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Karl Liebknecht 19100524 Das Pressegesetz – ein konterrevolutionäres Gesetz

Karl Liebknecht: Das Pressegesetz – ein konterrevolutionäres Gesetz

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zur Begründung eines sozialdemokratischen Antrages, Bestimmungen des preußischen Pressgesetzes aufzuheben

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 4. Bd., Berlin 1910, Sp. 5879-5891, 5899/5900. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 293-315]

I

Meine Herren, es handelt sich um das Gesetz vom 12. Mai 1851 und im speziellen um die Paragraphen 9, 10 und 41 dieses nun schon über ein halbes Jahrhundert alten Gesetzes. Die Bestimmungen, die ja in der Vorlage abgedruckt sind, brauche ich Ihnen im Einzelnen nicht vorzuführen. Wer dieses Gesetz unbefangen liest und auch als ein durchaus geübter Jurist liest, der wird leicht zu der Auffassung kommen, dass das Gesetz etwas bestimmt, was in andern deutschen Bundesstaaten ähnlich bestimmt ist, nämlich, dass Anschlagzettel und Plakate, die einen andern als den im Paragraphen 9 aufgeführten Inhalt haben, nur mit polizeilicher Genehmigung angeheftet werden dürfen, dass aber Plakate, die den Inhalt haben, von dem der Paragraph 9 spricht, ohne besondere polizeiliche Genehmigung von jedermann angeheftet und angeschlagen werden dürfen. Die Plakate, von denen Paragraph 9 spricht, die dort als erlaubte Plakate bezeichnet sind, sind nämlich Ankündigungen über gesetzlich nicht verbotene Versammlungen, über öffentliche Vergnügungen, über gestohlene, verlorene oder gefundene Sachen, über Verkäufe oder andere Nachrichten für den gewerblichen Verkehr. Meine Herren, wer das Gesetz in dieser Weise auslegt, der irrt sich. Das Gesetz hat eine ganz andere Bedeutung, und es soll nicht ein Moment in Zweifel gestellt werden, dass die Auslegung, die das Kammergericht in ständiger Judikatur diesem preußischen Pressgesetz gibt, durchaus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Danach liegt es folgendermaßen.

Der Paragraph 9 bestimmt über die Plakate, die überhaupt zulässig sind, sei es mit besonderer polizeilicher Erlaubnis, sei es ohne besondere polizeiliche Erlaubnis, gleichviel: Die einzigen Plakate, die überhaupt in Preußen angeheftet werden dürfen, sind solche über nicht verbotene Versammlungen, über öffentliche Vergnügungen, über gestohlene, verlorene oder gefundene Sachen, über Verkäufe oder andere Nachrichten für den gewerblichen Verkehr. Alle anderen Plakate dürfen selbst mit Genehmigung der Polizei, selbst mit Genehmigung der höchsten Staatsregierung unter keinen Umständen irgendwo angebracht werden.

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

Des weiteren können diese erlaubten Plakate, von denen Paragraph 9 spricht, nun auch keineswegs von jedem angeschlagen werden, sondern nach Paragraph 10 bedarf es dazu stets einer besonderen polizeilichen Erlaubnis, und außerdem muss derjenige, der derartige Plakate anbringen, und ebenso der, der Druckschriften verbreiten will usw., stets den Erlaubnisschein der Polizei bei sich führen, der ihm eben die vorhin gekennzeichnete Erlaubnis erteilt.

Meine Herren, dieses Gesetz ist nach dem Inhalt, den es so nach dieser korrekten Interpretation besitzt, geradezu als unsinnig, als ganz und gar unmöglich zu bezeichnen. Meine Herren, des Rätsels Lösung ist nicht gar weit entfernt. Es handelt sich um ein konterrevolutionäres Gesetz, es handelt sich um ein Gesetz, das einen recht wenig appetitlichen Ursprung besitzt. Wenn das preußische Dreiklassenwahlrecht sich dadurch kennzeichnet, dass es dem preußischen Volke einmal gesetzwidrig oktroyiert worden ist: dieses preußische Pressgesetz ist dem Volke zweimal nacheinander oktroyiert worden, am 30. Juni 1849 und am 5. Juni 1850, und, im Wesentlichen entsprechend der Fassung dieser zuletzt oktroyierten Verordnung, ist dann späterhin dieses Gesetz von den Kammern akzeptiert worden.

Meine Herren, das Gesetz charakterisiert sich als ein Umsturzgesetz im eigentlichen Sinne des Wortes. Wer daran zweifelt, der möge sich einmal die Verhandlungen der Kammern und die Begründungen ansehen, die insbesondere die Königliche Regierung bei Gelegenheit der verschiedenen Oktroyierungen ihrem Staatsakt gegeben hat. Da wird zum Beispiel zur Motivierung für die Oktroyierung der Verordnung vom 50. Juni 1849 folgendes gegenüber der zweiten Kammer bemerkt:

Man habe gehofft, dass es möglich sein werde, nun das Einschreiten der bewaffneten Macht möglichst zu vermindern. Nun habe sich diese Hoffnung aber nicht erfüllt. Es sei notwendig, Vorschriften zu erlassen, geeignet, ,den Ausschreitungen zu begegnen, mittels welcher zu strafbaren Handlungen, zum Ungehorsam gegen die Gesetze angereizt, der öffentliche Friede gefährdet, die Ehrfurcht gegen das Staatsoberhaupt verletzt, das Ansehen der Obrigkeit herabgesetzt, ihre Anordnungen dem Hass und der Verachtung preisgegeben, die Heiligkeit der Religion angetastet und Beleidigungen gegen die Mitglieder der Kammern, die Organe der vollziehenden Gewalt, die Diener der Religion und die Staatsbürger, welche als Geschworene zur Strafrechtspflege mitgewirkt haben, verübt werden'. Es sei der Erlass dieser Verordnung, nachdem diesen Zwecken durch die bis dahin bestehenden Gesetze nicht genügt worden sei, von der Regierung für erforderlich gehalten worden."

Es wurde denn auch in die Verfassung eine Bestimmung aufgenommen, die die früher unbeschränkte Pressfreiheit beschränkte. Es wurde ausdrücklich vorgesehen, dass eine Beschränkung der Pressfreiheit, die in der ersten Form der Verfassung nur im Wege der Verfassungsänderungen zulässig gewesen wäre, nun in der Form der ordentlichen Gesetzgebung stattfinden darf.

