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Karl Liebknecht 19100314 Im Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht

Karl Liebknecht: Im Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zur zweiten und dritten Lesung des Wahlgesetzentwurfs1

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 3. Bd., Berlin 1910, Sp. 3306-3313, 3347-3362 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 150-184]

I

14. März 1910

Meine Herren, der Herr Abgeordnete von Richthofen und seine Freunde sprechen vergeblich viel, um ihren Ärger über den Vorgang vom vorigen Freitag2 zu verbergen.

(Lachen rechts.)

Es geht aus allem nur die ohnmächtige Wut über die Bloßstellung hervor, und bei allen Ausflüchten wird es Ihnen nicht gelingen, das Land über die Wahrheit zu täuschen.

Die Ernstlichkeit der geheimen Wahl ist bereits gegenwärtig in der schwersten Weise gefährdet oder – man kann geradezu sagen – eliminiert durch die Öffentlichkeit der Abgeordnetenwahl, durch die indirekte Wahl und schließlich durch die fakultative Terminwahl, die mit Hilfe des Zentrums wieder in das Gesetz hineingebracht werden soll. Dass es angesichts dieser Situation für jede Partei, der wirklich daran liegt, das letzte kleine Restchen von geheimer Wahl, das im Gesetz vielleicht doch noch vorhanden ist, zu retten, ein nobile officium sein sollte, wenigstens den Versuch zu machen, für die Sicherung des Wahlgeheimnisses in dem von dem Antrag und der Resolution erstrebten Umfang einzutreten, braucht nicht näher dargelegt zu werden. Wie hat sich das Zentrum in dieser Frage verhalten? Es war zunächst ein Antrag zur Verfassung gestellt, der sich inhaltlich mit dem gegenwärtigen Antrag und der Resolution deckt. Das Zentrum lehnte den Antrag ab, weil es zu schwerfällig sein würde, ihn in die Verfassung hineinzusetzen. Daraufhin wurde meines Wissens auch bereits in der Kommission, ähnlich wie jetzt, ein Antrag gestellt, diese Bestimmung in einen besonderen Artikel des Gesetzes, der nicht unter dem Schutz der Verfassung steht, aufzunehmen. In der Kommission hat das Zentrum auch gegen diesen Vorschlag gestimmt, obwohl ihm damit das Argument aus der Hand gewunden war, dass er ein zu leichtes Gepäck für die Verfassung sei. Das Zentrum hat dann schließlich eine Resolution eingebracht und vermeint, mit dem Flicken dieser Resolution die Blößen seines früheren Verhaltens decken zu können.

Meine Herren, es ist uns allen ja wohl bekannt, dass die Vorgänge, die sich vor dem Jahre 1903 im Reichstage abgespielt haben, deutlich zeigen, wie schwer es sogar im Reiche gewesen ist, eine Sicherung des Wahlgeheimnisses im Sinne des jetzigen Antrags durchzuführen. Man kann wohl sagen, dass die letzten Jahre vor 1903 geradezu mit Leichensteinen von Anträgen gepflastert sind, die sich mit der Sicherung des Wahlgeheimnisses befasst haben. Regelmäßig hat sich die Regierung ablehnend verhalten. Schließlich, im Jahre 1903, ist die Reichsregierung dazu übergegangen, eine entsprechende Änderung des Reichstagswahlreglements durchzuführen, und zwar ganz wesentlich unter dem Druck der lebhaften Bewegung im Lande, die durch das Zollwuchergesetz hervorgerufen war. Die Missstimmung war damals eine so ungemeine, dass die Regierung es für nötig hielt, etwas Popularität zu schinden,

(Heiterkeit.)

wenn ich mir den Ausdruck gestatten darf, und dass man um deswillen die Änderung des Wahlreglements vorschlug. Schließlich ist sie im Reichstage gegen die Stimmen der Konservativen und der Freikonservativen angenommen worden. Diese Änderung reichte damals den Parteien der Mehrheit nicht aus, es wurde am 21. April 1903 noch eine Resolution Hodenberg angenommen, die eine weitere Sicherung des Wahlgeheimnisses anstrebte. Diese Resolution ist bis zum heutigen Tage noch nicht durchgeführt, obwohl dieselbe Mehrheit, die hinter dem Wahlreglement stand, auch hinter dieser Resolution gestanden hat. Und alle Versuche, eine weitere Besserung der Vorschriften über die Sicherung des Wahlgeheimnisses herbeizuführen, sind bisher fehlgeschlagen.

