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Karl Liebknecht 19090624 Gegen den „Erfinder" eines reaktionären Wahlsystems

Karl Liebknecht: Gegen den „Erfinder" eines reaktionären Wahlsystems

Rede zu einem sozialdemokratischen Antrag im preußischen Abgeordnetenhaus

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, II. Session 1908/09, 5. Bd., Berlin 1909, Sp. 7521–7523 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 290-292]

Meine Herren, wir haben den Antrag gestellt, über diesen Vorschlag des Herrn von Deutsch-Traubenberg zur Tagesordnung überzugehen. Es handelt sich in der Tat um ein ganz groteskes Gebilde einer wirren, mittelalterlich-politischen Phantasie. Bis zu 18 Stimmen kommt, wie der Herr Berichterstatter mitgeteilt hat, der Vorschlag des Herrn von Deutsch-Traubenberg. Dennoch bezeichnet der Herr Berichterstatter den Vorschlag als schön durchdacht. Der Herr von Deutsch-Traubenberg ist ein charakterisierter Erfinder in dem technischen Sinne des Wortes. Er bezeichnet sich nicht als einen Politiker, er bezeichnet sich nicht als einen Mathematiker, er bezeichnet sich als Erfinder und dieses Wahlsystem als seine „Erfindung" – buchstäblich. Er ist ein Erfinder, wie andere Leute Manschettenknöpfe erfinden oder Schuhbefestigungen und dergleichen. Nun, im Allgemeinen wird man derartigen Erfindern ein wenig bedenklich gegenüberstehen, weil oftmals bei diesen Herren die Phantasie ein bisschen zu weit geht. So liegt es offensichtlich auch hier. Dieser Antrag kann im Ernst, glaube ich, nicht von jemandem diskutiert werden, der Anspruch erhebt, politisch ernst genommen zu werden.

Das, worauf dieser Vorschlag hinauskommt, ist im wesentlichen zweierlei. Ad 1: Einführung eines ganz ultra übertriebenen Pluralwahlrechts, und ad 2: die Ersetzung des Reichstags durch eine Delegation der verschiedenen Landtage der Einzelstaaten. Wer solche Vorschläge für diskutabel hält, mag sich ein paar Jahrhunderte zurückversetzen lassen. Selbst in Preußen wird keine Neigung bestehen, einen solchen Vorschlag anzunehmen. Ich will bei dieser Gelegenheit auf diesen immer wiederholten Gedanken zurückkommen, wonach es notwendig sei, dass Besitz und Bildung einen höheren Einfluss in dem Wahlrecht ausüben müssen. Ich will mich jetzt auf das Prinzipielle gar nicht weiter einlassen, will nicht prüfen, inwiefern nicht gerade die Unbildung und die Besitzlosigkeit ein ganz besonderes Vorrecht haben müssten, in den gesetzgebenden Körperschaften mitzuwirken; ich will nur darauf hinweisen, worauf auch in der nicht sozialdemokratischen Presse wiederholt hingewiesen worden ist, dass Bildung und Besitz auch unter dem gegenwärtigen Wahlrecht, wie wir es in Deutschland haben, dem geltenden gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht, einen enorm großen Einfluss auszuüben in der Lage sind, rein vermöge der geistigen Einflüsse, der ökonomischen, politischen Einflüsse, die gegenwärtig bereits bestehen.

Es ist charakteristisch, dass gerade bei diesem Antrag, der so unglaublich ist, dass man ihn direkt nicht als diesem Jahrhundert entsprungen bezeichnen möchte, sich die Kommission nicht damit begnügt hat, zur Tagesordnung überzugehen, sondern dass dieser Antrag der Regierung als Material überwiesen werden soll. Sie haben offenbar ihre besondere Freude an diesem Antrag, weil er sich nicht darauf beschränkt, einen Vorschlag für Preußen zu machen, der Ihre Position noch günstiger gestalten würde als gegenwärtig, sondern weil er gleichzeitig reinen Tisch machen will mit dem Ihnen so in Grund und Boden verhassten Reichstagswahlrecht, weil damit der geringe Anfang von Demokratie, der in Deutschland bisher existiert, beseitigt werden könnte. Das ist Ihr alter Lieblingswunsch und Ihr Ceterum censeo im Gegensatz zu dem unsrigen.

Der Herr Berichterstatter hat entdeckt, dass die Sozialdemokraten inkonsequent gewesen seien, weil sie in Bezug auf den Antrag der Frauenrechtlerinnen die Überweisung zur Berücksichtigung, in diesem Falle aber den Übergang zur Tagesordnung beantragt haben. Ich bin in der Tat erstaunt darüber, dass der Herr Berichterstatter hier eine Inkonsequenz von uns wittert. Ich meine, er hätte sich doch nach unserer ganzen Stellung zu dem Wahlrecht sagen müssen, dass wir dem ersten Antrag zustimmen würden und dass wir den jetzigen Antrag für undiskutabel, weil für durchaus reaktionär, reaktionärer noch als alle Gesetzgebung, die bisher gemacht worden ist, betrachten und außerdem für durchaus sinnlos halten, weil er selbst in Preußen nicht verwirklicht werden konnte,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

nicht einmal mit Hilfe der reaktionären Mehrheit, die in diesem Hause besteht. Wir würden sogar noch weiter gegangen sein: Wir würden uns nicht damit begnügt haben, Übergang zur Tagesordnung beantragt zu haben, wenn es noch etwas gäbe, was mehr dem Ausdruck geben könnte, dass wir diesen Antrag für undiskutabel und für unwert jedes verständigen Wortes halten. Ich würde Ihnen empfehlen: Werfen Sie das Scheusal in die Wolfsschlucht! Das wäre das zweckmäßigste.

(Heiterkeit.)

Allerdings, da es sich darum handelt, dass es ein außerordentlich reaktionärer Vorschlag ist, so werden Sie ihn natürlich nicht in die Wolfsschlucht werfen. Ich kann Ihnen in unserm Interesse nur empfehlen, nehmen Sie den Antrag der Kommission an und heften Sie sich damit ein Plakat auf, das vor aller Welt Ihre reaktionäre Gesinnung und Ihre Volksfeindlichkeit von Neuem demonstriert. Das ist das beste, was wir wünschen können.

(Zurufe und Unruhe rechts.)

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