Bei der Begründung der zweiten Oktroyierung ist man noch deutlicher geworden. Es wird darauf hingewiesen, dass sich hinreichend Gelegenheit geboten habe, die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der bisherigen Pressgesetzgebung zu befestigen. „Eine Menge neuer Blätter ist mit Leichtigkeit ins Leben gerufen … Leute ohne Beruf und ohne Befähigung, Dolmetscher der öffentlichen Meinung zu sein, haben durch Gründung neuer oder Beteiligung an schon bestehenden Blättern sich Existenz und Bedeutung zu verschaffen gesucht. Das Höchste und Heiligste wird herabgezogen und bis zur Verwirrung der Begriffe über die Grundpfeiler des Christentums und des Staates, ja, bis zur Gotteslästerung, in unwürdigster Weise besprochen. Die Partei des Umsturzes erblickt in der ungezügelten Presse ein erwünschtes Mittel der Agitation. Es würde nur zu leicht sein … darzutun, in wie verderblicher … Weise jene Partei bemüht ist, auf diesem Wege die Gottesfurcht, den Patriotismus, die Achtung vor dem König und den Personen der Fürsten und vor der Regierung zu untergraben" usw. Man wünschte, der allmählichen Verbreitung dieser vergiftenden Lehre entgegenzutreten durch den Erlass dieser oktroyierten Verordnung. Es wird von einem Abgrund gesprochen, vor dem der Staat und die Gesittung ständen und der dringend erforderlich mache, dass schleunigst eingegriffen werde.

Nun, meine Herren, daraus entnehmen Sie, dass es sich damals in der Tat um ein Umsturzgesetz gehandelt hat, um ein Sozialistengesetz, würden wir sagen, wenn es etwa 30 Jahre später gewesen wäre – damals waren die Umstürzler ja die Herren Liberalen –, und um ein Gesetz, das doppelt oktroyiert worden ist. Um recht zu verstehen, in welch entwürdigender, dem Interesse des Volkes widersprechender Weise damals die Reaktion in Preußen ihres Amtes waltete, brauchen wir uns nur der berühmten Anweisungen zu erinnern, die der Zar Nikolaus I. in jener Zeit der Konterrevolution den preußischen Ministern erteilte; wie er sie nötigte, die inneren politischen Verhältnisse Preußens nach russischen Wünschen zu gestalten, wie er nicht nur Anweisungen gab, sondern auch Noten, Komplimente und Missbilligungen austeilte, kurzum, im vollsten Umfange sich als der Herr auch der innerpolitischen preußischen Verhältnisse gerierte, und zwar mit einem gewissen Recht. Die preußischen Machthaber der damaligen Zeit, die Minister, die Manteuffel1 und Genossen, haben ihm dieses Spiel nur allzu leicht gemacht. Besonders bemerkenswert ist die äußerst belustigende Form, die in der damaligen Zeit bei Emanation des Pressgesetzes die Angst vor der Revolution angenommen hat, und zwar gerade in Bezug auf diejenigen Punkte, mit denen wir uns heute zu beschäftigen haben. Es wurde immer und immer wieder bei der Beratung und auch in den Motiven darauf hingewiesen, eine wie gefährliche Rolle die Bahnhöfe in der damaligen Zeit spielten. Sie hatten im Jahre 1848 zum Teil als Sammelplätze der revolutionären Elemente gedient, und so legte man besonders Gewicht darauf, dass auf den Bahnhöfen jedes gefährliche Plakat vermieden werden möchte, wodurch unter Umständen eine Erneuerung der Revolution von 1848, vor der man eine Heidenangst hatte, herbeigeführt werden könnte.

Des weiteren finden Sie eine sehr charakteristische Äußerung, die beweist, wie „hochmodern" die Bestimmungen sind, mit denen wir uns zu befassen haben. Es wird da unter anderem auch gesagt, und zwar in dem Berichte der Kommission der zweiten Kammer:

Indem von einigen Mitgliedern der Kommission diese Ausdehnung des Verbots, namentlich auf Eisenbahnhöfen, unter Hindeutung auf die an solchen Orten in den Märztagen des Jahres 1848 stattgehabten Szenen und auf den noch jetzt bestehenden Missbrauch, daselbst"

nämlich auf den Bahnhöfen

Schriften feilzubieten usw., gebilligt wurde" usw.

Sie sehen, meine Herren, mit welcher Entrüstung man damals auf den „Missbrauch" hinwies, „auf den Bahnhöfen Schriften feilzubieten";

(„Sehr richtig!" rechts.)

dieser Missbrauch ist ja nun heute mit Genehmigung der Königlichen Staatsregierung zu einem ziemlich großen Umfange gediehen. Im Übrigen gibt sich freilich die Königliche Staatsregierung die möglichste Mühe zu beweisen, dass man sehr weit über das Jahr 1850 noch nicht hinausgekommen ist, indem man eine kleinlichste Zensur – die die süddeutschen Staaten vermeiden – bei den Bahnhofsbuchhändlern auszuüben sich für verpflichtet hält.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Friedberg.)

In Baden dürfen die sozialdemokratischen Schriften feil gehalten werden.

(Abgeordneter Dr. Friedberg: „Bayern hat den ,Simplizissimus' verboten!")

Ja, das ist einmal geschehen, aber nur ausnahmsweise. Im Allgemeinen können Sie sich in Preußen jedenfalls durchaus nicht auf Süddeutschland berufen; ich werde Gelegenheit haben, gerade noch auf diesen Punkt zu kommen.

Also, diese köstliche Angst vor den Bahnhöfen, diese köstliche Empörung über das Feilhalten von Druckschriften auf den Bahnhöfen kennzeichnet das ganze Gesetz. Es kommt uns vor wie ein alter Großpapa, der mit Vatermördern und im altvaterischen Biedermeiergewande herumläuft. Wir verstehen dieses Gesetz überhaupt nicht; kein Mensch begreift, wie dieses Gesetz in der heutigen Zeit noch lebendig sein kann; und doch, wenn man das Gesetz sich ansieht und überzeugt sein möchte, es müsse längst tot, längst vermodert sein, immer wieder und wieder müssen wir uns belehren lassen: „Hei lebet noch, hei lebet noch und wackelt mit dem Schwoof". Bedauerlicherweise lebt es noch. Es ist auch nicht durch das Reichspressgesetz beseitigt worden, denn dieses Reichspressgesetz hat in den Paragraphen 50 Absatz 2 die bekannte clausula salvatoria hineingebracht, und zwar gerade um deswillen, weil man sich über das Plakatwesen nicht einigen konnte; und ich glaube nicht fehl zu gehen, dass die Unmöglichkeit dieser Einigung ganz wesentlich auf preußische reaktionäre Einflüsse zurückzuführen war.

