Karl Liebknecht‎ > ‎1910‎ > ‎

Karl Liebknecht 19100615 Gegen die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes in Preußen

Karl Liebknecht: Gegen die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes in Preußen

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zu einem sozialdemokratischen Antrag auf Aufhebung des Sprachenparagraphen1 und Erleichterung des Versammlungsrechts

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 5. Bd., Berlin 1910, Sp. 7329-7537 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 447-460]

Meine Herren, es ist sehr bedauerlich, dass der Herr Minister des Innern dieser Angelegenheit nicht beiwohnt. Das scheint mir ein neuer Beweis dafür zu sein, dass der preußischen Regierung eben alle politisch-freiheitlichen Interessen Hekuba sind. Nur das eine will mir zweifelhaft erscheinen: ob es klug gewesen ist, das gerade bei dieser Gelegenheit wieder so deutlich, in so demonstrativer und provozierender Weise zu zeigen.

Der Antrag der Sozialdemokratie, Nr. 117, unterscheidet sich von den übrigen Anträgen2 in verschiedener Hinsicht. Zunächst fordern wir die Erlaubnis zum Gebrauch aller fremden Sprachen in öffentlichen Versammlungen. Des Weiteren fordern wir, dass vor Erlass eines Gesetzes, das wir gleichfalls verlangen, schon entsprechende Anweisungen an die Verwaltungsbehörden gegeben werden. Und schließlich befasst sich unser Antrag auch mit den Versammlungen unter freiem Himmel und den Aufzügen und fordert hier ähnliche Maßregeln der Gesetzgebung und der Verwaltungsbehörden. In Frage kommen für uns die Paragraphen 12 und 7 des Reichsvereinsgesetzes, diese handeln von öffentlichen Versammlungen und Aufzügen ohne Rücksicht auf den Zweck. Der politische Zweck ist in diesen beiden Fällen nicht vorausgesetzt. Es ist daher ohne weiteres ersichtlich, dass die Bestimmungen der Paragraphen 7 und 12 auch Anwendungen finden auf durchaus unpolitische Veranstaltungen, besonders auch auf die in Paragraph 6 Absatz 3 des Reichsvereinsgesetzes vorgesehenen, mit sozialpolitischen Angelegenheiten sich befassenden Versammlungen. In diesen Paragraphen ist der Landesgesetzgebung die Befugnis übertragen, über die dort an und für sich gesteckten Grenzen hinauszugehen, einmal im Wege der Gesetzgebung, andererseits im Wege der Verwaltungsmaßnahme.

Wenn wir in erster Linie fordern, dass alsbald Anweisungen an die Verwaltungsbehörden erlassen werden, so haben wir das aus dem rein politischen Zwecke getan, weil solche Anweisungen sehr schnell, von heute auf morgen, erfolgen können, während die Ingangsetzung der gesetzgebenden Faktoren immerhin eine gewisse Zeitspanne erfordert.

Welchen Gebrauch hat bisher Preußen von der Befugnis der Paragraphen 12 und 7 gemacht? Dieser Gebrauch ist ein äußerst bescheidener gewesen. Abgesehen von einigen Fällen, die gar nicht umgangen werden konnten, insbesondere von den Fällen in den gemischt sprachigen Gegenden der Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen bezüglich der masurischen und litauischen Sprache, in den Regierungsbezirken Frankfurt (Oder) und Liegnitz bezüglich der wendischen Sprache, im Kreise Malmedy des Regierungsbezirkes Aachen bezüglich der französischen Sprache, und abgesehen von den dänischen Ausnahmen, ist in der preußischen Ausführungsverordnung, soweit der Gebrauch der fremden Sprachen in Betracht kommt, keine Bestimmung getroffen. Und was die Versammlungen unter freiem Himmel anlangt, in Bezug auf die das Gesetz in Paragraph 7 ausdrücklich der Landesregierung die Befugnis gibt, Anweisungen zu treffen, dass bereits einfache Anzeige genügt und eine Genehmigung nicht notwendig ist, so hat die preußische Ausführungsverordnung von dieser Ermächtigung überhaupt keinen Gebrauch gemacht. Hier gelten einfach die einschlägigen und unerträglichen Bestimmungen des Reichsvereinsgesetzes. Das ist freilich kein Wunder, sondern es erklärt sich ganz natürlich daraus, dass das Reichsvereinsgesetz seine Gestaltung gerade erhalten hat durch die Rücksicht auf die preußischen Interessen. Fast alle anderen deutschen Bundesstaaten wollten in Bezug auf die Versammlungsfreiheit und Vereinsfreiheit weiter gehen. Nur weil Preußen mit großer Energie widersprach, hat es sich hier wiederum wie so häufig als Schwergewicht erwiesen, das einen Fortschritt unserer Gesetzgebung verhindert hat. Es ist darnach kein Wunder, dass infolgedessen von den Bestimmungen, wonach die Landesgesetzgebung die Befugnis hat, größere Freiheit einzuräumen, gerade Preußen keinen Gebrauch gemacht hat, sondern nur diejenigen andern Bundesstaaten, die von vornherein eine freiheitlichere Gestaltung des Reichsvereinsgesetzes gewünscht hatten.