Es ist hiernach auf das Deutlichste ersichtlich, wie außerordentlich unwahrscheinlich es ist, dass eine Resolution der hier vorgeschlagenen Art von der Regierung jemals befolgt wird. Wenn man will, dass das Wahlrecht in der Tat unter die Sicherung einer solchen Bestimmung gestellt wird, dann bleibt nichts übrig, als die Bestimmung sofort in das Wahlgesetz aufzunehmen. Die Resolution wird – das unterliegt nicht dem allergeringsten Zweifel – nichts bleiben als ein Stück Papier. Das beweist einmal die wenig erfreuliche Geschichte der Vorschriften über die Sicherung des Wahlgeheimnisses im Reich, wo die Position eine viel günstigere ist als in Preußen, andererseits die Tatsache, dass hier die Konservativen – und die Freikonservativen selbstverständlich gleichfalls – den Antrag und die Resolution verwerfen, und schließlich die Tatsache, dass auch der Vertreter der Regierung es für angezeigt gehalten hat, bereits in der Kommission zu erklären, dass die Staatsregierung Gegner solcher Bestimmungen ist. Hiernach ist alles, was, abgesehen vom Zentrum, an realen Mächten in Preußen gegenwärtig herrscht, die Regierung selbst und die beiden rechten Parteien, energischer Gegner einer Durchführung der Resolution. Wer es mit der Durchführung des in der Resolution zum Ausdruck gebrachten Grundgedankens ehrlich meint, der darf sich nicht mit der Annahme der Resolution begnügen, sondern muss sich ohne weiteres entschließen, den Inhalt der Resolution zu einem Teil des Gesetzes zu gestalten. Jedem, der sich dem gegenüber ablehnend verhält, darf man mit Fug und Recht ins Gesicht sagen, dass er es nicht ehrlich meint mit dem Erlass von Vorschriften über die Sicherung des Wahlgeheimnisses, dass er auch hier wieder versucht, bloß ein klein bisschen blauen Dunst nach außen hin vorzumachen und den Anschein zu erwecken, als ob an gewissen programmatischen Bestimmungen festgehalten wäre, während in der Tat innerlich die Absicht besteht, die Bestimmung zu Fall zu bringen.

Die Herren vom Zentrum behaupten, dass sie um deswillen den Antrag abgelehnt und nur die Resolution angenommen hätten, weil sie positive Arbeit zustande bringen wollten. Wir meinen, dass das Zentrum, wenn es hier eine positive Arbeit hat zustande bringen wollen, doch eben eine positive Arbeit zustande gebracht hat, von der wir und die weitesten Kreise im Lande wünschten, dass sie nicht zustande gekommen wäre. Das Zentrum befindet sich in der höchst sonderbaren Auffassung, als ob es dem Lande draußen und dem Volke nur darauf ankäme, dass positive Arbeit geleistet werde. Es kommt nicht darauf an, ob positive Arbeit geleistet wird, sondern darauf, welche positive Arbeit geleistet wird. Positive Arbeit ist hier im Hause immer geleistet worden zum Schaden des Volkes. Die Herren von der Rechten haben auch positive Arbeit geleistet, und positive Arbeit leisten auch draußen im Lande die Gendarmen und Schutzleute, die auf die Menge einhauen. Aber solche positive Arbeit passt dem Volke draußen nicht. Wir wollen eben eine volkstümliche, den Interessen des Volkes entsprechende Arbeit geleistet wissen, und deshalb sollen uns die Herren vom Zentrum nicht immer mit der Redensart kommen von der positiven Arbeit, die sie leisten. Über die Qualität ihrer Arbeit gilt's, Rede und Antwort zu stehen, und da werden sie ganz gewiss nicht in der Lage sein, sich zu rechtfertigen.