Nun, meine Herren, will ich kurz skizzieren, in welchem Umfange das Gesetz heute angewandt wird. Wir haben zunächst Strafverfolgungen gehabt, weil ein freireligiöser Verein in irgendeinem Geschäfte kleine Zettel aushängte, auf denen nichts weiter stand als: „Hier sind Formulare zum Kirchenaustritt zu haben"; überall sind Verurteilungen erfolgt, und sie sind, ich will es meinethalben nicht bestreiten, mit Recht erfolgt. Des weiteren, meine Herren, wurden bei Gelegenheit des Bäckerstreiks und des Friseur- und Barbierstreiks bei den Arbeitgebern, die die Forderungen der Gehilfen bewilligt hatten, Plakate ausgehängt, auf denen nichts weiter stand, als dass sie die Forderungen der Gehilfen bewilligt haben, ein Avis für diejenigen Käufer beziehungsweise diejenigen der Rasur Bedürftigen, die die Absicht hatten, nur bei derartigen Gewerbetreibenden ihre Bedürfnisse zu befriedigen, die den Interessen der Arbeitnehmer in einer entsprechenden Weise Rechnung tragen. Diese Plakate wurden gleichfalls in allen Instanzen als gegen den Paragraphen 9 des preußischen Pressgesetzes verstoßend angesehen, nicht nur etwa in dem Sinne, dass es dazu einer polizeilichen Erlaubnis bedurft hätte, sondern in dem Sinne, dass eine polizeiliche Erlaubnis in diesen Fällen überhaupt gar nicht möglich gewesen wäre, weil diese Plakate in dieser Form gesetzlich unter allen Umständen verboten sind, selbst wenn die Regierung den Wunsch haben sollte, ähnliche Plakate auszuhängen; sie würde gar nicht das Recht dazu haben.

Dann möchte ich Sie weiter noch an gewisse Vorgänge bei der Berliner Landtagswahl erinnern. Es wurden von einigen Gastwirten oder sonstigen Geschäftstreibenden in ihren Schaufenstern Listen der Wahlmänner ausgehängt, auf denen diejenigen, die sozialdemokratisch gewählt hatten, und diejenigen, die freisinnig gewählt hatten, in verschiedener Farbe unterstrichen waren. Da konnte man sehen, wie dies Gesetz veraltet und unsinnig ist. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei waren natürlich nicht faul, hinter der Sache herzugehen. Sie suchten es aber zunächst mit Paragraph 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuchs, dem Groben-Unfugs-Paragraphen, zu machen, und es wurde in der Tat in zwei Instanzen eine Verurteilung auf Grund dieses Paragraphen ausgesprochen. Das Kammergericht konnte diese durchaus unhaltbare Entscheidung nicht aufrechterhalten; es verwies die Sache zurück, indem es bemerkte, es handle sich, wenn auch nicht grober Unfug vorliege, doch um eine Kontravention gegen den Paragraphen 9 des preußischen Pressgesetzes. Es ist dann auch auf diese Anregung des Kammergerichts eine Verurteilung erfolgt.

Dann haben wir – und das wird sicherlich auch die Herren vom Zentrum interessieren – in großem Umfang die Erfahrung machen müssen, dass die üblichen Gewerkschaftsplakate, die weiter nichts enthalten als eine Mitteilung der Statuten und vielleicht noch eine Angabe, wo man sich als Mitglied melden kann, von der Polizei an sehr vielen Orten verboten worden sind. Sie sind in Gastwirtschaften, Barbiergeschäften usw. beschlagnahmt worden, und es sind obendrein noch denjenigen, die sie angebracht hatten, kriminelle Verfahren an den Hals gehängt worden. Es wird hierbei überall davon ausgegangen, dass diese Gewerkschaftsplakate ebenso wie die Boykottplakate keine Nachrichten für den gewerblichen Verkehr seien. Ich meine, hier könnte man immerhin auch von unserer Judikatur erwarten, dass sie ein klein wenig weitherziger sei und nicht in so ungemein enger, kleinlicher Weise den Begriff der Nachrichten für den gewerblichen Verkehr einschränke. Aber die Judikatur ist ja schließlich seit langer Zeit die gleiche geblieben, und wir haben mit dieser Tatsache zu rechnen. Rein formal genommen, lässt sich auch gegen diese Judikatur des Kammergerichts kaum irgend etwas einwenden.

Ich möchte Ihnen als Kuriosum einen andern Fall vortragen, der sich in Hannover abgespielt hat und der ein etwas anderes Gesicht trägt als die eben erwähnten Fälle. Es ist vom Kammergericht und dem Verwaltungsgericht unter anderem ein Plakat für strafbar gehalten worden, auf dem das Wappen des ehemaligen Königreichs Hannover, getragen von Soldaten in hannoverscher Uniform, mit der Unterschrift: „Jong, holl fest!" angebracht war, und auf welchem echter, alter hannoverscher Kümmel empfohlen wurde. Meine Herren, offensichtlich hat man hierin eine Art politischer Demonstration erblickt und aus diesem Grunde in dieser Art der Reklame nicht eine einfache Nachricht für den gewerblichen Verkehr angenommen. Wenn es sich hier um eine patriotische Phrase und um einen patriotischen Namen gehandelt hätte, der diesem Kümmel gegeben worden wäre, also etwa um die Bezeichnung „Bismarck-Kümmel" oder „Bethmann-Hollweg-Kümmel" oder „Moltke-Kümmel", dann würde man – davon bin ich fest überzeugt – keinerlei Anstoß genommen haben. Und wenn die Soldaten dazu ihre preußische militärische Tracht getragen haben würden und irgendein Spruch der Vaterlandsliebe dagestanden hätte, so hätte kein Hahn danach gekräht. Man würde gar nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass etwas anderes als eine Nachricht für den gewerblichen Verkehr vorliegt.

Das sind die Fälle, die in einer besonders krassen Weise zeigen, wohin man mit dem Paragraphen 9 des Pressgesetzes kommt; denn, wohlgemerkt, es handelt sich bei alledem, was ich mir eben auszuführen erlaubt habe, nicht darum, dass irgendein Plakat ohne Genehmigung aufgehängt worden ist, sondern darum, dass es schlechthin verboten war, solche Plakate anzubringen, gleichviel, ob mit oder ohne Genehmigung.

