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Karl Liebknecht 19100921 Für Einheit und Geschlossenheit der Partei

Karl Liebknecht: Für Einheit und Geschlossenheit der Partei

Diskussionsrede zur Budgetbewilligung1

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in. Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910, Berlin 1910, S. 334–337. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 483-489]

Ich bin seit jeher ein Gegner jeder taktischen Engherzigkeit und Engbrüstigkeit. Ich habe stets eine Taktik der unbegrenzten Möglichkeiten empfohlen; in gewissem Sinne auch nach rechts, wenn mich mein Herz natürlich auch mehr nach links zieht. Ich bin auch nicht ängstlich und schreckhaft gegenüber den abstrusen Formen, in die sich unsere Kämpfe gar häufig in der Praxis der Agitation kleiden; sie tragen ihre Korrektur meist in sich selbst. Es hat auch niemals jemand bestritten, auch hier nicht, dass Süddeutschland schließlich etwas anderes ist als Norddeutschland. Wir freuen uns geradezu, dass wir in Süddeutschland noch eine Art Eldorado für Deutschland besitzen. Und uns im preußischen Landtage sind die günstigeren politischen Verhältnisse Süddeutschlands ein nützliches Argument, das wir bei jeder Gelegenheit vorbringen. („Hört! Hört!")

Es scheint uns aber, als ob unsere süddeutschen Genossen gar zu leicht zu verführen seien, als ob sie zu sehr an der Oberfläche hafteten und nicht genügend in die Tiefe hinein, auf den festen Grund bauten. Es gibt ja Länder, die noch freier sind als Süddeutschland. Was sollten unsere Genossen in Frankreich und England machen, wenn die Begeisterung für den heutigen Staat sich progressiv mit der freieren Gestaltung des politischen Lebens vergrößern würde.

Sie müssten ja geradezu vor Glückseligkeit und Begeisterung aus dem Häuschen geraten. Freilich kann ich begreifen, dass der Kontrast zu Norddeutschland ein bisschen zur Überschätzung Süddeutschlands anreizt.

Es wird in der Bibel erzählt, dass ein Knabe auszog – er hieß nicht David (Heiterkeit.) –, um einen Esel zu suchen, und er fand ein Königreich. Nachdem uns hier vom Genossen Kolb die künftige Ministerherrlichkeit von Baden so hoch gepriesen worden ist, scheint mir, als ob manche ausgingen, ihm ein Großherzogtum zu erobern, die vielleicht statt dessen einen Esel finden werden. (Unruhe bei den Süddeutschen.)

Wer hat je etwas dagegen eingewandt. dass die politische Situation ausgenutzt wird? Das ist ja selbstverständlich, und das geschieht allenthalben. Und wenn hier gesprochen wurde von kleinen Konzessionen und Lappalien, so ist das nicht in dem Sinne einer Herabsetzung des Errungenen geschehen, wie heute prononciert wurde, sondern um das, was erreicht wurde, zu messen an der gewaltigen Größe unserer Ziele, um einer Überschätzung der täglichen Gegenwartsaufgaben entgegenzutreten durch Hinweis auf die gewaltige Aufgabe, die wir weltgeschichtlich zu erfüllen haben, um die Größe der Zukunft, der Ziele, des Willens der Sozialdemokratie hell zu beleuchten. Das kann doch nie und nimmer geeignet sein, in der Agitation Schwierigkeiten zu bereiten.

Parteigenossen! Die sogenannten Radikalen, das sind die eigentlichen Reformisten (Beifall.), die echten Reformisten, die realpolitischen Reformisten, diejenigen Reformisten, die nicht den Wald vor den Bäumen übersehen. (Erneuter Beifall.) Das Wesentliche des sogenannten Radikalismus ist immer und eben nur, dass er die Quelle unserer Macht nie vergisst. Diese Quelle, das sind die Massen (Stürmischer Beifall.), und sie entspringt nicht im Parlament, sie mündet nur zum Teil auch da. Diese Quelle soll uns nicht verschüttet werden durch Geheimnistuerei, durch Diplomatisiererei, dadurch, dass man im verborgenen Stäbchen parlamentarischer Staatsmännerei die Geschicke der Massen zu regulieren sucht, während die Massen nicht wissen, was da geschieht. (Zurufe der Badener: „Aber die badischen Massen!") Diese Quelle ist es, die durch eine Politik à la Kolb – er hat die letzten Konsequenzen ja beinahe gezogen – gefährdet wird.