Es ist vorhin die Rede gewesen von den Besserungen – Herr Giesberts hat davon gesprochen –, die dieses Gesetz bringe und die man dem Lande draußen und auch den Zentrumsarbeitern durchaus klarmachen könne. Meine Herren, man müsste schon ein Mikroskop anwenden, um hier irgendeine Verbesserung ausfindig machen zu können; ja, es müsste ein Wundermikroskop sein, denn meines Erachtens liegen Verbesserungen überhaupt nicht vor, wenigstens nicht solche, über die man ernsthaft diskutieren könnte.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es wurde neulich von einem Zentrumsabgeordneten gegenüber dem nationalliberalen Antrage, der die Erhöhung von drei auf fünf Mark verlangte3, gemeint, das würde nur ein Linsengericht sein. Ich rief damals dem Herrn zu: ja, was Sie dem Volke geben wollen, ist nichts als eine breite Bettelsuppe; in der Tat: nichts als eine breite Bettelsuppe ist es, was die Herren vom Zentrum dem Volke bescheren wollen.

Meine Herren, der wahre Grund, der die Herren vom Zentrum veranlasst, den Antrag der Freisinnigen Partei jetzt und in der Kommission im Stich zu lassen, entgegen ihren eigenen programmatischen Forderungen, entgegen ihrer Haltung im Reichstage, das ist kein anderer, als dass die Herren von der Konservativen Partei nicht für den Antrag zu haben waren.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir wieder einmal den Angelpunkt der ganzen Taktik der Zentrumspartei in der Wahlrechtsfrage berühren. Es ist nicht aus einer direkten eigenen Entschließung der Zentrumspartei heraus, dass Sie diese Stellung einnehmen, denn die Herren vom Zentrum würden es im Interesse ihrer Popularität wahrscheinlich doch für nötig halten, draußen für einen derartigen Antrag einzutreten, wie die Freisinnigen ihn gestellt haben. Aber sie haben sich hier fest entschlossen, nichts zu tun, kein Wörtlein zu reden, keinen Beschluss zu fassen, der nicht die Zustimmung der rechten Seite gefunden hat.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie haben damit in der allerdeutlichsten Weise bekannt, dass sie den Grundgedanken, von dem aus jegliche Wahlreform in Preußen allein durchgeführt werden könnte, überhaupt nicht verstanden haben,

(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)

nicht haben verstehen wollen und nicht verstanden haben. Meine Herren, wir dürfen doch darüber nicht im Zweifel sein: Die Aufregung im Lande über das in Preußen herrschende Wahlsystem erklärt sich daraus, dass man die gegenwärtig in Preußen herrschenden Parteien, insbesondere die Konservative und die Freikonservative Partei, nicht mehr dulden will in ihrer gegenwärtigen Machtstellung, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse längst überholt ist und durchaus nicht der sozialen Bedeutung der Klassen entspricht, die von diesen Parteien vertreten werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Jegliche Wahlreform muss sich unbedingt richten gegen die konservativen Parteien.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist ein wahrer Nonsens, eine Wahlreform mit denselben Konservativen machen zu wollen, die durch die Wahlrechtsreform depossediert werden müssen, wenn sie überhaupt eine Wahlreform sein soll.

(Heiterkeit rechts. – Zuruf.)

Es heißt in der Tat dem Publikum, der Gefolgschaft der Zentrumspartei, Sand in die Augen streuen, wenn die Herren vom Zentrum den Anschein erwecken wollen, als verfolgten sie ernstlich den Plan der Wahlreform. Tatsächlich ist ihr Zweck, ihre Machtstellung im Schwarzblauen Block4, die sie im Reiche etabliert haben, nun auch in Preußen zu etablieren, und zwar auf Kosten des Volkes, unter Verrat der großen Masse ihrer Wähler.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Lachen im Zentrum.)