Meine Herren, es muss auf die Konsequenz hingewiesen werden, dass dieses Gesetz geradezu zu einem Hemmschuh, zu einer Unmöglichkeit für unsere ganze Entwicklung wird. Auf diese Gefahr ist auch den Gerichten gegenüber schon wiederholt hingewiesen worden. Meine Herren, wie soll sich denn eine Gewerkschaftsbewegung, wie sollen sich denn unsere politischen Vereinigungen entwickeln können, wie soll unser Versammlungswesen sich in der von den Reichsgesetzen gewollten Weise ungehemmt entwickeln, wenn das preußische Pressgesetz derartige Bestimmungen enthält, wie ich sie eben charakterisiert habe! Ist es denn nicht geradezu nötig für jede Form von Organisation – mögen es nun christliche, mögen es gelbe, mögen es sozialdemokratische Gewerkschaften sein, wie man sie zu nennen pflegt –, in Verkehrslokalen, in Wirtschaften, auf Bahnhöfen usw. gelegentlich Plakate aufzuhängen, auf denen sie auf ihr Wesen aufmerksam macht und Mitglieder zu gewinnen sucht?!

Meine Herren, noch mehr! Wir können beobachten, dass eine ganze Menge von Plakaten, die wir tagtäglich vor unseren Augen sehen, schlechterdings unzulässig sind. Zum Beispiel sehen wir in den Eisenbahnen und auf den Bahnhöfen die Mitteilungen des Roten Kreuzes, die Mitteilungen der Vereine zum Schutze allein reisender junger Mädchen usw., Organisationen, die selbstverständlich nicht dem gewerblichen Verkehr dienen, sondern rein gemeinnützige Organisationen. Diese Plakate dürfen nach dem Gesetz nicht aufgehängt werden, das ist unbedingt strafbar. Meine Herren, diese Plakate werden dennoch ungehindert und unausgesetzt aufgehängt. Die Eisenbahnbehörde selbst hängt sie auf; sie duldet sie in den Wagen, sie duldet sie auf den Bahnhöfen, aber das ist strafbar! Man könnte mit all dem Unfug dieses Gesetzes aufräumen, indem man Anzeige über Anzeige erstattete und dafür sorgte, dass diejenigen, die hier in ganz klarer Weise gegen das Gesetz verstoßen, vom Staatsanwalt verfolgt werden. Meine Herren, es ist kein Scherz, den ich mache. Es ist buchstäblich Ernst. Es klingt wie eine Karikatur des Ernstes, aber es ist preußischer Ernst. Was Sie als unglaublich empfinden, was Sie als Karikatur empfinden, das ist die preußische Struktur, die Sie da sehen, ohne es zu wissen, es ist das Knochengerüst des preußischen Polizeistaates, das bei diesen und ähnlichen Bestimmungen hervortritt.

Meine Herren, jene Organisationen dürfen keine Plakate oder Zettel anheften. Meine Herren, nun habe ich wiederholt gesehen, dass hochgestellte Persönlichkeiten bei ihnen Protektoren sind. Protektorin des einen Vereins ist zum Beispiel die deutsche Kaiserin. Ja, weiß die deutsche Kaiserin, dass sie sich einer strafbaren Handlung schuldig macht, wenn sie als zur Leitung dieser Organisation berechtigte und in gewissem Sinn verpflichtete Person diese Plakate dort duldet, wenn sie es duldet, dass ihr Name unter einem verbotenen Plakat, unter einem zweifellos strafbaren Akt steht? Und, meine Herren, weiß denn die Eisenbahnbehörde gar nicht, dass diese Sachen strafbar sind? Duldet man denn diese Geschichten ganz ruhig und tut so, als ob überhaupt nichts geschehe? Meine Herren, das ist das ganz besonders Empörende, und das ist es, was uns Sozialdemokraten in allererster Linie berufen erscheinen lässt, diese Sache zur Sprache zu bringen. Diese Bestimmung, von der ich eben gesprochen habe, wird von der Regierung, der Polizei und allen zur Verfolgung von strafbaren Handlungen und zur Aufrechterhaltung der Gesetze berufenen Organisationen systematisch nur gegen politisch unliebsame Erscheinungen, gegen die Sozialdemokratie, gegen andere politische oppositionelle Erscheinungen, gegen Gewerkschaften usw., angewandt; nie und nimmer aber denkt man daran, dieses Gesetz anzuwenden gegenüber dem harmlosen Verkehr, der nicht politisch ist, oder aber gegenüber solchen Organisationen, die der Staatsregierung genehm sind. Meine Herren, hier haben wir ein Beispiel, wo in so eklatanter Weise gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz verstoßen wird, dass wir uns ein besseres Kabinettsstück der Klassenjustiz überhaupt nicht denken können. Meine Herren, es ist nicht nur ein Kabinettsstück der Klassengesetzgebung, der einseitig politischen Gesetzgebung, sondern auch ein Kabinettsstück der Klassenjustiz, das wir hier vor uns sehen, ein Kabinettsstück der polizeilichen Pflichtwidrigkeit, möchte ich sagen, ein Kabinettsstück zum Beweise der Tatsache, wie wahr es ist, dass der preußische Staat weit davon entfernt ist, über den Parteien zu stehen, wie sehr er vielmehr in allen seinen Organisationen von oben bis nach unten hinein emsiglich bemüht ist, selbst unter Anwendung von durchaus dem Gesetz widersprechenden Mitteln, einseitig politische Anschauungen zu begünstigen und dem Gesetz zuwider andere politische Anschauungen zu verfolgen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das ist die eine Seite der Sache. Aber nur die eine. Wir haben außerdem die Bestimmung, dass auch Plakate erlaubten Inhalts, nach Paragraph 9, nur angeheftet werden dürfen, wenn zu ihrer Anheftung die polizeiliche Genehmigung erteilt ist. Und außerdem muss derjenige, der die Anheftung vornimmt, seinen Erlaubnisschein dafür ständig in der Tasche tragen. Kein Mensch denkt daran, diese Bestimmung zu erfüllen. Es wurde bereits bei den Beratungen des Gesetzes darauf hingewiesen, dass das Gesetz so ja gar nicht durchgeführt werden könne; es wurde unter anderem hingewiesen auf Theaterzettel, auf Konzertprogramme usw., und es wurde gefragt, ob denn jeder Diener des Theaters einen derartigen Erlaubnisschein habe, ob denn die Plakate, die innerhalb der Theater angehängt werden, mit besonderer polizeilicher Genehmigung angeheftet würden usw. Es wurde damals von dem Herrn Regierungskommissar die sehr charakteristische Äußerung getan, die Regierung werde das Gesetz schon in einer entsprechenden Weise anwenden. Es heißt hier wörtlich:

Die Verwaltung werde von der in Rede stehenden Vorschrift keinen Gebrauch machen, welcher die angeregte Besorgnis rechtfertige."

