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Karl Liebknecht 19100520 Der Blutsonntag in Halle

Karl Liebknecht: Der Blutsonntag in Halle

Aus Zeitungsberichten über Prozesse gegen Wahlrechtsdemonstranten in Halle

[Volksblatt (Halle) Nr. 117, 186 und 198 vom 22. Mai, 11. und 25. August 1910. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 283-292]

I

20. Mai 1910

Die Vorkommnisse des 13. Februar1, dem Tage, an dem das hallesche Proletariat seine Bluttaufe im Wahlrechtskampfe empfing, kamen am Freitag vor der Schubert-Kammer zur Verhandlung …

Angeklagt sind wegen Auflaufs und tätlichen Widerstandes der Kesselschmied Hermann Richter, Kutscher Hermann Rappika und Arbeiter Gustav Aehle. Alle drei befanden sich am 13. Februar auf dem Markte in der Gegend des Roten Turmes und wurden dort zum Teil sehr erheblich durch Polizeisäbel zerschlagen. Zur Verhandlung sind sieben Polizeizeugen und über dreißig Zivilzeugen, darunter auch der schon bekannte Cafetier Oberländer, geladen. Verteidiger sind Dr. Liebknecht–Berlin und Dr. Müller–Halle.

Richter gibt an, dass er mit der Elektrischen nach dem Markt gekommen sei, der menschenleer war. Er wollte nach der Klausstraße, kam aber nicht weit, als er auch schon einen Hieb über den linken Arm erhielt. Der Schläger war Kommissar Miethke. Er selbst habe weder einen Stock noch sonst eine Waffe getragen …

Aehle kam von Diemitz und wollte nach der Beesener Straße. Auch er sah auf dem Markt keine Ansammlung. Als er sich am Pissoir am Roten Turm befand, kam Miethke und ließ die Anstalt räumen. Gleich darauf wurde blankgezogen, und er erhielt einen Hieb ins Gesicht, der ihm Nase, Lippen und Unterkiefer spaltete. Das Blut lief stromweise herab.

Rappika hat zwei Wochen in der Klinik gelegen. Aehle sogar drei Wochen, letzterer ist jetzt noch in Behandlung. Rappika hat gegen Miethke Anzeige wegen schwerer Körperverletzung erstattet…

Bei Vernehmung der weiteren Zeugen, die über Vorgänge aus den Straßen unmittelbar am Markt aussagen sollen, entspinnt sich ein Konflikt zwischen der Verteidigung und dem Gerichtsvorsitzenden. Schubert will die Fragen an Leute, die in den vom Markt zurück flutenden, von der Polizei getriebenen Menschenstrom gerieten und dabei ebenfalls Polizeibrutalitäten gewahrten beziehungsweise am eigenen Leibe erdulden mussten, absolut nicht zulassen.

Rechtsanwalt Liebknecht setzt in längeren Ausführungen auseinander, dass hier unmittelbare Zusammenhänge mit den Vorgängen am Markt bestehen. Der Gerichtsbeschluss besagt, dass die Frage abgelehnt werden soll. Bei einem zweiten Zeugen wird ebenso beschlossen …

Bei der Vernehmung des Formers Robert Bürger entspinnt sich ebenfalls eine Kontroverse zwischen der Verteidigung und dem Vorsitzenden.

Liebknecht: Es soll festgestellt werden, dass die Polizei just an der Anklageerhebung gegen diese drei Angeklagten und ihre Verurteilung größtes Interesse hat. Sie hat sonst zu erwarten, dass auch von ihnen Schadenersatzansprüche gestellt werden, wie es der Zeuge Bürger bereits getan hat. Die Art, wie man polizeilicherseits Bürger von der Verfechtung seiner Ansprüche abzuhalten suchte durch Drohung mit Anklage, die auch wirklich erfolgt ist, muss auch die Motive der Anklageerhebung gegen die heutigen drei Angeklagten beleuchten. Auf Grund dieses kausalen Zusammenhanges muss der Zeuge Bürger vernommen werden.

Durch Gerichtsbeschluss wird die Fragestellung abgelehnt! …

Zur Zeugenvereidigung beantragt der Staatsanwalt, sämtliche bisher unvereidigten Zeugen, die gegen die Polizei ausgesagt haben, wegen des Verdachts der Mittäterschaft nicht zu vereidigen.