Meine Herren, der Kampf zwischen den Konservativen und den Herren von der Nationalliberalen Partei ist ja heute verstummt; tacent arma, kann man heute sagen. Man mag daraus die Vermutung schöpfen, dass bereits inzwischen die Verhandlungen vielleicht begonnen haben, die uns neulich für die Zeit zwischen der zweiten und dritten Lesung in Aussicht gestellt waren. Meine Herren, vorhin ist bezeichnenderweise Herr von Woyna5 aufgetreten und hat gemeint, im letzten Moment, vor Toresschluss, noch einmal eine kleine Liebesserenade – „Horch auf den Klang der Zither und öffne mir das Gitter" – an die Herren Nationalliberalen anstimmen zu müssen. Es ist ihm nicht geantwortet worden; aber daraus, dass die Herren Nationalliberalen diesmal nicht abgelehnt haben, könnte man die Besorgnis schließen, dass die Geneigtheit zu einem Umfall bei dieser im Umfallen ziemlich geübten Partei doch schon wieder vorhanden ist.

(„Sehr gut!")

Wir wollen abwarten; es wird sich ja wohl in zwei Tagen herausstellen, wie weit das Liebesverhältnis gediehen ist, das Herr von Woyna mit den Herren Nationalliberalen anzubändeln versucht hat.

Im Übrigen ist aber kein Zweifel darüber, dass, wenn es den Herren nicht gelingt, die Nationalliberalen auf ihre Seite zu bringen, sie die Wahlrechtsreform eben ohne die Nationalliberalen machen werden. Sie werden sie ohne die Nationalliberalen machen, weil sie im Zentrum eine Partei auf ihrer Seite haben, die sich mit einem gewissen Recht als Vertreterin breiter Volksmassen bezeichnen kann,

(„Ah!" im Zentrum.)

ja, als eine Vertreterin breiter Volksmassen bezeichnen kann. Wenn auch die Interessen des Volkes von Ihnen nicht vertreten werden,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

wenn auch die Interessen des Volkes besonders in diesem Fall verraten werden,

(Lachen im Zentrum.)

so unterliegt es keinem Zweifel, dass Ihre Wählerschaft außerordentlich zahlreiche Arbeiter umfasst.

(„Hört! Hört!")

Kein Zweifel: Gerade nur dadurch, dass Sie durch Ihre Teilnahme an der Wahlreform der von den Konservativen versuchten Wahlverschandelung den trügerischen, aber unentbehrlichen Anschein einer gewissen Volkstümlichkeit verleihen, den Anschein, als ob diese Wahlreform wirklich Massen hinter sich hätte, gerade nur dadurch kann diese sogenannte Wahlreform überhaupt ermöglicht werden. Ihre Zustimmung ganz allein ermöglicht diese „Wahlreform", die in der Tat eine Wahlrechtsverschlechterung und ein Volksverrat ist.

Nachdem ich Ihnen meine Überzeugung dahin ausgesprochen habe, dass das Zentrum auch bei diesem Antrage wiederum ein ablehnendes Votum abgegeben hat, weil die Zustimmung der Konservativen nicht zu erreichen war; nachdem ich darauf hingewiesen habe, dass der Versuch einer Wahlrechtsreform mit den Konservativen nichts weiter bedeutet als eine vollständige Preisgabe jeglicher Wahlrechtsreform; nachdem ich betont habe, dass eine Wahlreform mit den Konservativen zu machen etwa dasselbe bedeutet wie den Bock zum Gärtner setzen oder den Schelmen zum Reiter, möchte ich in aller Kürze noch folgendes bemerken.

