikbrecher und als Füsileure streikender Arbeiter; sodann im politischen Kampfe den Militärboykott und die anderen kleinen Mittel des Militarismus bei seiner politischen Alltagsarbeit und schließlich die Krönung: den Militarismus gegen revolutionäre Bewegungen.

Der Redner bezieht sich auf die in seiner Broschüre zusammengestellten Einzelheiten und trägt neues Material aus verschiedenen Ländern vor. – Hier macht kein Land eine Ausnahme. Die sogenannten „freieren" Militärorganisationen haben ihrer inneren Wirkung nach nur den Charakter gewissermaßen von militaristischen Spezialitäten.

Da sitzen nun all die hohen Herren im Rittersaal im Binnenhof im schönen Haag zusammen, um sich gegenseitig übers Ohr zu hauen oder bestenfalls ein Mittel zu finden, um den Pelz des Militarismus zu waschen, ohne ihn nass zu machen. Aber die Wahrheit und Wirklichkeit des Militarismus ist nicht Den Haag, nicht Kartagena, Rapallo, Wilhelmshöhe, Ischl und Swinemünde, sondern Marokko, der japanisch-amerikanische Konflikt, Vevey, Albisried, Narbonne, Raon-l'Etape, der deutsche Bergarbeiterstreik von 1889 und der diesjährige oberschlesische Bergarbeiterstreik, Belfast, die Niedermetzelung der rumänischen Bauern vom Frühjahr 1907 und der blutige militärische Terrorismus bei den jüngsten Wahlen in Österreichisch-Galizien; die Wirklichkeit des Militarismus, das sind die russischen Strafexpeditionen und Feldgerichte.

Der Militarismus ist aber nicht nur die Armee in ihren verschiedenen Gestalten. Er greift auch weit aus in die bürgerliche Welt, unser ganzes öffentliches Leben umklammernd und bis in seine feinsten Fasern durchdringend. Er ist ein ungeheurer raffinierter Apparat zu dem Zwecke, sich den natürlichen Entwicklungsgesetzen entgegenstellend, die menschliche Gesellschaft autokratisch und souverän im Interesse des Kapitalismus und überhaupt der herrschenden Gewalten nach seinem Bilde, nach seinem Willen einzurichten.

Der Redner kommt auf das Reserveoffizierswesen zu sprechen und illustriert die Abhängigkeit der Richter vom Militarismus durch den Hinweis auf den bekannten Meininger Fall aus dem Jahre 1904, wo die bloße Tatsache, dass der Redner bei Gelegenheit eines Prozesses als Anwalt mit einigen Meininger Richtern einen gemeinschaftlichen Abendschoppen genommen hatte, zur Sprengung der ganzen Mitgliedschaft des Meininger Landgerichts führte.

Das Militäranwärterwesen ermöglicht es dem Militarismus, seine Vertrauensmänner und Propagandisten in fast alle mit irgendwelchen Aufsichtsfunktionen versehenen Posten in allen Zweigen der Justiz, der Verwaltung, der Exekutive, der Verkehrsanstalten und vielfach selbst der Privatindustrie zu entsenden. Weiter umfassen die deutschen Kriegervereine über drei Viertel Millionen Menschen. Die Flottenvereine, gewaltig zahlreich an Mitgliedern, beeinflussen gemeinsam mit den Kriegervereinen unser öffentliches Leben beträchtlich; man vergleiche nur die Saalabtreibung und vor allem die lebhafte Tätigkeit bei den Wahlen. Das gilt nicht nur für Deutschland. Auch die Kolonialgesellschaften und die Jugendwehren gehören hierher.

Schließlich besitzt der Militarismus als Arbeitgeber ein beträchtliches Mittel zur Beeinflussung der Bevölkerung. Ein großes Arbeiterheer ist ihm Untertan. Die Militärlieferanten haben ihre recht kräftigen Hände unmittelbar mit an der Kurbel unserer Staatsmaschinerie. Wenn sie auch schon beim bewaffneten Frieden ihr Schäflein scheren, so winkt ihnen im Kriege hundertfältige Frucht. Daher sind sie ganz gefährliche Kriegstreiber.

Der Redner belegt dies aus der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung" und durch eine Auslassung Bismarcks.