Verteidiger Liebknecht widerspricht energisch. Die Zeugen müssen sämtlich vereidigt werden. Vom Verdacht der Mittäterschaft kann doch deswegen nicht die Rede sein, weil die Zeugen auf dem Markt gewesen sind.

Vereidigt werden nach längerer Beratung die Zeugen Bürger, Wiesner, Seydlitz, Schulze, Alfred Hermann–Biener, Birk, Bieler (von diesen hat keiner aussagen dürfen!), Haberland, Reinecke, Jungmann und Bernhard Becker.

Es folgen die Plädoyers …

Liebknecht: Man braucht kein großer Prophet zu sein, um zu weissagen, dass die Verteidigung allerdings anderer Meinung ist als der Staatsanwalt. Im Allgemeinen mag es richtig sein, dass die Menge an jenem Sonntag nach dem Markte drängte und dass die Polizei Mühe hatte, sie zurückzudrängen. Dabei ist aber zuerst keinerlei Gewalt gebraucht worden. Die Menge kam dann zurück, und dies fasste man als Widersetzlichkeit auf. Dem Urteil des Dr. Lehmann kann man keineswegs beipflichten, wenn er da von unverschämtem Volke spricht. Es war Sonntag, und da pflegt sich der Verkehr nach dem Markt, dem Zentralpunkt, zu ziehen. Wenn Dr. Lehmann einzelne Gruppen wiederkehren sah, so kann man da noch keinen Schluss auf die Masse ziehen. Die Menschenmassen blieben nicht dieselben. Die Polizei sperrte ab, und dies Beginnen zieht viele Neugierige herbei, wie ja bereits in früheren Urteilen dieser Kammer auch ausgesprochen ist.

Die Polizei hat keineswegs eine Lammsgeduld bewiesen, sie ist im Gegenteil sehr nervös geworden. Das ist zwar begreiflich, aber nervöse Leute passen dann eben nicht in das Amt. Der Kommissar Miethke hat gehandelt, wie man etwa beim Militär einen Befehl strikte durchführt. Einer nicht disziplinierten Masse gegenüber aber war sein Handeln äußerst ungeschickt.

Als dann der „polizeiliche Geduldsfaden" riss, ist man in einer Weise vorgegangen, die jeder Beschreibung spottet. Eine ganze Anzahl Zeugen hat bekundet, dass Miethke rücksichtslos und rigoros vorging. Es ist gesagt worden, dass ein alter Mann niedergeschlagen wurde, dass Flüchtende mit dem Säbel traktiert wurden usw. Wenn der Staatsanwalt die Unglaubwürdigkeit der Entlastungszeugen damit dartun wollte, dass sie alle von Johlen und Schreien nichts gehört hätten, so ist das ein sehr hinfälliger Grund. Charakteristisch ist die Aussage des Zeugen Lewin, der jedenfalls nicht als Gesinnungsgenosse der Demonstranten angesprochen werden darf. Der Fall Wegeleben ist ein Kabinettsstück dafür, wie wahllos und besinnungslos man eingehauen hat. Das Treiben der Polizei verdient die schärfste Verurteilung, den Aussagen der Beamten kann kein Wert beigemessen werden.

Wenn der Staatsanwalt meinte, er habe es den Zeugen angesehen, dass sie nur der Polizei eins auswischen wollten, so bewundere ich seinen Scharfblick und beneide ihn darum. Und wenn er meint, die Polizei sei nicht Partei, so zeigt der Zwischenfall bei der Vernehmung der Zeugin Frau Günther, dass die Beamten bestrebt sind, alles für sich zum Besten zu kehren. Ist das etwa nicht Interessenvertretung, wenn ein Beamter schon vor der Aussage einer Zeugin diese als unglaubwürdig hinzustellen versucht?

Die Aussagen des Kommissars Miethke sind sehr schwankend und unklar. Seine Behauptungen widersprachen sogar denen einiger anderer Beamten. Die jetzigen Angaben des Miethke differieren mit seinen früheren. In seiner Anzeige schrieb er, alle drei Angeklagten hätten ihn angegriffen, er sprach von Stöcken. Alles dies hat er heute nicht aufrechterhalten. Seine Aussage ist durchaus nicht der Gipfel der Zuverlässigkeit. Auch die übrigen Beamten sind durchweg nicht sehr glaubwürdig. Jänecke sagte, der Kommissar sei am Halse gewürgt, davon weiß aber dieser nicht einmal etwas.

