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Karl Liebknecht 19100412 „Ein Harakiri haben Sie an sich vollzogen!“

Karl Liebknecht: „Ein Harakiri haben Sie an sich vollzogen!“

Reden zur Geschäftsordnung in der Debatte zur Reform des Dreiklassenwahlrechts

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 3. Bd., Berlin 1910, Sp. 3762, 3768 f., 3773 f., 3776 f.]

I

Präsident v. Kröcher: (…) Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, ich konstatiere vor dem ganzen Lande – –

(große Heiterkeit lebhafte Zurufe Glocke des Präsidenten)

Präsident v. Kröcher (den Redner unterbrechend): Ich bitte um Ruhe, meine Herren.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.) (fortfahrend): Vor dem ganzen Lande, dass dieses sogenannte Hohe Haus nicht einmal zwei Stunden –

(Glocke des Präsidenten)

Präsident v. Kröcher (den Redner unterbrechend): Herr Abgeordneter Liebknecht, in dem „sogenannt" ließt eine Beleidigung des Hauses. Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

(„Bravo!“ rechts)

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.) (fortfahrend): – dass dieses Hohe Haus nicht einmal zwei Stunden Zeit hat für die vierte Lesung dieser wichtigen Vorlage.1 Meine Herren, es ist ja nicht erlaubt, von einer Komödie zu reden; ich nenne das einfach ein Verbrechen, ein schnödes Verbrechen.

(Große Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Präsident v. Kröcher (den Redner unterbrechend): Herr Abgeordneter Liebknecht, ich bedaure, aber ich kann mir nicht helfen: Herr abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

(„Bravo!“)

II

Präsident v. Kröcher: Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, um dem Lande vollkommen klar zu machen, wie in dem vorliegenden Falle verfahren ist, bedarf es noch der ausdrücklichen Feststellung, dass wir sämtlich uns zum Worte gemeldet hatten, ehe irgend ein anderer zum Wort gemeldet war,

(Zuruf)

meine Herren, ehe irgend ein anderer vorher zum Worte gemeldet war.

(Glocke des Präsidenten)

Präsident v. Kröcher (den Redner unterbrechend): Ich möchte zu diesem Punkte inzwischen eine geschäftsordnungsmäßige Bemerkung machen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass nach der Geschäftsordnung sich jemand erst zum Worte melden kann, nachdem die Debatte eröffnet ist.

(Zuruf)

Das steht in der Geschäftsordnung, ist allerdings nie so gehandhabt worden,

(„aha!“ links)

Weil es physisch unmöglich ist;

(„sehr richtig!“ rechts)

aber es steht in der Geschäftsordnung. Wenn Sie ganz genau nach der Geschäftsordnung verfahren wollen, dann müssen Sie auch verlangen, dass erst, nachdem der Präsident die Debatte eröffnet hat, Wortmeldungen entgegengenommen werden dürfen. Ich werde dann danach verfahren.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.) (fortfahrend): Ich konstatiere, dass der Herr Präsident ausdrücklich erklärt hat, es sei niemals so verfahren worden, wie es rein formaliter nach der Geschäftsordnung gehandhabt werden müsste, weil es physisch unmöglich sei. Ich iah also ein Vollkommenes Recht, zu behaupten, dass entsprechend der gesamten Praxis dieses Hauses wir diejenigen waren, die zuerst zum Worte gemeldet waren. Meine Herren, es haben sich dann nachträglich einige Herren Von der konservativen Partei zum Worte gemeldet. Vermöge der Einrichtung, dass Sie (zu der Rechten) auch das Präsidium beherrschen und die Rednerliste entsprechend der Stärke der Parteien eingerichtet zu werden pflegt, war damit die formale Möglichkeit gegeben, den nachträglich zum Worte Gemeldeten uns voranzustellen, obwohl wir vorher zum Worte gemeldet waren. Meine Herren, ein solches Verfahren ist an und für sich korrekt. Wir haben uns niemals dagegen gesträubt, dass, wenn wir zuerst zum Worte gemeldet waren, nachher ein Vertreter einer größeren Partei uns vorgesetzt wurde. Wenn aber eine derartige nachträgliche Wortmeldung erfolgt in der von vornherein gehegten Absicht, nicht das Wort zu ergreifen, sondern nur die formale Möglichkeit zu schaffen, dem später Stehenden, wenn auch vorher Gemeldeten das Wort abzuschneiden, da darf ich wohl sagen, dass dies ein Verfahren ist, das in jeder Beziehung jeder Sozialität auf das gröbste ins Gesicht schlägt.