Sie wissen, dass wir Sozialdemokraten lebhafteste Beschwerde zu führen haben nicht nur über die preußische Ausführungsverordnung, über die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes durch die preußische Verwaltung, sondern dass wir auch, davon abgesehen, immer wieder die schwersten Angriffe gegen die preußische Verwaltung zu richten haben wegen der zahlreichen „kleinen Mittel", mit denen sie neben dem Gesetz und gegen das Gesetz unausgesetzt das Versammlungs- und Vereinsrecht erschwert und unterbindet. Von den Saalabtreibungen, von den polizeilichen Schikanen, von dem Versuch, Saalbesitzer durch Hypothekenkündigungen der Überlassung ihrer Säle an Sozialdemokraten und andere oppositionelle Strömungen abgeneigt zu machen, von alledem kann ich hier natürlich nicht eingehender sprechen, obwohl wir ein so ungeheuerliches Material darüber haben, dass die preußische Regierung schamrot werden müsste.

(Heiterkeit.)

Im Übrigen ist es ja auch bekannt, wie allerhand sicherheitspolizeiliche Bestimmungen dazu herhalten müssen, um das Vereins- und Versammlungsrecht zu verstümmeln und zu lähmen, wie man Feuersgefahr vorschützt, wie man, wenn Wasser in der Nähe des Versammlungslokals ist, meint, dass man die Versammlungsbesucher, natürlich gerade solche oppositioneller Parteien, sorglichst davor behüten müsse, ins Wasser zu fallen, wie man außerordentlich leicht geneigt ist, zum Schutze oppositioneller Staatsbürger baupolizeilich Gefährdungen der Versammlungsräume zu entdecken, wie man sogar im Königreich des Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa

(Heiterkeit.)

eine gar nicht existierende Scharlachepidemie, die in der Phantasie der Polizei wohl 20 Kilometer vom Versammlungslokal entfernt bestand, ausschlachtete, um eine Versammlung unmöglich zu machen.

Die Saalabtreibungen, den Militärboykott und ähnliche Dinge will ich, wie gesagt, mit Rücksicht auf die Geschäftslage des Hauses nicht weiter besprechen; es wird sich dazu eine andere Gelegenheit finden. Aber, meine Herren, wie man in Preußen, entgegen der Zusicherung des jetzigen Herrn Ministerpräsidenten, des früheren Staatssekretärs des Innern, weit davon entfernt ist, das Vereinsgesetz weitherzig auszulegen, wie man vielmehr in der denkbar kleinlichsten Weise bemüht ist, die alte polizeiliche Nadelstichpolitik gegen unbequeme politische und soziale Erscheinungen anzuwenden, davon können die Sozialdemokraten und die proletarischen Gewerkschaften ein Lied singen.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Ich darf nur daran erinnern, wie man es jetzt trotz der ausdrücklichen Zusicherungen des Herrn Ministerpräsidenten durch eine höchstrichterliche Entscheidung des Breslauer Oberlandesgerichts fertiggebracht hat, die Gewerkschaften zu politischen Organisationen zu erklären und so den Erfolg zu erzielen, dass die Teilnahme Jugendlicher an diesen Gewerkschaften unmöglich gemacht worden ist.