Meine Herren, die Herren vom Zentrum haben behauptet, dass sie in der Lage sein würden, der Masse ihrer Wähler draußen im Lande klarzumachen, dass hier eine wertvolle Wahlreform vorliegt. Meine Herren, das dürfte Ihnen schwerlich gelingen! Ich vermute, dass Sie das selbst genau genug wissen. Wir Sozialdemokraten werden den Herren vom Zentrum gern Rede und Antwort draußen im Lande stehen; wir werden sehen, wer in den Versammlungen den kürzeren zieht.

Dass Sie aber ein sehr schlechtes Gewissen bei Ihrer Stellungnahme haben, und zwar ein sehr schlechtes Gewissen gerade der breiten Masse Ihrer Wähler gegenüber, ergibt die eine Tatsache, dass Sie bereits beim Beginn der diesjährigen Etatberatung, als Sie vermutlich schon den Dolus für den gegenwärtig verübten Verrat besaßen,

(Lachen im Zentrum und rechts.)

anfingen, ganz ex abrupto, plötzlich zum Erstaunen der ganzen Welt einen gar nicht existierenden Kulturkampf in grausigen Farben an die Wand zu malen,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass Sie gegenwärtig überall im Lande herumziehen – wir wissen es aus eigener Anschauung, meine Herren – und ihre Agenten herumziehen lassen und religiöse Fragen in den Vordergrund der Diskussion stellen, um die Masse der Wähler durch allerhand religiöse Fragen zu verwirren

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

und von dem wesentlich abzulenken, was gegenwärtig das Interesse des Volkes erfordert. Meine Herren, diese Vertuschungs- und Verwirrungstaktik, die Sie gegenwärtig verfolgen, diese Taktik, das Wasser trübe zu machen, um mit größerer Sicherheit die Zentrumsfische in Ihre Netze einzufangen, wird Ihnen mit Hilfe der Aufklärungstaktik, die wir Sozialdemokraten im Lande rücksichtslos treiben und treiben werden, sicherlich fehlschlagen.

Mein Freund Ströbel hat schon darauf hingewiesen, dass Sie, wie überall, so auch in Bezug auf diesen Paragraphen6 gar keine Veranlassung gehabt haben, die Waffen zu strecken und dem ernstlichen Kampf, wenn es Ihnen darauf ankam, einen ernstlichen Kampf um Ihr Programm und die Interessen des Volkes zu führen, aus dem Wege zu gehen. Mein Freund Ströbel hat bereits betont, dass die Herren vom Zentrum alle Veranlassung gehabt hätten, sich an ihre Wählermassen zu wenden. Meine Herren, ich begreife nicht, dass die Herren vom Zentrum, die stets behaupten, eine Volkspartei zu repräsentieren, bevor sie in so gröblicher Weise gegen ihre eigenen programmatischen Forderungen verstoßen, sich nicht bei ihren Wählern die Zustimmung holen. So hätte jegliche wahre Volkspartei verfahren; sie würde nicht ihr Programm in Fetzen zerreißen und mit Füßen treten, wie Sie (nach dem Zentrum) es tun, sondern vorher wenigstens – – –

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Forsch: Herr Abgeordneter, Sie dürfen einer großen Partei nicht den Vorwurf machen, dass sie ihr Programm mit Füßen tritt. Ich muss Sie dringend bitten, sich in Ihren Ausdrücken zu mäßigen.

Liebknecht: Meine Herren, des weiteren unterliegt es gar keinem Zweifel, dass Sie, wenn Sie gewollt hätten, die Möglichkeit gehabt hätten, einen gewaltigen Volkssturm zu entfachen und Seite an Seite mit der Sozialdemokratie –

(Lachen rechts und im Zentrum.)

ja, meine Herren, die Mandate haben Sie von uns gerne genommen;

(Lachen im Zentrum.)

nun tun Sie, bitte, mal nicht so! Es ist Ihnen natürlich etwas despektierlich, an Ihre Vergangenheit erinnert zu werden, nachdem Sie in eine so aristokratische Nachbarschaft gerückt sind,

(Heiterkeit links.)

aber der „Ludergeruch der sozialdemokratischen Waffenbrüderschaft" wird immer an Ihnen haften bleiben.