Die Politik der Sozialdemokratie, als einer Massenpartei, bedarf klarer, gerader, jedermann verständlicher Richtlinien, die auch vor jedem Auge offen liegen müssen: Nur dann können die Massen in unserer Politik mit agitieren, nur dann vermögen wir, uns ihr unbegrenztes Vertrauen zu erringen und zu erhalten.

Die politische und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands, das ist – leider – gewiss nicht Baden; die Zukunft auch Süddeutschlands ist viel eher Norddeutschland. Trotz aller liberalisierenden Tendenzen von heute, die wir gern hinnehmen und ausnutzen: Die künftige Herrschaft des Großkapitals wird die Gemütlichkeit wohl gar bald fortblasen, und auch die politische Verpreußung schreitet trotz allem fort – wenigstens ist das viel wahrscheinlicher, als dass wir in dieser behaglichen Weise in den Zukunftsstaat hinein gondeln könnten, wie man in Süddeutschland glaubt. (Vielfaches „Sehr wahr!")

Man schlägt uns die Einsetzung einer Studienkommission vor. Aber die ganze Budgetsache hängt uns schon so zum Halse heraus (Heiterkeit.), dass wir wirklich keine Lust verspüren und keinen Grund einsehen, noch weiter an ihr herum zu tüfteln. Wer die Geschichte bisher noch nicht kapiert hat – mag er nun diesen oder jenen Standpunkt gewonnen haben –, der wird sie nie kapieren. (Lebhafte Zustimmung.)

Wenn das bayrische Finanzwesen so beschaffen ist, wie Genosse Müller es uns heute geschildert hat, dann mag man allenfalls prüfen, wie der Nürnberger Beschluss angesichts dieser Rechtslage zu interpretieren ist. (Rufe der Badener: „Aha!" „Na also!") Die rein theoretische Möglichkeit freilich, die Müller uns an die Wand gemalt hat, wird praktische Piealität nicht leicht annehmen. Und es wird, wenn es dazu käme, vor allen Dingen die Aufgabe unserer Partei sein, durch einen mächtigen Druck von außen der Regierung in die Arme zu fallen. Im Übrigen, wenn wirklich einmal ein solcher Ausnahmefall eintreten würde und anders nicht zu helfen wäre, dann könnte man ja fragen, ob nicht die Ausnahmebestimmungen des Nürnberger Beschlusses Anwendung finden, um die es sich ja heute hier unstreitig gar nicht handelt.

Aber Budgetfrage hin, Budgetfrage her. Was hat all den jetzigen Auseinandersetzungen den Stachel gegeben? (Frank: „Der Unverstand!") Was hat die Aufregungen in den Massen hervorgerufen, was hat die tiefe Empörung der großen Mehrheit der Parteigenossen erzeugt? Das ist der Disziplinbruch und nichts anderes. (Stürmischer Beifall.) Und es wird Ihnen nicht gelingen, das zu verwischen, davon abzulenken. Da gibt es kein Ausweichen. Das ist die entscheidende Frage. (Erneuter Beifall.) Der Disziplinbruch und die Hofgängerei und die Brüskierung der Gesamtpartei. (Vielfaches „Sehr wahr!")