Mit dem Sprachenparagraphen haben wir die außerordentlich bedauerliche Erfahrung zu machen, dass die Polizeiorgane und die Justizverwaltung sich die stärkste Mühe geben, dafür zu sorgen, dass allerhand gewerkschaftliche und politische Organisationen unbequemen Charakters für nicht geschlossene Vereine erklärt werden, oftmals ohne irgendeinen auch nur einigermaßen plausiblen Grund, so dass man merkt, wie hier wie so oft die Polizeiverwaltung rein aus politischen Gründen unter Missbrauch der Amtsgewalt das Gesetz misshandelt. So ist es einer Anzahl unserer Gewerkschaften gegangen. Wir haben sogar erleben müssen, dass eine Vertreterkonferenz unserer polnischen Parteigenossen für Rheinland und Westfalen, an der insgesamt vierzehn Parteigenossen teilnahmen, als eine öffentliche Veranstaltung angesehen

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und infolgedessen der Gebrauch der polnischen Sprache bei dieser Zusammenkunft verboten wurde, obwohl es sich da um eine geschlossene Veranstaltung handelte, um einen geschlossenen Kreis, auf den ja die Bestimmungen des Paragraphen 12 überhaupt keine Anwendung finden.

Ich habe dann einen polnischen Fall vorzutragen, den ich vor kurzem auch hier vor den Gerichten zu vertreten hatte. Es handelt sich um die Sache gegen Tyrakowski und Genossen. Hierzu liegt ein Urteil der 4. Strafkammer des Landgerichts III in Berlin vom 20. September 1909 vor. Der Vorstand des polnischen Wahlvereins für Charlottenburg und Umgebung ist auf Veranlassung der Polizei wegen Übertretung des Vereinsgesetzes angeklagt worden, weil in der Organisation polnisch gesprochen worden ist. Man hat sich bemüht, diesen Verein als eine nicht geschlossene Organisation zu konstruieren; dabei beträgt die Mitgliederzahl dieses ganzen Wahlvereins nicht mehr als 450 bis 500 Personen, wie nach diesem Urteil auf Grund der Auskunft der Polizeibehörde unzweifelhaft feststeht. Die Polizeibehörde hat es gewagt zu versuchen, diese polnische Organisation als eine nicht geschlossene Zusammenhäufung von Menschen zu betrachten, während unter ihren Augen, ohne dass sie jemals den geringsten Versuch unternimmt, politische Organisationen der sogenannten staatstreuen Parteien, deren Mitgliederzahl in die Tausende, oftmals in die Zehntausende geht, als nicht geschlossen hingestellt werden, obwohl der Polizeiverwaltung kurz vorher bei dem Versuche, die Magdeburger Organisation der Sozialdemokratischen Partei als nicht geschlossen zu behandeln und zu verfolgen, durch höchstrichterliche Entscheidung das Handwerk gelegt und festgestellt worden ist, dass diese Organisation, die eine bei weitem größere Mitgliederzahl als die polnische Organisation besaß, als geschlossene Organisation anzusehen sei.

Meine Herren, ich habe nicht nötig, mich hier noch eingehend mit dieser Frage zu befassen. Diese Erörterung darf allerdings wohl nicht vorübergehen, ohne dass ich wenigstens mit einem Worte gestreift habe den bekannten, hier gelegentlich bereits erwähnten skandalösen Fall der Kieler internationalen Friedenskundgebung vom Sommer des vergangenen Jahres, bei der es einem Vertreter der englischen Nation, der kurz vorher auch mit Vertretern der preußischen Regierung feierlichst zusammen getagt hatte, durch die Polizei verwehrt wurde – es war MacDonald, ein Parteifreund von uns –, das Wort zu ergreifen.

(„Hört! Hört!“ bei den Sozialdemokraten.)

