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Karl Liebknecht 19090623 Für die volle Immunität der Abgeordneten!

Karl Liebknecht: Für die volle Immunität der Abgeordneten!

Begründung eines sozialdemokratischen Antrages1 im preußischen Abgeordnetenhaus

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, II. Session 1908/09, 5. Bd., Berlin 1909, Sp. 7388–7593 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 272-281]

Meine Herren, wir würden gewiss kein Wort um diese Angelegenheit verlieren, wenn es sich dabei, wie es von einigen Rednern hingestellt worden ist, um eine persönliche Angelegenheit der in dieses Haus gewählten Sozialdemokraten handelte. Es handelt sich für uns nicht darum, für die Abgeordneten irgendein neues Vorrecht zu erwirken. Wir sind grundsätzlich gegen alle Privilegien, auch gegen die Privilegien der Abgeordneten.

Uns kommt es darauf an, dass der Landtag als eine gesetzgebende Körperschaft im Interesse der gesamten Bevölkerung, von der er, allerdings in Preußen mit einer sehr starken Einschränkung, gewählt ist, auch vollständig versammelt ist und seine Funktionen als gesetzgebende Körperschaft ausüben kann. Ich stehe infolgedessen dieser Angelegenheit, obwohl sie in gewissem Sinne mit dem Etikett meines Namens versehen ist, vollkommen unpersönlich gegenüber und kann darum auch hier zu ihr sprechen.

In nahezu allen Ländern, die man gewohnt ist, als Kulturländer zu bezeichnen – wenn man von Deutschland als einem Kulturlande spricht, pflegt man etwas mit den Augen zu zwinkern, und zwar mit Recht –,

(Heiterkeit.)

ist in der Tat bereits der Brauch vorhanden, so zu verfahren, wie es von unserem Antrage vorgeschlagen ist, wenn es auch vielleicht nicht überall ausdrücklich im Gesetz festgelegt ist. Was mein Freund Hirsch Ihnen an Material aus dem Auslande vorgetragen hat, ist vollkommen beweiskräftig. Nirgend ist der Versuch unternommen, die früher einmal aufgestellte Behauptung zu wiederholen, dass sich Preußen durch die verlangte Verfassungsänderung in einen Gegensatz zu dem gesamten Auslande setzen würde. Die juristischen Einwendungen, die gegenüber dem von uns eingebrachten Antrage und dem Antrage Traeger gemacht worden sind, sind meiner Ansicht nach durchaus unhaltbar. Es ist überhaupt eine eigentümliche Sache, von juristischen Einwendungen zu sprechen gegenüber einem Versuche, die lex lata zu verändern. Es wird eine Aktion von einer gesetzgebenden Körperschaft verlangt. Wie kann einer gesetzgebenden Körperschaft, wenn sie im Begriffe steht, ein Gesetz zu ändern, gesagt werden: Das Gesetz steht dem entgegen! Die gesetzgebende Körperschaft ist dazu da und ist berechtigt, das Gesetz in weitestem Umfange zu ändern; es ist ihre Pflicht, das in dem Augenblick zu tun, in dem sie die Notwendigkeit für gegeben hält.