Hier wird in dem Kommentar von Schwarck, Oberstaatsanwalt a. D., hinzugefügt:

Dass die Verwaltung dies gar nicht in der Hand hat, beweisen einige Fälle“,

die im Einzelnen angeführt werden. Wir dürfen hinzufügen, dass die Verwaltung es gar nicht in der Hand haben darf. Wenn eine Handlung ausdrücklich unter Strafe gestellt ist, besteht nicht nur die Pflicht der Staatsregierung, auch in der verwaltenden Tätigkeit unparteiisch zu sein und alles mit gleichem Maße zu messen, sondern es besteht auch die Verpflichtung der Staatsregierung, soweit sie strafverfolgende Behörde ist, ohne Ansehen der Person die strafbare Handlung zu verfolgen. Wenn also der Regierungsvertreter schon bei der Geburt des Gesetzes angekündigt hat, dass die Verwaltung entschlossen sei, das Gesetz in willkürlicher Weise anzuwenden, so können wir nur bestätigen, dass sich die Voraussage des Regierungsvertreters im Großen und Ganzen tatsächlich erfüllt hat.

Meine Herren, ich sprach eben davon, dass es auch zu dem Aushängen solcher Plakate in den Theatern usw. einer besonderen polizeilichen Genehmigung bedarf. Sie werden fragen, ob schon irgend jemand einmal geprüft hat, ob etwa der Herr Generalintendant von Hülsen die polizeiliche Erlaubnis zum Aushängen von Plakaten hat, ob er stets den Erlaubnisschein in der Tasche herumtragen wird, oder ob der Direktor Reinhardt vom Deutschen Theater sich eine derartige Erlaubnis hat geben lassen und mit diesem Schein in der Tasche sein Lebtag herumläuft. Ich glaube, kein Mensch hat jemals danach gefragt.

Meine Herren, Sie alle haben auch schon erlebt, dass Versammlungen in Lokalen durch Plakate bekanntgemacht worden sind, ohne dass ein Hahn danach gekräht hat, ohne dass jemand gefragt hat, ob eine polizeiliche Erlaubnis dazu besteht. Der Sozialdemokratie gegenüber ist man aber doch anders verfahren. Ich habe hier ein Urteil in der Strafsache gegen Kiesewetter. Dieser Kiesewetter hatte nichts weiter getan, als die Ankündigung einer erlaubten sozialdemokratischen Versammlung – oder war es nur eine Gewerkschaftsversammlung – in einer Gastwirtschaft ausgehängt und ebenso in einem Barbiergeschäft. Dieses Barbiergeschäft gilt als ein öffentlicher Ort genauso wie ein Theater, eine Gastwirtschaft usw. Er wurde darauf prozessiert und ist vom Kammergericht verurteilt worden. Das Kammergericht hat bestätigt, dass er auch zu dieser Ankündigung der Versammlung unbedingt der polizeilichen Genehmigung bedurft hätte; weil er diese Genehmigung nicht besaß, sei er mit Recht verurteilt worden. Meine Herren, das ist natürlich ein heller Wahnsinn. Dass dadurch das Versammlungsrecht aufs Schwerste geschädigt werden kann, liegt auf der Hand. Ich brauche Sie nur zu erinnern, in welcher einseitig schikanösen Weise zum Beispiel die preußische Schulregierung die Unterrichtserlaubnis hier versagt und dort erteilt. Wer hat das Recht darauf, von der Polizei die Erlaubnis zu bekommen, Druckschriften zu verteilen beziehungsweise anzuheften? Nicht ein einziger! Ich bin fest überzeugt, dass in vielen Gegenden die Polizei mit Rücksicht auf sozialpolitische Differenzen, mit Rücksicht auf politische Differenzen Leuten, gegen die sonst gar nichts einzuwenden ist, rein vielleicht wegen ihrer sozialdemokratischen Gesinnung, die Genehmigung zur Druckschriftenverteilung oder Anheftung von Plakaten versagt oder versagen würde. Ja, wenn sich nun gar niemand findet, der diesen Erlaubnisschein besitzt und dieses Plakat anheftet, dann ist es der Sozialdemokratie unmöglich gemacht, gesetzlich erlaubte Versammlungen in der allgemein üblichen Weise dem Publikum bekannt zu machen.

Meine Herren, dass diese Konsequenz nicht phantastisch ist, sondern tatsächlich Realität gewonnen hat, dafür ist der Fall Kiesewetter Beweis, von dem ich eben gesprochen habe. Das Urteil des Kammergerichts, das ich hier habe, ist vom 8. November 1906 datiert. Wenn man sich dieses Gesetz insgesamt betrachtet, das in das Zeitalter der Reklame, in das Zeitalter des Verkehrs, der doch auch Preußen nicht ganz verschont gelassen hat, noch hineinragt wie ein Petrefakt, dann kommt man in der Tat auf den Gedanken: Wo sich alles bereits der Eisenbahn bedient, wo das Automobil die Welt beherrscht, wo die Luft erobert wird durch die Luftschiffe, wo die Deutschen denken, in der Eroberung der Luft mit in erster Reihe zu marschieren, da reist die preußische Polizei noch in der alten, knarrenden Postkutsche und bildet sich dabei gar noch ein, hochmodern zu sein. Es ist die alte Postkutsche, in der die preußische Polizei noch allenthalben zu kutschieren vorzieht, wenigstens wenn es sich darum handelt, den oppositionellen Parteien Schwierigkeiten zu bereiten.

Darüber kann kein Zweifel obwalten, dass das Gesetz durchaus unhaltbar und unmöglich ist für unsere heutige Zeit. Ich behaupte, dass in Berlin an jedem Tage 50.000 bis 100.000 Kontraventionen gegen das preußische Pressgesetz begangen werden

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass sich kein Mensch darum kümmert und kein Mensch darum kümmern kann.