(„Sehr richtig!“ links)

Meine Herren, es ist ja doch wohl nicht der allergeringste Zweiifel, dass die Herren, wenn sie von vornherein die Absicht hatten, nicht das Wort zu ergreifen, eine ernstliche Wortmeldung überhaupt nicht gewollt haben. Was sie gewollt haben, war weiter nichts, als dass ihr Name auf die Rednerliste gesetzt würde. Meine Herren, wenn wir die Sache vom Standpunkt irgendeines Rechts betrachten würden, des Zivilrechts, des Verwaltungsrechts, des Strafrechts, man würde hier von einer Scheinerklärung sprechen, von einer Meldung, die nicht ernstlich gewollt gewesen und infolgedessen unwirksam, nichtig ist. Eine solche Wortmeldung mit einer solchen vorgefassten Absicht hat in keiner Richtung irgendeine Bedeutung und sollte sie auch nicht für die Geschäftsordnung dieses Hauses haben. Meine Herren, ein solches Verfahren würde, im Zivilrecht angewandt, übrigens auch durch den § 128 des bürgerlichen Gesetzbuchs betroffen werben, wonach unsittliche Handlungen unwirksam sind,

(„sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten – Lachen und Zurufe rechts)

unsittliche Handlungen unwirksam sind!

(Zurufe rechts)

Wie Ihr Verfahren politisch zu beurteilen ist, ist noch eine andere Frage. Aber ich konstatiere nun wiederum vor dem ganzen Lande,

(Lachen rechts)

dass diese Vorlage nun behaftet mit dem Kainszeichen auch dieser Vergewaltigung zum Herrenhause geht.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten – Rufe rechts – Glocke des Präsidenten)

III

Präsident v. Kröcher: (…) Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Es ist bereits, von meinem Freund Ströbel mitgeteilt worden, dass, als er sich zu Wort meldete, noch niemand vorher zum Wort gemeldet war. Als ich mich zum Wort meldete, wurde mir ausdrücklich mitgeteilt, dass zu § 8 bisher noch niemand zum Wort gemeldet sei. Ich habe dann später, kurz bevor die Spezialdebatte begann, noch einmal bei dem Herrn Schriftführer angefragt und mich nach der gesamten Rednerliste erkundigt, und da hat der Herr Schriftführer mir ausdrücklich mitgeteilt: zu § 4, 6 und 8 ist außer Ihren Parteigenossen niemand gemeldet.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Der Abgeordnete Frhr v. Richthofen hat also ganz offenbar hier objektiv etwas Unwahres gesagt; das stelle ich fest.

Ich habe mir des weiteren vorhin erlaubt, darzulegen, dass die Wortmeldungen, da sie nicht ernstlich gemeint waren, überhaupt als Wortmeldungen im Sinne der Geschäftsordnung nicht zu gelten hatten. Damit rechtfertigt sich auch der formale Geschäftsordnungsstandpunkt, den mein Freund Ströbel eingenommen hat, wonach das ganze Verfahren des Hohen Hauses geschäftsordnungswidrig gewesen ist. Sie haben jetzt wiederholt versucht, Ihr Verfahren mit allerhand Ausflüchten vor dem Lande zu rechtfertigen. Was der Herr Abgeordnete Frhr. v. Richthofen zur Rechtfertigung eines Verfahrens

(Zurufe rechts)

hier zum besten gegeben hat, wird im Lande draußen sicherlich auf Hohngelächter stoßen.

Wenn Sie (nach rechts), so oft man hier im Hause vom Lande spricht, gewohnt sind, in ein spöttisches Lachen auszubrechen, so darf das als ein besonderes Zeichen dafür festgenagelt werden, in welchem Maße Sie sich Ihrer Aufgabe als Vertreter des Landes, des gesamten Volles bewusst sind. Wenn Sie uns hier im Hause das Wort abschneiden – wir gehen hinaus ins Volk, in das Land hinaus;

(stürmisches Lachen rechts)

dort können wir reden und werden wir reden, Was Ihnen noch vieI unbequemer sein wird als unsere Reden hier im Hause.

IV

Präsident v. Kröcher: Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, Herr Abgeordneter Itschert hat uns den Vorwurf gemacht, dass mir unsere Wortmeldungen nicht schriftlich überreicht hätten. Ich bemerke, dass der Herr Schriftführer, als ich bereit war, meine Wortmeldung selbst niederzuschreiben, mir ausdrücklich erklärte: ich mache das für Sie. Damit ist also der Vorwurf beseitigt, als ob mir irgendwie ordnungswidrig verfahren wären.