Meine Herren, noch ein etwas absonderlicher Einwand ist gegenüber unserem Antrage gemacht worden. Man hat gesagt, ein Aufschub der Strafvollstreckung, wie er hier verlangt werde, sei Sache der Begnadigung; durch unsere Vorschläge werde in das Begnadigungsrecht der Krone eingegriffen. Zunächst trifft das nicht zu. Wer in der praktischen Jurisprudenz steckt, weiß genau, dass die Strafvollstreckung ein Akt der Justizadministrativbehörde ist. Die Justizverwaltungsbehörde, der Regel nach die Staatsanwaltschaft, hat nun in ihren Maßnahmen in Bezug auf die Strafvollstreckung diejenige Bewegungsfreiheit, die ja die Verwaltungsbehörden allgemein – wie ich hinzufügen möchte, leider –, besonders in Preußen, in einem sehr weitgehenden Umfang zu haben pflegen. Wer ist als Anwalt noch nicht in die Lage gekommen, bei dem Staatsanwalt Anträge zu stellen, die Strafvollstreckung auf einige Zeit auszusetzen! Wie häufig geschieht das durch ein einziges Wort, das man mit dem Staatsanwalt spricht. Derartige Fälle wird kein Mensch geneigt sein, unter die Begnadigung zu rechnen. Freilich gebe ich gern zu, dass sich unter Umständen der Strafaufschub auch als Begnadigung konstruieren lässt. Die Begnadigung kann sich auf alles erstrecken, auf jeden Teil der Strafvollstreckung, und kann natürlich auch im Sinne einer Befristung ausgeübt werden. Das ist unstreitig. Es handelt sich aber darum, ob jede Strafaussetzung schon an und für sich, vermöge dieses Charakters als Strafaussetzung, als ein Akt der Begnadigung zu betrachten ist, und davon kann meines Erachtens gar keine Rede sein. Alles das ist übrigens ganz und gar gleichgültig. Wir sprechen von der lex ferenda. Das Begnadigungsrecht ist kein Recht der Krone, das mit einem fest umgrenzten Umfang in der Verfassung festgelegt wäre, sondern das seinem ganzen Wesen nach sekundären Charakter trägt. Es bezieht sich eben auf diejenigen Gebiete, für die nach der gesetzlichen Regelung eine Begnadigung überhaupt in Frage kommen kann. Genauso gut wie wir in der Lage sind, Strafgesetzparagraphen zu beseitigen, und damit dem Monarchen die Möglichkeit nehmen, in Fällen derartiger Delikte das Begnadigungsrecht auszuüben, genauso gut ist es möglich, durch eine Bestimmung in Bezug auf die Strafvollstreckung Maßregeln zu ergreifen, die dem Monarchen die Möglichkeit der Begnadigung in gewissem Umfang entziehen. Jedenfalls, wenn die Verfassung in der von uns vorgeschlagenen verfassungsmäßigen Weise geändert wird, dann ist damit das, was an Begnadigungsrecht des Monarchen hier etwa bisher bestanden hat, beseitigt. Also, man kann darüber gar nicht diskutieren. Es ist eine juristisch ganz klare Sache.

Eine andere Frage, die zweifellos ein größeres Gewicht besitzt, ist die, ob etwa in die Kompetenz der Reichsgesetzgebung eingegriffen wird. In Bezug hierauf, gebe ich sehr gern zu, kann man verschiedener Meinung sein. Ich stehe auf dem Standpunkt, den der Referent der Kommission eingenommen hat. Ich will diesen Standpunkt nicht des Näheren auseinandersetzen. Aber nehmen wir selbst an, wir kollidieren mit der Reichsverfassung. Was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir nunmehr stillzuhalten hätten, bis etwa von Seiten des Reichs Hilfe kommt? Meines Erachtens kann davon gar keine Rede sein. Es muss möglich sein, dass in solchen Fällen, wo das Interesse des einzelnen Staates die Abänderung eines Reichsgesetzes verlangt, nun auch von dem Einzelstaat die Initiative ergriffen wird. Sehr bezeichnend ist, dass wir heute vielleicht noch eine Petition von einem Herrn von Deutsch-Traubenberg zu verhandeln haben werden. In dieser Petition wird ein Eingriff Preußens in die Reichsverfassung verlangt, mindestens die Regierung ersucht, für ein abgeändertes Reichstagswahlrecht zu sorgen. Und ganz im Allgemeinen wird man doch diesem Hause den Vorwurf nicht machen können, dass es sich bisher allzu ängstlich an die Kompetenzen des Reiches gebunden hätte und nicht gelegentlich mal eine Exkursion auf das Gebiet der Reichsgesetzgebung unternommen hätte. Die Herren halten das im Gegenteil traditionell für ihr gutes Recht.

Wie also auch immer die Rechtslage sein mag: Das preußische Gesetz wird, wenn es mit dem Reichsgesetz kollidiert, sowieso dem Reich gegenüber nicht bindend sein. Wenn das Gesetz in Preußen angenommen wird, so ist das keinesfalls ein Unglück. Es wird dann eben versucht werden müssen, im Deutschen Reiche die etwa nötige entsprechende Änderung der Rechtslage durchzudrücken. Das ist die einwandfreie Methode, die anwendbar ist, selbst wenn man sich von jenen juristischen Bedenken fangen lässt, die in Bezug auf die Zuständigkeit vorgebracht worden sind.