Ich habe Gelegenheit gehabt, in dem Fall Kiesewetter, von dem ich eben sprach, die Unmöglichkeiten und Unsinnigkeiten, zu denen die Anwendung dieses Gesetzes konsequent führt, dem Kammergericht in detaillierter Weise vorzuführen. Ich hatte damals die Freude zu sehen, dass sich die preußische Justiz, wie schon öfter, immerhin innerhalb der preußischen Ressorts, mindestens im Vergleich zu der preußischen Polizei, als weiter fortgeschritten zeigte.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es wurde dort von dem Oberstaatsanwalt erklärt, er könne meine tatsächlichen Bemerkungen nur durchaus akzeptieren. Es lasse sich nicht bestreiten, dass das Gesetz ein ganz unhaltbares sei,

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

das in unsere heutige Zeit nicht mehr hineinpasse; aber was bleibe übrig, die Hände wären gebunden, man müsse es anwenden. Nicht nur der Vertreter der Anklagebehörde, der höchste Ankläger Preußens, sondern auch das Kammergericht, der höchste Strafgerichtshof Preußens, hat sich in ähnlicher Weise ausgelassen, wie ich Ihnen jetzt zur Verlesung bringe. Es heißt in dem Urteil, von dem ich eben sprach:

Es muss dem Angeklagten, dessen Vertreter sowohl in der Revisionsschrift als auch in der Hauptverhandlung vor dem Senat hierüber noch nähere Ausführungen gemacht hat, zugegeben werden, dass die Auslegung der Paragraphen 9 und 10 des Gesetzes, wie sie von dem Berufungsgericht, übrigens in Übereinstimmung mit dem Kammergericht und dem Oberverwaltungsgericht, mit der Mehrzahl der Kommentatoren und der Entstehungsgeschichte, gegeben ist, zu unbefriedigenden Konsequenzen führt. Richtig ist namentlich, dass dann eine ganze Anzahl von Plakaten, die sich im Laufe der Zeiten im Verkehrsleben als zweckmäßig herausgestellt haben, öffentlich nicht angeheftet werden dürfen, auch nicht mit polizeilicher Erlaubnis, weil sie den in Paragraph 9 des Gesetzes zugelassenen Inhalt nicht besitzen. Das hat den Senat zwar zu einer nochmaligen eingehenden Prüfung der Rechtslage veranlasst, kann ihn aber nicht bestimmen, gegen den Wortlaut und Sinn des Gesetzes zu entscheiden. Denn der Richter ist durch das Gesetz gebunden und kann sich nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit dort über das Gesetz hinwegsetzen, wo es klare Vorschriften gibt."

Man sieht also deutlich, wie das Kammergericht hier bedauert, ein solch rückständiges Gesetz anwenden zu müssen. Und dennoch, meine Herren, es hat in den sauren Apfel beißen müssen; es bleibt nichts übrig: Das Gesetz muss angewendet werden. Aber auch, wenn es nur wenigstens wirklich angewendet würde; das ist ja eben das Unglück: Es wird zumeist nicht angewendet! Wenn die Behörden versuchen würden, es ein einziges Mal eine kurze Zeit lang konsequent und gerecht anzuwenden, dann würden sie bereits in acht Tagen das Gesetz totgeschlagen haben.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Nur dadurch, dass die Regierung in systematischer Weise einseitig das Gesetz nur gegen gewisse unliebsame Erscheinungen des politischen und sozialen Lebens anwendet, wird es überhaupt möglich, den Schein der Fortexistenz und der Möglichkeit dieses Gesetzes aufrechtzuerhalten.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ähnlich steht es ja mit der Druckschriftenverteilung; auch die letztere ist ja durch Paragraph 10 dieses Gesetzes in eigentümlicher Weise gehemmt, eingeschnürt. Ich erinnere, dass ja das Kammergericht hier eine Lücke gefunden hat, wonach eine entgeltliche, aber nicht gewerbsmäßige Verteilung von Druckschriften ohne besondere polizeiliche Genehmigung oder Konzession zulässig ist, weil die Gewerbeordnung nur über die gewerbsmäßige Verteilung handelt, während das preußische Pressgesetz über die unentgeltliche Verteilung handelt – nur insoweit ist es wenigstens durch die clausula salvatoria aufrechterhalten. Infolgedessen haben wir hier eine eigentümliche Lücke, deren Heraussuchen gerade in der lebhaftesten Weise das Bedürfnis charakterisiert, über die so ungemein veralteten Bestimmungen des preußischen Pressgesetzes hinauszukommen. Es hat sich da eine köstliche Kasuistik entwickelt. Das Verteilen ist ja, nachdem die Gewerbeordnung eine entsprechende Änderung vollzogen hat, an eine polizeiliche Genehmigung nur noch gebunden, soweit die Verteilung nicht in geschlossenen Räumen stattfindet. So ist zum Beispiel zulässig, Druckschriften in einem Kellerhals zu verteilen, in einem Hausflur, der gar nicht abgeschlossen zu sein braucht, man darf sie durchs Fenster werfen, durch die Tür schieben, man darf Druckschriften in Gastwirtschaften vertreiben, in Barbiergeschäften, während Plakate nicht angeheftet werden dürfen, eine Kasuistik, die geradezu ins Komische geht, die aber deutlich beweist, wie sich unser moderner Verkehr abplagt, mit einer Bestimmung fertig zu werden, die er absolut nicht mehr ertragen kann. Es ist eine Frage, die sich lohnen würde, entscheiden zu lassen, ob jemand, der einen Regenschirm über sich hält, Flugschriften auf der Straße verteilen darf; denn an und für sich ist er in gewissem Sinn damit unter Dach und Fach. Es würde noch nicht das Merkwürdigste an dieser Kasuistik sein, wenn die Gerichte zu dem Standpunkt kämen, unter dem Regendach darf man Druckschriften verteilen.

Diese Unsinnigkeiten sind bekanntlich der preußischen Polizeigesetzgebung und den preußischen Polizeibehörden doch noch nicht so unangenehm geworden, dass sie sich etwa deswegen auch nur im Geringsten bemüht hätten, Erleichterungen zu verschaffen; im Gegenteil, wir haben die unangenehme Erfahrung machen müssen, dass die preußische Staatsregierung systematisch noch eine Verschlimmerung der Paragraphen 9 und 10 des preußischen Pressgesetzes dadurch herbeizuführen suchte, dass allenthalben die bekannten Verfrommungsverordnungen2 erlassen sind, durch die es ermöglicht wurde, auch ein an und für sich ganz legales, nach Paragraph 10 nicht verbotenes Verteilen von Druckschriften dennoch strafbar zu machen. Es ist bekannt, in welch großem Umfang diese Verfrommungsverordnungen gegen die Sozialdemokratie angewandt sind.