Wir treiben gewiss nicht Disziplinreiterei. Ich persönlich am allerwenigsten. Sie wissen ja, dass ich sehr häufig nicht einverstanden bin mit dem taktischen Vorgehen der Gesamtpartei. Aber hier handelt es sich nicht um irgendeinen Beschluss, gegen den verstoßen ist, sondern um einen Beschluss, der wiederholt von verschiedenen Parteitagen gefasst („Sehr richtig!") und der wiederholt von verschiedenen Parteitagen als ein Beschluss deklariert worden ist, den die Mehrheit der Partei als unverbrüchlich betrachtet und für den sie unbedingte Respektierung fordert. (Lebhafte Zustimmung.) Es handelt sich nicht um irgendeinen Verstoß, sondern um einen Verstoß, der durch eine entschiedene, schwerwiegende Tat vollbracht ist. Es ist auch kein zufälliger, sondern ein lang vorbereiteter Verstoß, schließlich ein Verstoß, der unternommen ist in dem vollen Bewusstsein, dass er ein Verstoß gegen Parteitagsbeschlüsse sein sollte. Und all das in einer Periode, die unserer Partei so günstig ist wie keine zuvor. Uns da Knüppel zwischen die Beine zu werfen, das musste mit Recht die größte Entrüstung hervorrufen.

Es handelt sich auch um einen Disziplinbruch in Formen, die Aufregung erzeugen mussten. In Gegenwart der Gegner wird der Nürnberger Beschluss als bloße Formsache erklärt, als bloße Demonstration, was nur in dem Sinn aufgefasst werden kann und gedacht war, wie wir es aufgefasst haben, nicht aber in dem Sinn der großen Demonstrationen, wie Frank zu interpretieren versucht hat. Es ist ein Disziplinbruch, durch den man sagt: Es ist uns vollkommen gleichgültig, was die Gesamtpartei darüber meint. Wir handeln eben einfach gegen den uns wohl bewussten Willen der Parteimehrheit und scheren uns auch den Teufel um die Meinung und den Willen des künftigen Parteitags. Ein schlimmerer Verstoß gegen die primitivsten Anforderungen jeder Demokratie ist schlechterdings nicht auszudenken.

Und man hat für all das nicht eine Spur der Empfindung. Man hat gefragt, wie kann man einen Teil der Partei par ordre du moufti zwingen wollen? Eine sehr sonderbare Anschauung! Die Partei ist nicht Moufti! Ihre Disziplin ist eine freiwillig übernommene, aber freiwillige Disziplin heißt nicht lockere Disziplin, sie ist und muss gerade die schärfste sein, weil sich jeder freiwillig unterworfen hat. (Stürmischer Beifall.)

Frank hat versichert, dass sie einen unangenehmen Beigeschmack hatten, als sie dem Budget zustimmten. Die erste Erklärung, die sie bereits präpariert hatten, spricht das Gegenteil aus: dass sie bedauern, gegen das Budget zu stimmen. Was tut ihnen also leid: für oder gegen das Budget zu stimmen? Mir scheint, den größeren Schmerz bereitet ihnen die Befolgung des Parteitagsbeschlusses. (Erneuter lebhafter Beifall.)

Sie (zu den Badenern) haben keinen Konflikt mit der Partei gesucht, gut, aber Sie haben den Konflikt mit der Partei nicht vermieden. Aus der Debatte geht deutlich hervor, dass leider viele Genossen den Ernst des Augenblicks verkennen; dass sie sich nicht darüber klar sind, welch eine ungeheure Gefahr es ist, vor der wir stehen, wenn die ganze Sache einfach in der Weise abgeschlossen würde, wie viele wollen.

Bedenken Sie, ein derartiger Verstoß gegen die absolut unumgänglichen Elemente jeder Parteidisziplin, die heilig gehalten werden müssen, wenn die Partei sich nicht selbst ihr Grab graben will, hat in der Parteigeschichte überhaupt seinesgleichen nicht. Wer wird sich dann überhaupt noch an Parteitagsbeschlüsse binden? Pfeifen wird man auf die Parteitagsbeschlüsse allenthalben à la Baden. Darum können wir uns mit der Missbilligung nicht begnügen, auf die stets nur gepfiffen wird und auf die wiederum zu pfeifen Sie schon in der Presse und auf dem Offenburger Parteitag2 angekündigt haben. Das wäre das Ende der Partei. Wir sind es unseren Wählern schuldig, wir sind es den großen Traditionen der deutschen Sozialdemokratie schuldig, mehr zu tun.