Ich glaube aber doch wohl, nicht unrecht zu haben, wenn ich alle die juristischen Bedenken, die gegen den Antrag vorgebracht worden sind, nur als Staffage betrachte, nur als Kulisse; in Wahrheit entspringt die Abneigung der Herren gegenüber unserem Antrage ausschließlich seinem Sinne, seinem politischen Charakter. Wir wollen uns doch hier kein X für ein U machen lassen, „Zweckmäßigkeitsgründe" sind es allein, die die Herren zu ihrer Stellungnahme in der Kommission veranlasst haben.

Da möchte ich zunächst auf das eine hinweisen: Ein Eingriff in die Strafverfolgung ist meines Erachtens viel gefährlicher als ein Eingriff in die Strafvollstreckung. Es besteht bei einem Eingriff in die Strafverfolgung vor allen Dingen die große Gefahr der Verdunklung, der Verwischung des Tatbestandes, die Gefahr der Verjährung und manche andere Gefahren, die früher zu gewissen, durch die Gesetzgebung ja auch beseitigten Missständen geführt haben. All das tritt nicht ein, wenn es sich um eine Aufschiebung der Strafvollstreckung handelt. Sie haben in früheren Beschlüssen den Standpunkt eingenommen, dass die Strafverfolgung zwar tendenziös erfolgen könne, dass aber eine gleiche Besorgnis in Bezug auf die Strafvollstreckung nicht anzunehmen sei. Das trifft nicht zu. Die Praxis ergibt vielleicht das Gegenteil. Die Strafverfolgung ist immerhin unter die Garantie des bis zu einem gewissen Grade unabhängigen Richterstandes gestellt. Die Strafvollstreckung unterliegt keinerlei Garantie und erfolgt ausschließlich als Verwaltungsakt. Man ist durchaus der Willkür der Verwaltungsbehörde ausgesetzt. Und ich möchte meinen, dass man gerade die Gefahr, dass im Verwaltungswege tendenziös verfahren werde, nicht allzu gering schätzen möge. Angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft an und für sich häufig genötigt ist, eine Strafvollstreckung auf lange Zeit hinauszuschieben, hat es die Staatsanwaltschaft unter Umständen, ohne dass es besonders auffällt, in der Hand, gegenüber missliebigen Abgeordneten die Strafvollstreckung auf einige Monate hinauszuschieben und sie dann einzusperren, wenn das Hohe Haus zusammentritt. Es könnte ja passieren, dass die Verfolgungen in Preußen noch einmal zahlreicher werden, dass vielleicht einmal sogar die preußischen Gefängnisse – und das sind nicht wenige – zur Unterbringung all der politischen Sträflinge nicht ausreichen,

(Heiterkeit.)

ähnlich wie es jetzt in Russland ist.

Dann ist gemeint worden, auch eine Nachprüfung der Urteile wäre unmöglich; man stände in Gefahr, die Frage der Würdigkeit nicht entscheiden zu können. Tatsächlich werden ja doch die Urteile und die Akten vorliegen, und es wird ein Leichtes sein, im Einzelfalle zu entscheiden, ob die betreffende Person vom Hohen Hause als würdig betrachtet wird. Von einem der Herren Vorredner ist die Wendung gebraucht worden, es könne ja passieren, dass schließlich Totschläger usw. und politische Verbrecher unter der Voraussetzung, dass unser Antrag angenommen würde, in das Hohe Haus eintreten. Er hat damit die politischen Verbrecher noch unter die Totschläger gestellt, als eine noch niedrigere Kategorie von Verbrechern.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

In Bezug auf die Würdigkeit des politischen Verbrechers lassen wir uns mit keinem Menschen in eine Diskussion ein, darüber haben wir eben unsere eigene Ansicht, und wir sind froh und stolz darauf, auch hier Ihnen (nach rechts) in striktestem Gegensatz zu stehen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in der Tat handelt es sich hier um eine Verfassungsänderung, die richtig und dringend genug ist, um von dem Hohen Hause in die Hand genommen zu werden. Es sind die besten Traditionen des Parlamentarismus, die Traditionen der ältesten und bewährtesten parlamentarischen Staaten, die zu befolgen wir Ihnen durch unseren Antrag empfehlen.