Herr Abgeordneter Itschert hat uns nun mitgeteilt, dass er die Wortmeldungen gelöscht gehabt habe, weil er gemeint habe, es sei ein „Auftrag" gegeben worden, um dieses schöne Wort zu wiederholen, diese Wortmeldungen zu löschen; tatsächlich habe sich dann gezeigt, dass dieser Auftrag nicht gegeben gewesen sei. Meine Herren, das ist ein sehr dunkler Punkt.

(Heiterkeit)

Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass die Herren Schriftführer, die gewöhnt sind, von den Herren Konservativen „Aufträge" entgegenzunehmen, nun ohne jeden verständigen Anlass solche Wortmeldungen gestrichen haben könnten. Es dürfte wohl anzunehmen sein, dass wirklich ein Auftrag zur Streichung vorgelegen hat; sonst würde, davon bin ich fest überzeugt, keiner der Herren Schriftführer diese Streichung vorgenommen haben gegenüber einer so mächtigen, in diesem Haus so angesehenen, so kommandierenden Partei, wie es die Herren Konservativen sind.

Die Wahrheit dürfte wohl die sein, dass die Herren schon von vornherein die Absicht gehabt haben, das Manöver auszuführen, welches nachher ausgeführt worden ist.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Vielleicht ist auch der Auftrag erteilt worden, die Wortmeldungen zu löschen. Dann ist, als die Sozialdemokraten sich meldeten, von den Herren für gut befunden worden, zu erklären, dass die Löschung irrtümlich war; man hat gewissermaßen die gelöschten Wortmeldungen wieder aufleben lassen. Der Vorwurf also, den wir erhoben haben, muss, auch wenn vorher konservative Wortmeldungen vorgelegen haben, von uns in vollem Umfang aufrecht erhalten werden. Herr Frhr v. Richthofen hat gerade jetzt wiederum durch seine Ausführungen auf das Deutlichste verraten, dass meine Interpretation seines Verhaltens zutrifft. Er hat vorhin gesagt, seine Wortmeldungen seien ernst gemeint gewesen; er habe die Absicht gehabt, zu reden, wenn irgend etwas ausgeführt würde, was ihm zur Erwiderung Veranlassung geben würde. Nun, meine Herren, ist denn Herr Frhr. v. Richthofen, abgesehen von seiner Qualifikation zum Erzieher des deutschen Volkes, auch noch ein Prophet des deutschen Volkes, dass er im Voraus wissen kann, was etwa von der Sozialdemokratie oder von sonst jemand zu den Paragraphen gejagt werden wird? Denn davon sollte es doch abhängen, ob Herr Frhr V. Richthofen es für nötig hielt, in der Spezialdebatte zu reden!

Meine Herren, so hat sich Herr v. Richthofen vorhin zu entschuldigen versucht. Inzwischen hat er durch unsere Zwischenrufe gemerkt, dass es ein etwas gefährliches Beginnen ist, zu behaupten, er habe nur hören wollen, ob etwas gesagt wird; denn dann hätte er uns ja erst reden lassen müssen. Darum hat er sich jetzt auf die Behauptung zurückgezogen: er hatte Anträge der Sozialdemokratie erwartet; wenn solche Anträge eingegangen wären, dann würde er geredet haben. Meine Herren, hier darf ich doch wohl sagen: muten Sie unserer Glaubwürdigkeit nicht allzu viel zu;

(„sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

sonst könnten sich die Balken hier im Hause biegen!

(Lachen rechts)

Meine Herren, wie können Sie denn ernstlich daran gedacht haben, dass die Sozialdemokraten zu einem derartigen Schandgesetz Anträge stellen werden.

(Stürmische Zurufe rechts)

Meine Herren, ich darf sagen, das uns Sozialdemokraten nichts erwünschter sein kann, als dass Sie so in letzter Stunde noch dazu beitragen, dieses Gesetz in der gesamten anständigen öffentlichen Meinung zu diskreditieren; ein Harakiri haben Sie an sich vollzogen!

(Stürmisches Lachen rechts – Beifall bei den Sozialdemokraten)

1 „Gesetzentwurf zur Abänderung der Vorschriften über die Wahlen zum Hause der Abgeordneten“

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