Eine Beleidigung der Süddeutschen soll im Antrag Zubeil nicht liegen. Wenn die Süddeutschen nur die einzige Erklärung abgegeben hätten: Von jetzt ab werden wir uns an die Parteitagsbeschlüsse binden, wir werden das als eine wichtige Pflicht ansehen genau in derselben Weise wie die übrigen Parteigenossen, dann wäre die ganze Budgetdebatte ins Wasser gefallen, kein Mensch hätte mehr ein Bedürfnis danach gehabt, und die Partei würde in Eintracht und Ruhe weiterarbeiten können. Man hätte sich die heftigen Worte erspart. Nachdem diese Erklärung jedoch verweigert ist, drängt sich der Verdacht auf, dass diese Debatten von Ihnen (zu den Süddeutschen) nur geführt werden mit dem Hintergedanken: Wenn wir erst aus Magdeburg heraus sind, dann tun wir doch, was wir wollen. („Sehr wahr!") Damit kann man sich nicht begnügen, nach dem, was vorgegangen ist.

Es ist erstaunlich, dass man hier ein so geringes Gefühl für die Parteidisziplin hat. Ich bin ja sozusagen im Parteileben aufgewachsen, ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen, und aus frühester Kindheit klingt es mir in den Ohren aus dem Munde meines Vaters: Eins ist Not: Disziplin; die Disziplin ist der Stolz der deutschen Sozialdemokratie, ohne Disziplin kein erfolgreicher politischer Kampf. Das habe ich fast täglich gehört. Und nun muss man sehen, wie selbst das geringste Empfinden fehlt für das, was geschehen ist, dass auch nicht ein Wort des Bedauerns von dieser Seite gekommen ist. (Lebhafte Zustimmung.)

Wir wollen keine Guillotine aufrichten, wir wollen nur, dass der Parteitag, der dazu berechtigt ist, dieselbe Instanz, die auch das Organisationsstatut erlassen hat, in einer Art authentischer Deklaration, in einem Gutachten seine Ansicht ausspricht, wo in einer bestimmten Richtung die Grenze der Parteizugehörigkeit liegt, ausspricht, dass, wer nun, wie es hier geschehen ist, überlegt und in der Tragweite bewusst wieder gegen grundlegende Parteitagsbeschlüsse verstößt, damit die Grenze überschreitet, die für die Parteizugehörigkeit gezogen ist. In welcher Weise dann der Ausschluss formal stattfindet, ist Sache für sich. Es ist falsch, wenn David unseren Antrag anders ausgelegt hat. Wie ihm sei: Für die Zukunft muss ein Pentagramma aufgezeichnet werden.

Ich spreche als Preuße zu Ihnen. Wir stehen in Preußen in dem schwersten Kampfe, den die Sozialdemokratie, solange sie existiert, unternommen hat; in einem Kampfe, der Konsequenzen zeitigen kann für uns alle, persönliche und sachliche, die wir nicht absehen können, die wir aber auch nicht scheuen, mögen sie sein, wie sie wollen. (Lebhafter Beifall.) Das drückt für die nächste Zukunft unserer Arbeit in ganz Deutschland den Stempel auf. Sie (zu den Süddeutschen) können uns viel helfen dabei, aber die wichtigste Hilfe ist: Sichern Sie die Einheit und Geschlossenheit der Partei. (Stürmischer Beifall.)

1 Der Nürnberger Parteitag der SPD 1908 stellte in seinem Beschluss zur Budgetfrage (Antrag 126) ausdrücklich fest: Da „die Gesamtabstimmung über das Budget als Vertrauensvotum für die Regierung aufgefasst werden muss, ist jeder gegnerischen Regierung das Staatsbudget bei der Gesamtabstimmung zu verweigern …" 1910 stimmten die badischen sozialdemokratischen Abgeordneten jedoch für das Budget. Der Parteitag sprach der Badener Fraktion eine „scharfe Missbilligung" aus, ohne jedoch diese Opportunisten aus der Partei auszuschließen.

2 Landesparteitag der badischen Sozialdemokratie im August 1910. Die Red.

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