Es ist in der Tat ein sonderbares Schauspiel, das wir heute schon einmal, wenn auch in etwas abgeschwächter Form, beim vorigen Punkt der Tagesordnung erlebt haben: ein Parlament, das nicht einmal den Wunsch hat, seine eigenen Rechte zu erweitern; ein Parlament, das sich wohl fühlt, ja stolz darauf ist, dass es kein Bedürfnis hat, seine Rechte zu vergrößern. Ich glaube, das kommt außer im preußischen Abgeordnetenhause höchstens noch im Deutschen Reichstag vor, der gegenwärtig ja als ein kastriertes Parlament bezeichnet werden kann.

(Heiterkeit.)

Meine Herren, die Gründe Ihres Verhaltens sind mir klar. Zwei Gründe sind es, die Ihr Verhalten bestimmen und die beide in hohem Maße charakteristisch sind für das Hohe Haus und für den Charakter dieser Verhandlung. Zunächst einmal ist es die Tatsache, dass die Herren von den maßgebenden Parteien in diesem Hause mindestens gegenwärtig kaum in die Lage kommen werden, jemals Objekt der preußischen oder deutschen Strafgesetzgebung und Justiz zu sein; die Herren fühlen sich durchaus als Subjekte der Gesetzgebung und überlassen es uns, die Objekte zu sein. Wir fühlen uns auch in dieser Rolle gar nicht unwohl; im Gegenteil, wir können wohl sagen, dass wir uns in der Rolle der Objekte der Gesetzgebung, namentlich in Preußen, viel wohler fühlen als Sie in der Rolle der Subjekte der Gesetzgebung.

Aber, meine Herren, es geht ja leider noch weiter. Die Tatsache ist: Sobald sich einmal die Lage so gestaltet, dass auch die Angehörigen der in Preußen herrschenden Parteien in die Gefahr kommen, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten – ich erinnere nur an die sozialpolitischen „Erpressungen", an das Vereinsgesetz, an den Segmenterlass2 usw. –, dann ist die Gesetzgebung mit einer Promptheit, auf die man in anderen Fällen vergeblich hofft, bereit, sofort einzugreifen und die Gefahr, dass die Herren auch einmal anstoßen und sich den Rücken wundreiben könnten, schleunigst zu vermeiden; es wird ein Polster unter gelegt

Meine Herren, zuweilen liegt es doch vielleicht ein klein wenig anders. Ich möchte daran erinnern, dass es ein Delikt gibt, wegen dessen auch die Herren von der Rechten nicht selten bestraft werden: das Delikt des Duells. Ich habe ja gerade auf diesem Gebiete jetzt eine ganz außerordentliche Erfahrung durch meinen längeren Aufenthalt an einem Orte, wo derartige Delinquenten ihre Strafe zu verbüßen haben. Leicht genug kann es einmal vorkommen, dass auch ein Herr von der rechten Seite eingesperrt wird, gerade zu einer Zeit, wo das Haus zusammentritt. Allerdings, meine Herren – das will ich Ihnen ohne weiteres zugestehen –, gar zu große Angst brauchen Sie davor nicht zu haben, denn Sie werden bald genug begnadigt werden, wenn Sie „bloß" ein Duell begangen haben. Es ist Tatsache, dass nicht nur die Gesetzgebung, nicht nur die Justiz, sondern auch die Strafvollstreckung vor Ihnen haltzumachen pflegt. Deshalb haben Sie naturgemäß gar kein Gefühl dafür, wie es den Objekten der Gesetzgebung geht.

Aber, meine Herren, das ist nicht der einzige Grund Ihrer Haltung zu unserem Antrag. Das Wesentlichste, was für diese Haltung maßgebend ist, dürfte sein, dass sich die herrschenden Parteien überhaupt gar nicht als Parlament fühlen. Sie haben gar kein Interesse an der Erweiterung der Parlamentsrechte. In den wirklich parlamentarisch regierten Ländern werden die staatlichen Gewalten dadurch zu einer Einheit gestaltet, dass auch die Verwaltung unter das Parlament gestellt wird. In Preußen ist die Sache ganz genau umgekehrt: In Preußen ist das Parlament nichts weiter als ein Ausschuss der Verwaltungsbehörden,

(Abgeordneter Leinert: „Sehr richtig!")