Damit will ich den Sprachenparagraphen und seine preußische Handhabung verlassen und mit ein paar Worten auf die Praxis Preußens in Bezug auf die Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel eingehen. Auch da haben wir in Preußen mit einer besonders kläglichen Judikatur zu rechnen. Nach dem Gesetz sind zum Beispiel gewöhnliche Leichenbegängnisse von der Bestimmung des Paragraphen 7 ausgenommen. Die preußische Judikatur macht aber schon dann ein Leichenbegängnis zu einem ungewöhnlichen, wenn irgend jemand ein paar Worte am Grabe gesprochen hat oder irgendeine Fahne oder ein sozialdemokratisches Abzeichen bei diesem Leichenbegängnis getragen wird. Man bemüht sich mit allerhand unglaublich phantastischen und an den Haaren herbeigezogenen Gründen, Versammlungen unter freiem Himmel unmöglich zu machen. Ich habe mir schon bei einer früheren Gelegenheit bereits gestattet, dem Hohen Hause eine Anzahl dieser unglaublichen Gründe zu berichten, die zu einem Teil allerdings durch die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts bereits als das gekennzeichnet worden sind, was sie sind, nämlich ungesetzliche Finten.

Ich erinnere an die Behandlung der Berliner und anderer Wahlrechtsdemonstrationen und nehme hier bei der Kürze der Zeit nur Gelegenheit, mich mit zwei Fallen zu befassen, die sich gerade vor wenigen Tagen abgespielt haben. Es handelt sich zunächst um eine Angelegenheit aus dem Dorfe Schönborn bei Breslau. Dort wurde eine Versammlung unter freiem Himmel verboten, weil eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung mit Rücksicht darauf für vorliegend erachtet wurde, dass Gegner geneigt sein würden, Radau zu machen, und es unter Umständen zu einer Tätlichkeit kommen könne.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, eine solche Begründung der Versagung der Erlaubnis für die Versammlung unter freiem Himmel kann man in der Tat in keiner Weise rechtfertigen. Das ist eine direkt schikanöse Anwendung des Gesetzes.

Ich habe des weiteren hier einen Fall im Auge, der sich im Reichstagswahlkreise Koblenz-St. Goar abgespielt hat. Es war eine Versammlung unter freiem Himmel geplant. Die Polizei erteilte die Genehmigung nicht, indem sie hervorhob, dass infolge der Annahme der neuen Steuergesetze unzweifelhaft weite Volkskreise von Aufregung ergriffen worden seien, dass die Zentrumspartei überwiege und es infolgedessen leicht zu Ruhestörungen kommen könne.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

In diesem Falle hat das Oberverwaltungsgericht das Verbot für ungerechtfertigt erachtet. Aber, meine Herren, welche Perspektive eröffnet sich bei einer solchen Verwaltungspraxis! Dann ergibt sich ja für die Regierung die denkbar bequemste Handhabe, gerade in dem Augenblick jede Versammlung unter freiem Himmel unmöglich zu machen, wo sie am nötigsten wäre, weil die Erregung im Lande das größte Bedürfnis hat, sich in Versammlungen Luft zu machen. Und weil die Regierungsorgane und die herrschenden Parteien einträchtig bemüht sind, allenthalben Versammlungslokale abzutreiben – das geht ja sogar der Nationalliberalen Partei hier und da so –, so ist man eben leider vielfach genötigt, auf Versammlungen unter freiem Himmel zurückzugreifen, die schon wegen der Größe der Kundgebungen immer mehr zu einer dringenden Notwendigkeit geworden sind. Die intimsten politischen Interessen heischen, dass ein derartiger Missbrauch der gesetzlichen Bestimmungen nicht weiterhin Platz greifen kann.

Meine Herren, natürlich ist aus Oberschlesien eine ganz besondere Fülle von unglaublichen polizeilichen Übergriffen in Bezug auf Paragraph 7 zu vermelden. Da wird die Genehmigung einer Versammlung unter freiem Himmel von dem Amtsvorsteher zu Ostrosnitz, Kreis Kosel, Oberschlesien, mit der Begründung versagt:

Am genannten Tage findet ohnedies ein Ablassfest statt, wo eine große Volksmenge zusammenkommt. Die zu Gebote stehende Polizei ist nicht imstande, alles zu beaufsichtigen.