Nun, meine Herren, es ist gar kein Zweifel, dass Sie sehr wohl in der Lage gewesen wären, sich derselben Kampfesmittel zu bedienen wie die Sozialdemokratie, und in der Lage gewesen wären, mit Hilfe dieser Kampfesmittel Ihren Willen, wenn er ernstlich gewesen wäre, durchzudrücken, auch in der Frage der geheimen Wahl mit allen ihren Konsequenzen.

Wenn Sie heute über die Straßendemonstrationen schreien, die die Sozialdemokratie veranstaltet, so ist sie ja nicht die erste große politische Partei, die Straßendemonstrationen gemacht hat; ich kenne eine andere große Partei (zum Zentrum)

(Widerspruch.)

die – zu den Zeiten des Kulturkampfs – auf die Straßen gezogen ist. Mit Recht ist Ihnen vorgehalten worden, dass Sie bereits die Erfahrung gemacht haben, dass eine Bewegung, wenn sie eine wahre und starke Massenbewegung ist, wenn sie auf der Begeisterung der Massen ruht, absolut unbesiegbar ist; mag sich auch die waffenstarrende preußische Regierung schützend vor das Unrecht, vor das preußische Dreiklassenwahlrecht, stellen; wenn die Zentrumspartei in demselben Sinne wie die Sozialdemokratie mit aller Begeisterung für den Kampf um das Reichstagswahlrecht, um das freie Wahlrecht eintreten würde, einem solchen Ansturm müssten die preußische Regierung und das Junkerregiment erliegen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn die Herren aber diesen Kampf als einen Massenkampf nicht wagen und nicht wollen, so ist das ein deutlicher Beweis dafür, dass es den Herren um die Reform des Wahlrechts überhaupt nicht zu tun ist.

Meine Herren, der Herrgott selbst ist ja sozialdemokratisch geworden! Das dürfte Ihnen vielleicht das wunderschöne Wetter beweisen, das wir zu den verschiedenen großen Demonstrationen in Preußen gehabt haben,

(Heiterkeit im Zentrum.)

das Wetter, das durchaus nicht den Wünschen entsprochen hat, meine Herren, mit denen Sie unsere sozialdemokratischen Demonstrationen begrüßt haben.

Meine Herren, es ist sicherlich kein Zweifel, Sie fühlen trotz der äußeren Siegeszuversicht, mit der Sie hier auftreten, dass Sie vor dem ganzen Lande gezeichnet sind. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Stimmung, die sich gegenwärtig im Volk draußen immer lebendiger zeigt, einer weiteren Steigerung fähig ist, und wir, die wir diese Volksstimmung kennen, wissen, dass diese Stimmung nicht etwa nur ein Strohfeuer ist, das übermorgen vorüber sein wird! Bilden Sie sich durchaus nicht ein, dass, wenn Sie jetzt hier Ihre Beute recht schnell unter Dach und Fach bringen, Sie damit der Gefahr entronnen seien, die Sie aus der gewaltigen Volksbewegung für sich hervorwachsen sehen! Das wäre ein schwerer Irrtum. Darüber dürfen Sie sich nicht dem geringsten Zweifel hingeben: Wenn es Ihnen gelingen sollte, den jetzt vorliegenden Entwurf durchzubringen, dann würde die Empörung im Volk nicht etwa abflauen, sie würde immer weiter aufgepeitscht werden.