Aus alledem ergibt sich, dass der Militarismus besonders in den großen europäisch-festländischen Staaten in allen ernsthaften Fragen der Politik und des öffentlichen Lebens schließlich das entscheidende Wort spricht, dass er auch den letzten Regulator der sozialdemokratischen, der proletarischen Politik darstellt. Wie die Regierung ihre Politik stets auch danach einrichtet oder einrichten möchte, wie sie auf die Sozialdemokratie wirkt, so ist die sozialdemokratische Politik allenthalben letzten Endes bestimmt durch die Rücksicht auf den Militarismus, die stärkste Stütze der kapitalistischen Oligarchie. Die antimilitaristische Propaganda ergänzt so gewissermaßen erst die proletarische Politik zur Vollkommenheit.

Wir erkennen aus alledem, wie der Militarismus durch seine innere Dialektik unterwühlt und schließlich zerstört werden muss. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für uns? Sollen wir im Vertrauen auf diese Dialektik die Hände in den Schoß legen? Ein solcher Fatalismus wäre nicht nur identisch mit der Verneinung jedes politischen Kampfes überhaupt, er würde auch der gröbste Bock gegenüber den Lehren der materialistischen Geschichtsbetrachtung sein. Auch der Kapitalismus stirbt an seiner inneren Dialektik, und doch gibt es schwerlich einen Narren, der daraus folgert, das Proletariat müsse nunmehr nur den Mund aufsperren und warten, bis ihm die gebratenen Tauben des Zukunftsstaates in den Mund fliegen. Nein, Genossen, wir dürfen nie vergessen, dass wir selbst ein Stück jener inneren Dialektik sind und gewiss nicht das geringste. Das Klassenbewusstsein des Proletariats ist ein Entwicklungsfaktor von größter Energie, gerade auch in Bezug auf den Militarismus, das ist oben dargelegt.

Die Herausbildung des Klassenbewusstseins einschließlich der internationalen Solidarität fördern, kurz, Aufklärung des Proletariats – das heißt: die innere Dialektik gerade auch des Militarismus vorwärtstreiben. In dieser Auffassung liegt nicht etwa der Schnitzer, dass der Agitation, der Propaganda die Rolle einer willkürlichen, aus freier individueller Entschließung unternommenen Beeinflussung eines Entwicklungsfaktors, nämlich des proletarischen Klassenbewusstseins, zugeschrieben wird. Im Gegenteil, auch die Agitatoren, die Propagandisten des proletarischen Klassenbewusstseins, sind notwendige Produkte der ökonomischen Entwicklung, des Klassenkampfes und samt ihrer propagandistischen Tätigkeit wesentliche Faktoren jener inneren Dialektik. Auch die Schlagfertigkeit und die Begeisterung des Proletariats sind Machtfaktoren kräftiger Art und damit Faktoren der inneren Dialektik.

Also, nicht Fatalismus, sondern Organisationsarbeit und Durchtränkung des Proletariats mit revolutionärer Begeisterung! Nur eben in diesem Sinne fordern wir allgemein einen besonders nachdrücklichen, speziell organisierten antimilitaristischen Kampf. Aber in diesem Sinne fordern wir ihn als eine Notwendigkeit.

Der Redner wirft nun einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand unseres Heeres und bemerkt unter anderem: Von der desorganisierenden Wirkung der Verwendung des Militärs gegen den inneren Feind ist oben gehandelt. Dem steht aber der große Vorteil für den Militarismus gegenüber, dass er gegen den inneren Feind in der Regel mit den kasernierten Truppen auskommen kann und selbst den Klassenhass wie ja auch den Nationalitätenhass in seine Dienste zu spannen vermag. Gewiss ist die Situation des Militarismus gegenüber dem äußeren Feind, von praktisch kaum zu erwägenden Ausnahmen abgesehen, eine weit günstigere. Schon allein deshalb, weil hier in der Regel der Charakter der Verwendung der Armee als Klasseninstrument nicht so scharf hervortritt und die nationalen Vorurteile noch immer eine große Macht besitzen. Es ist also noch sehr viel, fast alles, zu tun.