Der Amtsvorsteher

Janetzki."

(„Hört! Hört!")

Meine Herren, auf erneute Vorstellung wurde folgende Antwort gegeben:

Das Verbot der Versammlung am 16. Mai wird aufrechterhalten. Wie bereits gesagt, findet am 16. Mai hierselbst der Ablass statt, der große Menschenmengen zusammenruft. Durch die Aussperrung der Bauarbeiter ist anzunehmen, dass zu der angemeldeten Versammlung auch eine große Anzahl nicht einheimischer Maurer erscheinen wird, und sind deshalb arge Verkehrsstörungen auf der Dorfstraße zu befürchten."

Dieser edle Amtsvorsteher Janetzki hat keine Ahnung davon, dass nach ausdrücklicher Bestimmung, jedenfalls nach dem klar deklarierten Sinn des Reichsvereinsgesetzes Verkehrsinteressen zur Begründung für die Versagung von Versammlungen unter freiem Himmel nicht mehr in Frage kommen dürfen, wie sie ja auch schon nach dem alten preußischen Recht nicht in Frage kommen durften.

Meine Herren, wir haben ähnliche Fälle aus Oberschlesien in großer Zahl. Da wird in Michalkowitz eine Versammlung unter freiem Himmel verboten, weil Feuergefahr bestehe. Es seien in der Nähe einige Baulichkeiten, die unter Umständen in Brand geraten könnten. Meine Herren, in einem Falle wurde bei einem Verbot, das in gleicher Weise begründet wurde, schließlich die Versagung der Genehmigung zurückgezogen und die Genehmigung erteilt, nachdem diejenigen, die die Versammlung planten, sich bereit erklärt hatten, die Kosten für die Stellung von Feuerwehrpersonal zu zahlen, das zur Stelle sein sollte, um jede mögliche Feuergefahr zu beseitigen. Aber vor kurzem, am 1. Mai dieses Jahres, in Michalkowitz, wurde auch das nicht für genügend erachtet. Es wurde zur Begründung angeführt, es könne doch durch die Feuerwehr höchstens ein bereits zum Ausbruch gekommener Brand erstickt, aber niemals verhindert werden, dass ein Brand zum Ausbruch komme, und schon das müsse unbedingt vermieden werden. Infolgedessen könne auch die Bezahlung und Gestellung von Feuerwehrpersonal nicht hinreichen.

In einem andern Falle hat der Amtsvorsteher zu Neudorf am 6. Juni 1910 eine Versammlung unter freiem Himmel nicht genehmigt mit der Begründung, dass die angrenzenden Grundstücksbesitzer Beschwerde darüber führten, dass man voraussichtlich auf ihr Gebiet übertreten würde, und sie würden sich das aller Voraussicht nach nicht gefallen lassen. Es heißt dann

Ich muss befürchten, dass die hiesige Bürgerschaft, wenn nicht energische Abwehrmaßregeln gegen die sozialdemokratischen Bestrebungen getroffen werden, schließlich zur Selbsthilfe greift und versuchen wird, dem Treiben des von gewissenlosen Agitatoren aufgehetzten Volkes Einhalt zu tun."

Das ist doch noch ein Amtsvorsteher nach dem Herzen der Rechten dieses Hauses! Es ist das eine geradezu unerhörte Anmaßung von diesem Herrn, derartige Zensuren in diesem amtlichen Akt auszuteilen. Im Übrigen verrät dieser Entscheid ein außerordentlich feines Gefühl für das Recht auf Revolution. Der Herr ist sich klar darüber und billigt im Grunde, dass die staatsgetreuen Untertanen gegenüber den Staatsbehörden zur Selbsthilfe greifen würden, wenn die Staatsbehörden ihren politischen Interessen und Wünschen nicht zu Hilfe kommen. Wenn wir Sozialdemokraten einmal einen ähnlichen Standpunkt vertreten, schreit man Zetermordio ob der „Neigung der Sozialdemokratie zu Ungesetzlichkeiten". Dass man bei einem derartigen Vorfall den Antragsteller, den Maurer Anton Bias in Neudorf, in einem amtlichen Schriftstück als „sozialdemokratischen Agitator" bezeichnet, das ist auch so ein preußisches Stückchen, das verdient, für die Nachwelt festgehalten zu werden.