Ich habe schon vorhin bemerkt, dass Preußen hier gegenüber den übrigen Bundesstaaten eine sehr ungünstige Stellung einnimmt. Es ist richtig, dass auch die anderen Bundesstaaten zumeist Plakatbestimmungen besitzen. Aber diese Plakatbestimmungen der anderen Bundesstaaten, die Sie zum großen Teil abgedruckt finden im Kommentar von Schwarze-Appelius zum Reichspressgesetz, sind längst nicht so engherzig wie die preußischen. Es wird in den meisten deutschen Bundesstaaten das als Gesetzeslage betrachtet, was nach der im Eingang meiner Ausführungen von mir als zunächst einmal naheliegend bezeichneten Auffassung auch der preußischen Paragraphen anzunehmen gewesen wäre. Es wird dort im Allgemeinen für eine bestimmte Art von Plakaten, Druckschriften usw. die freie Erlaubnis gegeben, während andererseits für Plakate und Druckschriften anderen Inhalts nicht ausgesprochen wird, dass sie auch mit polizeilicher Genehmigung nicht erlaubt sein sollen, sondern nur die Voraussetzung der polizeilichen Genehmigung aufgestellt wird.

Sie können also deutlich ersehen, dass Preußen auch in Bezug auf diese gesetzgeberische Materie in einem so rückständigen Zustand lebt, wie es zwar sehr bedauerlich ist, weil es in gewissem Sinn, möchte ich sagen, einen schämt, wenn man sich nun einmal als preußischer Staatsbürger weiß und fühlt, wie es aber andererseits so sehr preußischen Gepflogenheiten entspricht, dass man sich eigentlich nur über die wundern muss, die sich darüber wundern. Preußen ist auf diesem Gebiet in Deutschland voran, in demselben Sinn, in dem es überhaupt in Deutschland voran ist: in der Rückständigkeit, in der Mittelalterlichkeit der Anschauungen. Wie kann man sich überhaupt erklären, dass die preußische Regierung, die Regierung eines Staates, der so in seiner wirtschaftlichen Entwicklung vorwärtsdrängt, der so die modernen Verkehrsbedürfnisse empfindet, wo sich allenthalben die kapitalistische Entwicklung mit Riesenkraft regt und reckt, noch Gesetze anwendet, die in das Zeitalter der Postkutsche hineinpassen, aber nicht in unser Zeitalter, Bestimmungen, die vielleicht für ostpreußische Gutsbezirke möglich sein könnten, aber nicht für unsere ungeheure moderne großstädtische Entwicklung, nicht für die Entwicklung unseres Vereinswesens, unseres politischen Lebens.

Meine Herren, das Rätsel ist gar nicht schwer zu lösen. Es ist eine Erfahrung, die wir in Preußen immer und immer wieder machen, dass die preußische Regierung, ehe sie ein Gesetz aus der Hand gibt, das zu Schikanen gegen die Opposition geeignet ist, sich eher totschlagen lässt. Ein preußisches Bürokratenherz erzittert und erbebt ja einfach vor Angst und Sorge, wenn es sich vorstellt, dass es eine solche kleinliche polizeiliche Bestimmung aus der Hand geben müsste, die schon diesem und jenem engherzigen Polizeigeist so oft Gelegenheit gegeben hat, hier und da der Sozialdemokratie einen Nadelstich zu versetzen, ihr ein klein bisschen Ärger zu machen. Es sind die Freude an der kleinlichen polizeilichen Schikane, die allgegenwärtige Reglementierungssucht, die die preußische Regierung hindern, dieses Gesetz einfach dorthin zu werfen, wohin es längst gehört: in die Rumpelkammer der Geschichte. Meine Herren, es ist, wenn es für irgendeinen Staat gilt, so für Preußen, wahr, dass sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort erben Und es ist das Sonderbare, dass in Preußen im Allgemeinen die Gesetze, die politisch betrachtet die schlechtesten sind, eben darum die dauerhaftesten sind.

Wir haben es am preußischen Vereinsgesetz gesehen. Solange es den Frauen jede Mitwirkung an politischer Bewegung verbot, war es auch für die herrschenden Parteien eine Unmöglichkeit, mit diesem Gesetz auszukommen; es wurde infolgedessen von der Polizei in der einseitigsten Weise nur gegen die oppositionellen Parteien angewandt; dem Bund der Landwirte usw. ließ man einfach alles durchgehen. Als man dann schließlich sah, dass man auch so nicht weiterkomme, weil es zu viel böses Blut machte, entschloss man sich nicht etwa zu dem Schritt, im Wege der Gesetzgebung das Vereinsgesetz aufzuheben, sondern man erließ ganz gesetzwidrig die sogenannte Segmentverordnung3;

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!“)

auf dem Verordnungswege suchte man ein Gesetz abzuändern. Und weshalb? Nur weil man sich als preußischer Bürokrat und preußische Regierung nicht mit dem Gedanken abfinden konnte, ein doch wenigstens in dieser Bestimmung unbrauchbar und unhaltbar gewordenes Gesetz aufzuheben; man könnte doch schließlich von dieser und jener Bestimmung zum Zwecke einer der beliebten polizeilichen Schikanen noch einmal Gebrauch machen können! Und das kann man sich in Preußen nie und nimmer entgehen lassen. Deswegen hält man auch an dem Pressgesetz fest.

Meine Herren, es ist selbstverständlich, dass ich hierbei nicht in der Lage bin, ein lebhaftes Pathos zu entwickeln, denn das preußische Pressgesetz ist wahrhaftig nicht geeignet, irgendeiner wertvollen und bedeutsamen modernen Erscheinung ernstlich Fesseln anzulegen. Es sind das Spinnwebfäden, es ist ein Altweibersommer aus der preußischen Konterrevolution, der einem gelegentlich ins Gesicht fliegt und den man abstreift; aber natürlich sind das nicht Fesseln, mit denen Sie etwa die proletarische Bewegung zu fesseln in der Lage wären. Immerhin aber, meine Herren, benutzen wir doch die Gelegenheit, um auch hier wieder einmal die Rückständigkeit des preußischen Staates und besonders der preußischen Polizeiverwaltung zu demonstrieren; dann aber auch, um an diesem Kabinettsstück zu demonstrieren, wie die preußische Regierung es fertigbringt, bis in unsere heutige Zeit ein Gesetz, das noch besteht und von ihr als bestehend angesehen wird, obwohl es doch in der Tat gegenüber den Haupterscheinungen unseres modernen Lebens, gegenüber den herrschenden Parteien und den herrschenden Klassen von ihr selbst als durchaus obsolet betrachtet wird, ausschließlich und gesetzwidrig einseitig gegen das Proletariat und alle politisch und sozial missliebigen Strömungen anzuwenden. Das ist es, meine Herren, was uns auch in diesem Falle wohl dazu zwingt, diese Angelegenheit mit Leidenschaft, mit Empörung zu behandeln. Wir erblicken hier in dem Verhalten der preußischen Staatsregierung eine grobe Pflichtwidrigkeit; wir erblicken in dem Bestehen dieses Gesetzes ein Stigma der politischen Rückständigkeit.