Die Angeklagten befinden sich in einer schwierigen Stellung. Ihre Zeugen werden nicht vereidigt, es ist ihnen nach dem Standpunkt des Gerichts logisch unmöglich gemacht, vereidigte Zeugen zu erhalten. Sieht man diese Behandlung der Ent- und der Belastungszeugen, dann könnte man das Urteil fast vorhersagen.

Wenn man fragte, warum denn keine Ersatzansprüche von den Angeklagten gestellt sind, so mag man bedenken, dass dabei nur eine Verdachtsvermehrung herauskommt. Nicht jeder hat Lust, Wunden und Schaden davonzutragen und noch angeklagt zu werden. Bei der Macht, die die Polizei in Preußen hat, überlegt sich das mancher zweimal.

Die Zeugenaussagen im Fall Richter erschüttern die Aussagen Miethkes. Das gleiche trifft auf den Fall Aehle zu. Man sollte nicht den Mantel christlicher Liebe über Miethke decken, sein Verhalten verdient die schärfste Verurteilung. Die Angeklagten haben sich nicht des Auflaufs schuldig gemacht, Richter und Aehle auch nicht des Widerstandes. Sie sind deshalb freizusprechen …

II

10. August 1910

Die blutigen Szenen, welche rasend gewordene Polizisten am 13. Februar, dem unvergesslichen Blutsonntag, an der alten Promenade verübten, waren gestern Gegenstand einer erneuten Verhandlung vor der hiesigen Strafkammer. Es handelte sich um vier Urteile, die das Reichsgericht zur nochmaligen Nachprüfung an die Vorinstanz zurückverwiesen hatte. Der vorige Prozess spielte bekanntlich unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Schubert, der diesmalige unter dem Vorsitz des Landgerichtsrats Behm. Als Verteidiger fungierten die Rechtsanwälte Dr:-Liebknecht-Berlin und Dr. Müller-Halle. Polizeiinspektor von Dossow war mit seiner Schar uniformierter Zeugen ebenfalls wieder angerückt.

Die Verhandlung beleuchtete wieder in neuer interessanter Weise das Verhalten der Polizei an jenem Tage …

Rechtsanwalt Dr. Liebknecht erklärte in seinem Plädoyer, dass der Staatsanwalt sehr bescheiden gewesen sei in dem Suchen nach ausreichenden Gründen zur Rechtfertigung des scharfen Vorgehens der Polizei. Das Einschlagen mit scharfer Klinge auf fliehende Menschen war ein grober Exzess der Polizei, den man nur dann entschuldigen könne, wenn man der Meinung ist, dass ruhig Bürgerblut fließen kann, wenn nur die Polizei erreicht, dass sie Furcht einflößt, und, wie in diesem Falle, eine beabsichtigte Einschüchterung erzielt. Das ist aber nicht Aufgabe der Polizei. Wenn diese das zu ihren Aufgaben zählt, so verkennt sie eben völlig ihre Aufgabe.

Zu der bedauerlichen Auffassung, die der Staatsanwalt über dieses ganz unqualifizierbare Vorgehen der Polizei hat, könne er (der Verteidiger) sich niemals aufschwingen. Es würde der Polizei leicht möglich gewesen sein, die Menge zum Auseinandergehen zu bringen, auch ohne Anwendung der Waffen. Ganz selbstverständlich sei es auch, dass die weiter hinten stehenden Personen der Menge die Aufforderung zum Auseinandergehen hätten gar nicht hören können. Also ergebe sich, dass die Handlungen der Angeklagten erst erfolgt seien, nachdem sie durch das Vorgehen der Polizei zu ihren Straftaten gekommen seien. Verschiedene Zeugen hätten übereinstimmend erklärt, keinen Ausweg gesehen zu haben, wohin sie sich rasch genug hätten entfernen können. Es baue sich also die Anklage auf keine wirklich festen Tatbestandsmerkmale auf; sie hänge geradezu in der Luft.