(Zuruf bei den Polen.)

Gewiss, es kommt das bei Ihnen ebenso vor wie bei uns; wir und Sie leiden eben unter dem gleichen Übel.

Charakteristisch ist, unter welcher Voraussetzung man einen Umzug versagt hat. Auf den Antrag, in Genthin am 1. Mai dieses Jahres einen Umzug zu gestatten, wurde erwidert, dass vor kurzem in einer Nachbarstadt – wohlgemerkt – bei einem Wahldemonstrationsumzuge aus den Häusern Töpfe, Teller, Schüsseln usw. auf die Demonstranten auf der Straße geworfen worden seien. Mit Rücksicht auf diese Ungesetzlichkeiten gröbster Art, die von Angehörigen der sogenannten Ordnungsparteien gegen Demonstranten verübt worden sind, wird in Genthin, einem Nachbarorte, der Umzug verboten, weil man eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung besorgt. Nehmen Sie an, Sozialdemokraten hätten auf einen umziehenden Kriegerverein Flaschen, Schüsseln usw. geworfen, glauben Sie, dass man dann für alle Zukunft dem Kriegerverein den Umzug versagen würde, dass man nicht vielmehr versuchen würde, die sozialdemokratischen Sünder am Schlafittchen zu kriegen und drakonisch zu bestrafen?

Nachdem wir es haben erleben müssen, dass man die bei den Straßendemonstrationen besonders tätigen Schutzleute dekoriert, dass der Landesdirektor der Provinz Brandenburg, der Präsident des Herrenhauses, gar Sammlungen veranstaltet hat für die Polizeibeamten, die in besonders tüchtiger Weise in Bürgerblut gewütet haben, kann natürlich eine solche Praxis der preußischen Verwaltung nicht mehr wundernehmen.

Es bleibt dabei, dass die preußische Verwaltungspraxis, abgesehen davon, dass sie mit dem Gesetze im schroffsten Widerspruch steht, auch ein Hohn ist auf die eindeutige und feierliche Versicherung des Herrn Ministerpräsidenten, dass das Vereinsgesetz nicht in schikanöser Weise gehandhabt werden solle. Und nachdem der Herr Ministerpräsident jetzt der Vorgesetzte des Ministers des Innern ist, kann man von neuem an ihn die Aufforderung richten, dass er dafür Sorge trage, dass seinem eigenen feierlichen Versprechen endlich Genüge getan werde.

Es ist von dem Abgeordneten Schwabach bei Begründung seines Antrages, ebenso aber auch von anderen Rednern besonderes Gewicht gelegt worden auf die patriotische und loyale Gesinnung derjenigen Schichten, für deren Interessen die Herren besonders eingetreten sind. Wir wollen natürlich die Loyalität dieser Schichten durchaus nicht bezweifeln, und wir gönnen ihnen, dass ihnen zum Dank für diese loyale Gesinnung eine größere politische Bewegungsfreiheit gewährt werden möge. Aber wir können es für wenig angebracht halten, dass man mit solchen Gründen, ich möchte sagen, eine politische Bettelei vorträgt, wo man meiner Auffassung nach nicht zu betteln, sondern zu fordern hat im Interesse des politischen Fortschritts innerhalb Deutschlands. Wir brauchen energischen Schutz und Hilfe gegenüber dieser preußischen Verwaltungspraxis; und wir fordern insbesondere, dass durch klare Bestimmungen, die zunächst von der Verwaltungsbehörde zu erlassen sind, und dann durch Gesetz die im Gesetz für zulässig erklärte denkbar größte Bewegungsfreiheit gewährt werden möge.