und die Herren, die hier als Vertreter der maßgebenden Parteien sitzen, haben nicht eine Spur, behaupte ich, von dem Gefühl, wirklich ein Parlament zu bilden, sondern sie haben nur das Gefühl, eine Attrappe der preußischen Verwaltung zu sein, eine Art Ausschuss der preußischen Verwaltungsorgane. Man sieht ja von denjenigen, die die Verwaltung des preußischen Staates repräsentieren, regelmäßig einen ungemein großen Teil unter den Mitgliedern des Hauses. Weil sie sich nicht als Parlament, sondern als Attrappe der Verwaltung fühlen, haben Sie die Tendenz: hier dürfen wir qua Parlament unter keinen Umständen die Rechte der Verwaltung einschränken. Im Gegenteil, Sie wachen mit Argusaugen über die Rechte der Verwaltung gegenüber den Rechten des Parlaments. Den ausschlaggebenden Kampf in dieser Beziehung haben wir ja allerdings auf einem anderen Gebiete, um eine andere Frage zu kämpfen; dieser Kampf wird ausgekämpft werden, und wir werden in ihm nicht nachgeben, dessen können Sie sicher sein.

(Lachen.)

Zum Glück ist noch nicht aller Tage Abend. Ich rechne damit, dass Sie unseren Antrag und ebenso auch den Antrag Traeger glatt ablehnen werden. Wir haben nichts Besseres erwartet. Wir erfüllen unsere Schuldigkeit der Öffentlichkeit und dem preußischen Volke gegenüber, indem wir diesen Antrag einbringen. Aber bedenken Sie: Es war in Preußen auch schon einmal anders, es war schon einmal so, dass die Herren von der Rechten unter Strafverfolgungen zu leiden hatten. Wenn sich das Blättchen einmal wieder wendet – und jedes Blättchen der Geschichte wendet sich einmal –, dann werden Sie zwar von uns nicht zu erwarten brauchen, dass wir Gleiches mit Gleichem vergelten, im Gegenteil, wenn wir es in der Hand haben werden, werden wir Gnade an Ihnen üben.

(Heiterkeit.)

Aber, meine Herren, es empfiehlt sich für Sie die Überlegung, ob Sie nicht in einer kurzsichtigen Augenblicksstimmung handeln, wenn Sie diesen Antrag ablehnen, wenn Sie auf ihre jetzige Majoritätsstellung pochen, auf ihre unbestrittene Herrschaftsstellung im preußischen Staate, weil Sie Militär, Justiz, Polizei und alle anderen Machtfaktoren hinter sich haben. Wir hoffen darauf, dass diese Herrschaft bald gebrochen sein wird und dass an die Stelle dieses Parlaments bald ein Parlament treten wird, das sich wirklich als Parlament fühlt, das den Stolz vergessen haben wird, den Sie augenblicklich vertreten, als Parlament möglichst rechtlos zu sein und nicht für Parlamentsrechte, sondern für die Rechte und die Machtstellung der Verwaltungsbehörden einzutreten. Ich hoffe, dass sich in diesem Saale bald ein Parlament versammeln wird, das für die Rechte des Parlaments eintritt, das die Rechte des Volkes vertritt, die augenblicklich ausschließlich durch die hier anwesenden sozialdemokratischen Abgeordneten vertreten werden.

(Lachen und Zurufe. – Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Sie vertreten die Polizei, die Bürokratie, das Militär, sämtliche Gewaltfaktoren in Preußen. Sie vertreten nicht das Volk, selbst nicht einmal, soweit es für Sie stimmt; denn soweit es für Sie stimmt, tut es das wiederum nur unter Ihrem Terrorismus;

(Erneutes Lachen.)

unter Ihrem unerträglichen Terrorismus, der jede sozialdemokratische Notwehr um das Tausendfache übersteigt.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der Antrag forderte von der preußischen Regierung die Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ergänzung bzw. Abänderung der Verfassung (Artikel 84), mit dem Ziel, dass kein Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses ohne dessen Genehmigung während der Sitzungsperiode zum Zwecke der Strafvollstreckung verhaftet werden durfte und dass jede Strafhaft eines Mitgliedes für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben werden musste, wenn die betreffende Kammer es verlangte. Der Antrag wurde abgelehnt.

2 Verfügung des preußischen Innenministers von Hammerstein-Loxten im Jahre 1902, dass sich Frauen in politischen Versammlungen nur in einem besonderen Teil des Saales, dem „Frauensegment", aufhalten durften.

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