Man müsse sich doch in die Situation hineinversetzen, in der sich die Menge in dem Augenblicke des gewaltsamen Vorgehens der Polizei befand. Heute könne man ja ganz kühl verschiedene Wege andeuten, wohin die Menge sich hätte rasch entfernen können, aber in jenem Augenblick konnte man von dieser, die in Verwirrung geraten war, solche kühlen Erwägungen nicht verlangen. Die Angeklagten befanden sich aber in dieser Menge, und ihnen, die man aus dieser Menge herausgegriffen habe, den Vorwurf des „Auflaufs" zu machen, sei doch in keiner Hinsicht juristisch einwandfrei begründet. Jedenfalls sei es ein sehr gewagtes juristisches Vorgehen, etwa diese einzelnen Personen fassen zu wollen, weil man den eigentlichen Veranstalter nicht fassen könne. Auch die Äußerungen „Bluthunde" seien nicht zweifelsfrei erwiesen, denn sie seien von vielen Seiten gefallen, und die Beamten (die Zeugen) seien aufgeregt gewesen. Jedenfalls müsse man mindestens zugeben, dass die Polizei nicht gerade den Kopf auf dem rechten Flecke gehabt hat, sondern überaus scharf vorgegangen sei. Seien nun in der Erregung über dieses sinnlose Verhalten der Polizei die Ausdrücke „Bluthunde" gefallen, so wäre das durchaus erklärlich und damit höchstens eine Geldstrafe am Platze …

III

24. August 1910

Am gestrigen Tage hatte sich eine hallesche Strafkammer nochmals mit einer Strafsache aus den Wahlrechtsdemonstrationen zu befassen, deren „Erledigung" von der Schubert-Kammer mit anderen vom Reichsgericht verworfen worden ist.

Verhandelt wurde gegen den Arbeiter Albert Stumpf, der wegen „Auflaufs" vier Wochen Gefängnis erhalten hatte. Natürlich auch nur auf dem bekannten und bequemen Wege, dass alle Belastungszeugen (Polizisten) als glaubwürdig und eidesfähig, dagegen fast alle Entlastungszeugen (Privatleute) als unglaubwürdig und verdächtig der „Mittäterschaft" bezeichnet wurden – das System, welches wir in den Berichten über die Prozesse jedes Mal hervorgehoben und aufs Schärfste kritisiert haben.

Die Verhandlung gestaltete sich durch das nur zu berechtigte Vorgehen des Verteidigers Genossen Dr. Liebknecht gegen dieses bedenkliche System außerordentlich interessant. Dr. Liebknecht lehnte vor Eintritt in die eigentliche Strafverhandlung den Gerichtsvorsitzenden, Landgerichtsrat Behm, wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Diese Ablehnung begründete der Verteidiger folgendermaßen: Gerade bei dem hiesigen Gericht seien in Strafprozessen wie dem jetzt anstehenden ungewöhnlich hohe Strafen verhängt worden. Ohne ausreichende juristische und sachliche Basis für eine Verurteilung ist man doch zur Strafverhängung gekommen, zur größten Verwunderung der Verteidiger. Dazu käme ferner, dass in jeder Verhandlung systematisch zahlreiche Entlastungszeugen, die von der Verteidigung geladen waren, nicht vereidigt worden seien, obwohl keinerlei ausreichende Verdachtsgründe vorgelegen hätten, dass diese Zeugen sich der Teilnahme an der Straftat mitschuldig gemacht haben könnten. Dadurch sei die Verteidigung derartig beschränkt worden, dass sie fast unmöglich gemacht worden wäre.

Der gegenwärtige Gerichtsvorsitzende habe nun in dem letzten dieser Prozesse, im Falle Seibt und Genossen, den Vorsitz geführt, und zur stärksten Überraschung der Verteidiger sei auch in diesem Falle abermals Verurteilung erfolgt. Auch hier sei die Nichtvereidigung der Entlastungszeugen vom Gericht beliebt worden. Das sei ganz besonders auffällig gewesen deswegen, weil kein einziger der Belastungszeugen, also auch kein Polizeibeamter, in der Lage war zu bekunden, wo denn im Augenblick des Beginnens der polizeilichen Absperrungen auch nur einer der Angeklagten gewesen sei. Es lag nicht der allergeringste Anhalt vor, dass einer der Entlastungszeugen die Unwahrheit ausgesagt haben könnte. Deshalb bestehe nach Ansicht des Verteidigers auch für den vorliegenden Fall die Gefahr einer Verurteilung, obwohl dieser noch günstiger für den Angeklagten liege als der Fall Seibt und Genossen. In dieser Besorgnis der Verurteilung halte es der Verteidiger für seine Pflicht, den Vorsitzenden abzulehnen.