Sie haben heute wiederholt gezeigt, dass Sie mit dröhnendem Gelächter sehr rasch bei der Hand sind. Sie tragen heute, am Schluss der Verhandlungen zweiter Lesung, eine sehr vergnügte und siegeszuversichtliche Haltung zur Schau. Es wird aber darauf ankommen, wer zuletzt lacht, und wir sind uns noch lange nicht darüber klar, dass Sie zuletzt lachen werden. Es wird auch in Preußen nicht ewig so sein, dass die Herren, die da meinen, ihre Macht für alle Ewigkeit auf der nackten Gewalt aufgebaut zu haben, die sich hinter die Kanonen und Flinten verkriechen, auch die Tyrannen und Despoten des Volkes bleiben.

Die Massenbewegung ist einmal im Gang, und wenn wir die Massen auf dem Lande, die unter Ihrer (nach rechts) Sklaverei leben, nicht so rasch gewinnen können für eine Massenbewegung wie die Massen in den Städten – die Massen in den Städten, auch die zur Wählerschaft des Zentrums gehören, sind der Agitation zugänglich, sie sind auch aufgeklärt genug, um sich durch falsche und verwirrende Vorspiegelungen nicht dauernd irreführen zu lassen.

Diese Wähler werden rasch darüber Klarheit gewinnen, dass die Zentrumspartei und alle Parteien, die gegen die Anträge der Linken gestimmt haben und an dem gegenwärtigen Kompromiss beteiligt sind, Feinde des Volkes sind, und es wird der Sozialdemokratie – das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel – gelingen, dafür zu sorgen, dass Sie, die Sie mit dem Brandmal des Volksverrats behaftet sind –

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Forsch: Herr Abgeordneter, ich rufe Sie zur Ordnung.

Liebknecht: auch draußen vor dem Lande in Ihrem wahren Charakter enthüllt werden. Sie glauben, hier im Abgeordnetenhaus ebenso wie in der Kommission die Geschicke des Volkes nach Ihrem Geschmack lenken zu können. Sie sollten erkennen, dass Ihnen die Zügel längst aus den Händen geglitten sind. Sie sollten wissen, dass die Wahlrechtsreform gegenwärtig bereits nicht mehr im Abgeordnetenhaus, sondern außerhalb des Abgeordnetenhauses vom Volke selbst gemacht wird.

(Lachen rechts.)

Lenken Sie noch rechtzeitig in die Bahnen ein, die dem Willen des Volkes entsprechen, ehe der Volkszorn dazu übergeht,

(Lachen rechts.)

die Wechsler und Feilscher und Schacherer, die in dem Tempel des Volkes hausen, aus dem Tempel heraus zu geißeln!

II

16. März 1910

Meine Herren, die Vertreter der Sozialdemokratie haben in diesem Hause wiederholt den Standpunkt vertreten, dass das gegenwärtig bestehende preußische Dreiklassenwahlrecht zu Unrecht besteht, weil es verfassungs- und gesetzwidrig zustande gekommen ist, dass infolgedessen der Kampf um ein demokratisches Wahlrecht, wie ihn die Sozialdemokratie und andere Parteien führen, nicht eigentlich bedeutet einen Kampf um eine Umgestaltung der gesetzlichen Grundlagen des preußischen Staates, sondern einen Kampf zur Wiederherstellung der staatsstreichlerisch zerstörten wesentlichen Grundlagen des preußischen Staates. Auf diesen grundsätzlichen rechtlichen Standpunkt ist von keiner Seite eingegangen. Wir dürfen hier sagen: qui tacit consentit – Sie haben unseren Standpunkt in dieser Beziehung durch Ihr Schweigen gerechtfertigt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist Ihnen ja auch vorgehalten worden, dass das Wahlrecht zur russischen Duma ein besseres Wahlrecht ist als das Wahlrecht zum preußischen Landtag, und zwar so, wie es jetzt ist, und so, wie es nach der Kompromissvorlage sein wird. In die russische Duma, die eine erheblich kleinere Zahl von Mitgliedern zählt als dieses Hohe Haus, sind 21 Sozialdemokraten, 21 Arbeitervertreter, gewählt worden. Dabei hat es der russische Staat, der russische Zarismus nötig gehabt, zwei Staatsstreiche zu verüben, um ein solches Wahlrecht zustande zu bringen, das, wie ich eben gezeigt habe, im Schlussresultat noch erheblich besser ist als das Wahlrecht, das vermöge des einmaligen Staatsstreiches von 1849 dem preußischen Volke oktroyiert worden ist. Meine Herren, aber auch in Preußen geht es voran, und es unterliegt keinem Zweifel, dass auch für Preußen das Wort gilt:

Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,

und neues Leben blüht aus den Ruinen."