Meine Herren, auch hier haben wir wiederum Gelegenheit – wie so häufig; es vergeht fast kein Tag –, Süddeutschland, die vier süddeutschen Staaten als Musterbeispiel für Preußen anzuführen: Bayern, Württemberg, Baden und Hessen mit ihren Ausführungsverordnungen. Geradezu vorbildlich könnten sie für Preußen sein, wenn sie nicht ein Schrecken wären für die preußische Rückständigkeit,

(„Sehr richtig!")

für die in Preußen herrschenden Mächte.

(„Sehr richtig!")

In diesen vier Staaten sind Bestimmungen getroffen in Bezug auf die öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel, die nicht in geschlossenen Ortschaften, auf öffentlichen Wegen, Plätzen stattfinden, dass diese öffentlichen Versammlungen nur der Anzeige, nicht aber der Genehmigung bedürfen; des weiteren, dass es – abgesehen von anderen Ausnahmen – für Aufzüge zu geselligen und sportlichen Zwecken einer Anzeige überhaupt nicht bedarf. Und schließlich ist noch die für Preußen besonders interessante Bestimmung getroffen, wonach die Polizei, wenn sie – bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen – von anderen polizeilichen Maßregeln einschränkend Gebrauch machen will, verpflichtet ist, auf Erfordern diese Maßregeln den Interessenten, den Antragstellern ausführlich und spezialisiert mitzuteilen, damit sie sich danach richten und keine Schikanen getrieben werden können.

Meine Herren, dass das sehr wichtig ist, das beweist ein Fall, den ich gerade heute vor dem Schöffengericht in Spandau zu verhandeln gehabt habe. Ein paar junge Leute in Spandau sind ausgezogen zum Vergnügen und zum Turnen. Es war eine „Mandel", wie der Gendarm sich ausdrückte, 15 bis 20 junge Leute; sie haben eine Fahne mit sich getragen und sind – durchaus nicht in geschlossenem Zuge – singend nach Hause gekommen. Sie sind festgestellt worden; wegen groben Unfugs haben sie einen Strafbefehl bekommen. In diesem Strafbefehl wird die Fahne als eine rote bezeichnet und die Lieder, die sie gesungen haben, als sozialdemokratische. Ausschließlich, weil es eine rote Fahne war und weil es sozialdemokratische Lieder waren, hat man sie gerichtlich verfolgt. Heute sind sie vom Schöffengericht freigesprochen worden; aber die Verwaltungsorgane werden auch in künftigen Fällen in ähnlicher Weise vorgehen. Wenn man eine solche Verwaltungspraxis in Preußen immer und immer wieder vor sich sieht, ist man versucht zu glauben, dass das selige Sozialistengesetz wieder auferstanden sei, das schon längst ins Reich der Gespenster gehört wie so vieles, was in Preußen immer noch Fleisch und Blut und verderbliche Realität besitzt.

In Bezug auf fremde Sprachen bestehen in den süddeutschen Staaten noch einige andere Maßregeln. Alle Versammlungen, auch öffentliche Versammlungen, die nach Paragraph 6 Absatz 3 des Reichsvereinsgesetzes zu behandeln sind, nämlich solche, die sozialpolitische Interessen verfolgen, sind dort unbedingt von der Spracheinschränkung ausgenommen, und auch in allen übrigen Versammlungen ist mindestens der Mitgebrauch der fremden Sprachen gestattet. Ausnahmen in dieser Beziehung gibt es gar nicht, so dass diese vier süddeutschen Staaten hier eine solche Freiheit geschaffen haben, trotz des Reichsvereinsgesetzes, wie sie für Preußen vorbildlich sein sollte, wenn Preußen eben nicht Preußen wäre.

Meine Herren, Preußen – da komme ich auf Herrn von Brandenstein. Herr von Brandenstein erklärt, es verstehe sich von selbst, dass die Staatsregierung die Bestimmungen des Reichsvereinsgesetzes nicht auf den Kopf stellen könne, wie es die Anträge forderten. Nein, das ist nicht richtig! Sie sollen nicht auf den Kopf gestellt werden. Das Reichsvereinsgesetz hat ausdrücklich die Klauseln aufgenommen, die es den einzelstaatlichen Regierungen ermöglichen, derartige Bestimmungen zu treffen. Es handelt sich also nicht um etwas anderes als darum, dass Preußen dem Vorbilde Süddeutschlands folgen möge.