Der Redner schildert nun kurz die verschiedenen Arten des antimilitaristischen Kampfes, wie er sich in den einzelnen Ländern ausgebildet hat, von der einfachen Aufklärung der außerhalb der Armee stehenden Kreise, wie sie in Österreich und Deutschland stattfindet, bis zu der Kasernenagitation in Frankreich und Belgien und den revolutionären Militärorganisationen in Russland; Russland, das allerdings, da in einer bürgerlichen Revolution befangen, für uns nur mit vorsichtigen Einschränkungen in Betracht gezogen werden darf.

Sowenig der Militarismus etwas spezifisch Kapitalistisches ist, sowenig ist es der Antimilitarismus. Ich verweise auf die Soldatenkatechismen Cromwells und Ernst Moritz Arndts. Auch der französische Antimilitarismus hat seinen ganz besonderen Impuls erhalten durch die Dreyfusaffäre.5

Der Antimilitarismus ist durchaus nur Waffe, nur Mittel zum Zweck, zum Zweck der Beseitigung eines schweren Entwicklungshindernisses. Er muss daher seine Form und Art allenthalben je nach der Form und Art des zu bekämpfenden Militarismus einrichten. Eine Uniformierung wäre Torheit und unmöglich. Nur ein Minimum kann für alle Verhältnisse festgelegt werden.

Das wesentliche Ziel der antimilitaristischen Propaganda ist die Zermürbung und Zersetzung des militaristischen Geistes zur Beschleunigung der organischen Zersetzung des Militarismus. Aufklärung des Proletariats über das Wesen des Kapitalismus, des Militarismus und seiner besonderen Funktionen innerhalb des Kapitalismus, das ist die Grundlage, das breite Fundament eines jeden möglichen Antimilitarismus, ein Fundament, an das weder Polizei noch Justiz ernstlich herankommen.

Die leider vielfach betriebene Agitation zur Nichtgestellung der einberufenen Mannschaften ist der denkbar größte taktische Fehler. Dadurch werden ja gerade die für den Militarismus unzuverlässigen Elemente, die zur Desorganisation beitragen, von der Armee ferngehalten, wodurch deren Gefährlichkeit vermehrt wird.

Die der Sozialdemokratie, dem Proletariat feindlichen Parteien haben seit langem in ihrem Interesse Jugendorganisationen gegründet, die meist sehr stark sind, über die uns aber leider noch das nötige Material fehlt. Die zumeist erst als Antwort hierauf erfolgte Gründung von Jugendorganisationen sozialistischen Charakters bedeutet die Schaffung einer Waffe, die, wo nicht besondere gesetzliche Hindernisse bestehen, für den antimilitaristischen Kampf ganz besonders geeignet ist.

Der Redner begründet dies ausführlich. Die Jugendorganisationen wirken nicht nur erzieherisch auf ihre Mitglieder, sondern ihre Mitglieder wiederum haben den von ihnen gewonnenen Geist in die Kreise ihrer Altersgenossen hinauszutragen. Auf Eltern und erwachsene Arbeiter beiderlei Geschlechts, deren Einfluss auf die heranwachsende Jugend gewaltig ist oder jedenfalls sein kann, ist dahin einzuwirken, dass sie diesen Einfluss im Sinne des Geistes der Jugendorganisationen, insbesondere des antimilitaristischen Geistes, ausüben. Auch die Organisationen der erwachsenen Arbeiter sind von den Jugendorganisationen in diesem Sinne zu befruchten.

Nach weiteren Ausführungen verweist der Redner auch auf die Notwendigkeit, für eine Besserstellung der Soldaten zu sorgen, eine Notwendigkeit, die er in seiner Broschüre betont hatte.

Bekanntlich hat dieser Hinweis ebenso wie die Forderung energischer agitatorischer Ausnutzung der Soldatenmisshandlungen bei unseren Militaristen bis hinauf zum Kriegsminister ein lebhaftes Wutgeschrei ausgelöst. Das bestätigt natürlich nur die Richtigkeit meiner Vorschläge.

Sodann fährt der Redner fort: Das Wort Talleyrands: „Mit Bajonetten kann man alles, nur nicht sich darauf niederlassen", ist gewiss eine ungemütliche Wahrheit für unsere herrschenden Klassen. Sie wollen's aber doch nicht wahrhaben. Gegen jeden Versuch der antimilitaristischen Propaganda und Aktion reagieren sie aufs Empfindlichste und Brutalste. Sie wissen, dass sie einen Stoß ins Herz der stärksten Machtposition der heutigen Gesellschaft darstellt.