Wir werden uns durchaus nicht wundern, wenn die Mehrheit dieses Hauses diese beiden Stigmata auf der preußischen Regierung, auf dem preußischen Staat und damit auf sich selbst sitzen lassen wird. Wenn Sie aber auch nur im geringsten Maße der historischen Mission gerecht werden wollen, der preußischen Entwicklung keine Schwierigkeiten zu bereiten, sondern in der Tat an der Spitze der preußischen Entwicklung zu marschieren, wenn Sie sich der Aufgabe und Pflicht bewusst sind, dafür zu sorgen, dass das preußische Volk von solchen polizeilichen Schikanen verschont bleibt, dann würden Sie unserem Antrage ohne weiteres nachzugeben haben, der dahin geht, diese Bestimmungen aufzuheben und damit reinen Tisch zu machen mit einem mittelalterlichen Plunder, der gar nicht mehr in die moderne Zeit hineinpasst. Es soll uns aber, wie gesagt, durchaus nicht wundern, wenn die Mehrheit dieses Hauses meine Ausführungen mit Kopfschütteln aufnimmt, wenn Sie alle meine Bemerkungen und auch die Gründe des Kammergerichts als Gegenstand – wie soll ich sagen – des Spottes und des Hohnes betrachten, es sollte mich gar nicht wundern, wenn die Mehrheit dieses Hauses sogar dem Antrage, diesen Antrag in eine Kommission zu verweisen, ohne weiteres ihre Zustimmung verweigerte. Die Mehrheit dieses Hauses würde damit nichts anderes tun, als ihrer Vergangenheit und der Vergangenheit der preußischen Regierung und der preußischen Reaktion getreu bleiben.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

Meine Herren, der Herr Abgeordnete Mertin hat gemeint, dass meine Interpretation der beiden Bestimmungen als solcher politischen Charakters unzutreffend sei. Ich erlaube mir, Ihnen aus dem Bericht der zweiten Kammer das Wesentliche vorzulesen, das beweist, dass ich recht habe, nicht der Herr Kollege Mertin. Es ist da folgendes gesagt:

Auf ,öffentliche Wege, Straßen und Plätze', die jeder Klasse von Publikum ohne alle Ausnahme zugängig sind, bezieht sich das Motiv des Gesetzes, dass durch Plakate und Ausrufer eine leicht zur Störung der Ordnung und des Friedens führende Aufregung herbeigeführt wird, während die vorliegende Fassung in den Worten: ,oder an anderen öffentlichen Orten' jeden Ort begreift, der überhaupt, wenn auch bedingungsweise, dem Publikum zugängig ist …"

Dann kommt der Satz, den ich vorhin mir vorzutragen erlaubt habe, von den Eisenbahnhöfen in den Märztagen, von dem Missbrauch, Schriften feilzubieten usw. Es ist dann auch darauf hinzuweisen, dass das Mitglied der ersten Kammer Degenkolb in der ersten Kammer darauf aufmerksam machte, dass der Paragraph 10 so auszulegen wäre, wie ich es vorhin als naheliegend bezeichnet habe. Daraufhin ist ihm ein Regierungskommissar entgegengetreten und hat mit allem Nachdruck betont, dass gerade mit Rücksicht auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit man keineswegs in der Lage sei, dem Publikum einen weiteren Spielraum zu geben; hierbei exemplifizierte er auf die Vorgänge im März 1848. Es ist also zutreffend, dass wir es mit einem konterrevolutionären Gesetze zu tun haben.

Wenn im Übrigen der Abgeordnete Dr. König gemeint hat, meine Empörung und meine Leidenschaftlichkeit gegenüber diesem Spinngewebe und dem Altweibersommer seien deplatziert, so habe ich bereits dem Abgeordneten Dr. König zugerufen, dass er damit meine Ausführungen von Grund aus missverstanden hat. Ich habe gerade gesagt, das Gesetz müsse mit einer Dosis von Humor behandelt werden; es könne kaum mehr ernst genommen werden. Aber die ungleichartige Behandlung der verschiedenen Klassen der Bevölkerung, der verschiedenen politischen Strömungen durch die Staatsregierung und die Gerichte, diese ganz offenbar klassenmäßige Ausübung der Staatsgewalt, das ist es, wogegen wir mit voller Berechtigung Empörung und Leidenschaftlichkeit an den Tag legen. Das ist zweifellos auch das, was draußen beim Publikum und bei unseren Parteigenossen, bei der Arbeiterschaft böses Blut macht; sonst würde man über das Gesetz lachen, wie man das auch in der Tat eher tun sollte, als sich darüber zu empören. Aber diese Ungleichmäßigkeit der Behandlung, die deutlich den Klassencharakter des Staates hervortreten lässt, ist ein Skandal; das muss nachdrücklich betont werden.4

1 Preußischer Ministerpräsident von 1850 bis 1858, an der Oktroyierung der Verfassung vom Dezember 1848 maßgeblich beteiligt. Die Red.

2 Verordnungen der Oberpräsidenten der preußischen Provinzen „zum Schutz der äußeren Heilighaltung" der Sonn- und Feiertage, die alle „öffentlich bemerkbaren Arbeiten" untersagten. Sie beruhten auf einer Kabinettsorder vom Jahre 1837 und wurden in Verbindung mit den Paragraphen 9 und 10 des preußischen Pressgesetzes rigoros gegen die Sozialdemokratie angewandt.

3 Verfügung des preußischen Innenministers von Hammerstein-Loxten im Jahre 1902, dass sich Frauen in politischen Versammlungen nur in einem besonderen Teil des Saales, dem „Frauensegment", aufhalten durften.

4 Der Antrag wurde abgelehnt. Die Red.

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