Es ist ein großer Irrtum, wenn man geglaubt hat, sich auf Frankreich beziehen zu können. In Frankreich ist von einer der preußischen ähnlichen Polizeihandhabung eines ähnlichen Gesetzes wie des preußischen Vereinsgesetzes überhaupt gar nicht die Rede. In Frankreich erscheinen auch eine ganze Masse Zeitungen in allen möglichen fremden Sprachen, zum Beispiel, wie mir persönlich bekannt, sowohl in deutscher wie in russischer Sprache, und sie werden in keiner Weise schikaniert; und niemandem wird das Recht auf die Sprache verkürzt.

Wie können Sie sagen, dass der ganze Sprachenparagraph etwas sei, was die Regierung im öffentlichen Interesse aufrechterhalten müsse! Preußen ist ohne diesen Sprachenparagraphen bis zum Jahre 1908 ausgekommen und hat damit seine Fähigkeit, in der Reaktion in Deutschland voranzugehen, genauso gut dokumentiert wie seit dieser Zeit. Nicht einmal die eigensten Interessen der Rückständigkeit sind dadurch beeinträchtigt gewesen, dass eine solche Bestimmung, wie der Paragraph 12 des Reichsvereinsgesetzes sie enthält, gefehlt hat. 3Sie können auch in aller Ruhe und ohne Besorgnis für ihre Sonderinteressen eine solche Bestimmung aufheben, die allerdings in gefährlicher Weise dazu beiträgt, unsere Bevölkerung zu zerreißen und der politischen und gewerkschaftlichen Aufklärung Schwierigkeiten zu bereiten, insbesondere die allmähliche Adoptierung der polnischen und sonstigen fremden Bevölkerung an die deutsche Kultur in all den Gegenden, wo die fremden Arbeitermassen sich anhäufen, ernstlich zu erschweren. Für Rheinland und Westfalen, besonders für das Ruhrrevier ist diese Bestimmung des Vereinsgesetzes geradezu verhängnisvoll, weil sie verhindert, dass durch enge Fühlung mit den deutschen Arbeitern eine raschere Anpassung an deutsche Verhältnisse und deutsche Kultur stattfindet.

Meine Herren, es ist hier, wenn wir auf der einen Seite die süddeutschen Staaten und auf der andern Seite Preußen betrachten, von neuem bestätigt, dass Preußen gewissermaßen den Krähwinkler Landsturm in der deutschen Politik darstellt. Diese Krähwinkler-Landsturm-Politik, die Sie (zur Rechten) in allererster Linie vertreten, kann nur dazu führen, dass diejenigen Parteien, die sich mit Ihnen nicht solidarisch erklären, sondern dem Fortschritt mit dem größten Nachdruck zum Siege zu verhelfen suchen, um so rascher vorwärts schreiten. Die letzten Wahlen, die Ersatzwahlen in Usedom-Wollin und in Friedberg-Büdingen, sollten doch denen, die bisher noch nicht wissen, woher jetzt der Wind in Deutschland kommt, wahrhaftig den Star gestochen und die Augen geöffnet haben. Je mehr Sie in Deutschland als Vertreter des Krähwinkler Landsturms auftreten, um so schneller und um so siegessicherer wird die Sozialdemokratie voranschreiten.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten .)

1 Paragraph 12 des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908 (Sprachenparagraph) schrieb für die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache vor und richtete sich besonders gegen die polnische Bevölkerung. Im April 1917 wurde er aufgehoben. Paragraph 7 unterwarf öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auf öffentlichen Straßen und Plätzen der Genehmigung durch die Polizeibehörden.

2 Zur Beratung standen gleichzeitig vier weitere Anträge zum gleichen Thema. Die Red.

3Der Rest des Absatzes fehlt in den „Reden und Schriften“

Kommentare