Opfer müssen fallen. Darüber habe ich mich nie getäuscht. Natürlich wäre es töricht und verwerflich, unnütz Opfer zu provozieren. Aber gerade die Geschichte meines Prozesses beweist, dass auch für die Justiz unseres Klassenstaates der Satz gilt: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg, da ist auch ein Galgen. Ein Blick auf unsere russischen Freunde lehrt uns Bescheidenheit in der Schätzung der von uns bisher gebrachten und noch zu bringenden Opfer. (Lebhafter Beifall und Zustimmung.) Finden wir uns damit ab, und seien wir getrosten Mutes in der Erkenntnis, dass gerade solche Opfer die beste Saat für den Antimilitarismus sein müssen, wenn das Proletariat nur überhaupt einen Pfifferling wert ist. Jeder Versuch solcher Unterdrückung muss nach der Dialektik, die dem Kapitalismus und dem Militarismus verhängnisvoll in den Knochen sitzt, nur eben gerade zur Beschleunigung ihres Sturzes beitragen. Die Geschichte lehrt's. Bald werden die Herren seufzend erkennen: „Den Hochverräter sind wir los, die Hochverräter sind geblieben!"

Gerade wir Deutschen haben alle Ursache, diesem Internationalen Kongress dankbar zu sein. Der Elan unserer auswärtigen Genossen, besonders der Franzosen, Belgier und Russen, hat unserer deutschen Partei einen kräftigen Stoß vorwärts zum Antimilitarismus gegeben. Die antimilitaristischen Aufgaben der neuen Internationale sind durch die Kongressresolution trotz ihrer vielen Mängel vorgezeichnet. Sorgen wir dafür, dass die internationale Jugendbewegung im antimilitaristischen Kampfe eine ehrenvolle Rolle spielt. (Großer, lang anhaltender Beifall.)

Resolution6

Die Konferenz bezieht sich auf die Resolution des Stuttgarter Internationalen Kongresses über den Militarismus und die dort für den antimilitaristischen Kampf und die Jugendorganisationen formulierten Aufgaben. Sie lenkt die besondere Aufmerksamkeit auch auf die Gefährlichkeit des Militarismus im inneren Klassenkampf und stellt die Pflicht der internationalen Jugendbewegung fest, in dem durch jene Kongressresolution beschriebenen Sinn den Militarismus zu bekämpfen.

1 Gemeint ist König Edward VII. von Großbritannien. Die Red.

2 Vom 15. Juni bis 18. Oktober 1907 fand die zweite Haager Friedenskonferenz statt. Die Red.

3 Gemeint ist der Einsatz von Militär mit Schnellfeuerwaffen, vier Schlachtschiffen und zwei Kreuzern der britischen Atlantikflotte gegen einen Streik in Belfast, Nordirland, im Juli 1907. An dem Streik hatten sich im Kampf um Gewerkschaftsfragen etwa 1000 Arbeiter und 700 Polizeibeamte beteiligt.

4 In diesen Jahren kam es in den verschiedensten Garnisonsstädten — zum Beispiel 1904/1905 in Hannover, 1907 in München und 1907/1908 in Erfurt — zu Prozessen gegen Geschäftsleute und Offiziere wegen Wucher und anderer Betrügereien, die nicht selten mit Freispruch beziehungsweise sehr geringen Strafen endeten.

5 Ein von den reaktionären Kreisen Frankreichs inszenierter provokatorischer Prozess, in dem der jüdische Generalstabsoffizier Dreyfus 1894 durch das Kriegsgericht auf Grund einer offenkundig falschen Anklage, die ihm Spionage und Landesverrat zur Last legte, zu lebenslänglicher Deportation verurteilt wurde. Die allgemeine Bewegung zur Verteidigung Dreyfus', die sich in Frankreich entfaltete, deckte die Korruptheit der Gerichtsbehörden auf und hatte die Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten zur Folge. 1899 wurde Dreyfus begnadigt und freigelassen. Erst 1906, nach der Wiederaufnahme des Verfahrens, wurde er rehabilitiert.

6 Die Resolution wurde einstimmig angenommen. Die Red.

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