Das Gericht bildete darauf ein Dreirichterkollegium und gab bekannt, dass der vorige Vorsitzende, Landgerichtsrat Behm, sich nicht für befangen erklärt habe. Ebenso seien die vom Verteidiger vorgebrachten Gründe zur Ablehnung des Vorsitzenden nicht ausreichend!

Nachdem setzte das Gericht sich wieder aus fünf Richtern zusammen, und Landgerichtsrat Behm führte den Vorsitz weiter. Er eröffnete dem Verteidiger, dass das Gericht beabsichtige, ihn wegen einer Äußerung in der Begründung seines Antrages auf Ablehnung des Vorsitzenden in eine Ordnungsstrafe zu nehmen, und zwar wegen jener Bemerkung, in der er dem bezeichneten Gerichtshof den Vorwurf systematischer Erschwerung der Verteidigung und der Rechtsbeugung gemacht habe.

Dr. Liebknecht bestritt eine Äußerung dieses Wortlautes, hielt aber aufrecht, gesagt zu haben, dass durch die systematische Nichtvereidigung der Entlastungszeugen die Verteidigung der Angeklagten nahezu unmöglich gemacht worden sei.

Darauf zog sich das Gericht nochmals zu längerer Beratung zurück und kam zur Bestrafung Dr. Liebknechts zu 100 Mark Geldstrafe wegen „Ungebühr". Er habe durch seine zweite Erklärung selbst zugegeben, dass die Tendenz seiner Äußerung dahin gegangen sei, dem Gericht den Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung zu machen. Das sei ein solch schwerer Vorwurf, dass es angebracht erschienen sei, auf die höchste zulässige Strafe zu erkennen!

Hierdurch verschärfte sich natürlich nur der Konflikt zwischen dem Gericht und der Verteidigung.

Genosse Dr. Liebknecht ließ zunächst zu Protokoll nehmen, dass er nicht zugebe, etwas erklärt zu haben, was das Gericht als subjektiven Vorwurf der Rechtsbeugung auffassen könne. Ein solcher Vorwurf sei aber nötig, um die geschehene Verurteilung zu begründen.

Der Vorsitzende erklärte darauf, diese Behauptung nicht aufrechterhalten zu können, nahm aber keinen Anlass, die Bestrafung Dr. Liebknechts nochmaliger Beschlussfassung zu unterstellen.

Als dann das Gericht in die Verhandlung gegen den Angeklagten Stumpf eintreten wollte, lehnte nunmehr Dr. Liebknecht den ganzen Gerichtshof ab, wozu er folgende Begründung gab:

Der Gerichtshof habe ihn soeben in eine Ordnungsstrafe genommen, aus einem Grunde, der ihm (dem Verteidiger) nahelege anzunehmen, dass dieser Gerichtshof jetzt nicht objektiv urteilen werde. Das Gericht habe ihm unterstellt, dass er mit seiner Bemerkung den Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung hätte machen wollen. Etwas Derartiges zu unterstellen sei aber stets möglich. Es könne darum jeder Verteidiger oder jeder Angeklagte in eine Ordnungsstrafe genommen werden, der sich einmal unterstehe, einen Gerichtsvorsitzenden abzulehnen. Eine solche Ablehnung müsse selbstverständlich begründet werden, und bei dieser Begründung würden stets Momente geltend gemacht werden müssen, in denen man etwas finden werde, worin das Gericht den Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung als beabsichtigt unterstellen könne. Wenn schon in seiner (des Verteidigers) ganz objektiven Charakterisierung der bekannten Vorgänge in diesen Prozessen eine subjektive Beleidigungsabsicht erblickt werde und deshalb der Gerichtshof eine Ordnungsstrafe gegen den Verteidiger für nötig gehalten habe, so könne er nicht erwarten, dass dieser Gerichtshof die nötige Objektivität in der anstehenden Verhandlung zeigen werde. Deshalb lehne er den ganzen Gerichtshof wegen Befangenheit ab.

Das Gericht zog sich nun nochmals zu einer kurzen Beratung zurück und musste natürlich zur Vertagung kommen.

1 Am 13. Februar 1910, wenige Tage nach der Wahlrechtsprovokation, fanden in Berlin und ganz Deutschland machtvolle Versammlungen und Demonstrationen statt. In Frankfurt (Main), Königsberg, Neumünster und Halle kam es dabei zu blutigen Ausschreitungen der Polizei gegen Teilnehmer an den Wahlrechtskundgebungen.

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