Sogar diejenige Partei, die hier stets als ein Fels gegolten hat, an dem alle Umsturzfluten abprallen, die Partei der Konservativen, ist in eine Unsicherheit geraten, die in der Tat, wie mir scheint, in der Geschichte fast einzig dasteht, eine Unsicherheit, die sich vielleicht nur noch vergleichen lässt mit der Unsicherheit der Vorfahren der preußischen Herren Junker in den Zeiten von Jena und Auerstädt.

Es ist von verschiedenen Seiten betont worden, sowohl von Seiten des Herrn Ministerpräsidenten wie von den Führern der großen Parteien, dass man den Ernst der Situation wohl verstanden habe. Meine Herren, ich bezweifle, dass Sie den Ernst der Situation wirklich vollständig begriffen haben. Sie fassen den Ernst der Situation, von dem Sie reden, als den Ernst einer parlamentarisch verzwickten Situation auf und sehen nicht ein, dass es sich um den Ernst einer allgemeinen innerpolitischen Krise erster Ordnung handelt, einer Krise von einer Bedeutung, die sich in der Tat wohl mit jeder Krise messen kann, die jemals irgendein Staatswesen durchgemacht hat.

Meine Herren, wir sind ja bei dem parlamentarischen Handelsgeschäfte, das hier während der Verhandlungen dieses Hohen Hauses fortwährend propagiert worden ist, nicht unmittelbar beteiligt. Wir sind die lachenden Dritten bei diesem Handelsgeschäft.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir können auch dem Herrn Abgeordneten Dr. Friedberg gut und gern bestätigen, dass die Behauptungen der „Kölnischen Volkszeitung" über unser freund-nachbarliches und geschäftsmäßiges Zusammenarbeiten durchaus aus der Luft gegriffen sind. Wir haben den Herren Nationalliberalen niemals einen Zweifel darüber gelassen, dass wir sie nicht für diejenige Partei halten, mit der wir irgendwie zusammenarbeiten könnten. Wenn sich hie und da ein paralleles Handeln zwischen uns und den Nationalliberalen ergeben hat, so war das eben ein paralleles Handeln, das aus der Notwendigkeit für mehrere Parteien resultierte, in der gleichen Situation Gleiches zu tun.

Meine Herren, wenn wir aber auch nicht an dem Handel beteiligt sind, der ja soeben wieder in diesem Hause vor unseren Augen so eifrig betrieben wird, dass man wirklich schon meinen kann, im großen Saal der Berliner Börse und nicht im Abgeordnetenhause zu sein – meine Herren, wenn wir auch an diesem Handel nicht unmittelbar beteiligt sind, so sind wir doch wohl berechtigt, im Namen der Millionen, die draußen im Lande hinter uns stehen, Sie noch einmal zu warnen vor dem letzten, vor dem ernstesten Schritt, um den es sich im gegenwärtigen Moment handelt.

Meine Herren, ich will mit wenigen Worten auf den Charakter der Vorlage, wie sie gegenwärtig gestaltet ist, eingehen. Die Thronrede vom 20. Oktober 1908 hat eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts verheißen, entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung, entsprechend der Ausbreitung der Bildung, entsprechend der Ausbreitung des politischen Verständnisses und entsprechend der Verstärkung des staatlichen Verantwortungsgefühls.

Meine Herren, wenn ich zunächst einmal in kurzem den Standpunkt, den wir und mit uns Millionen einnehmen, scharf charakterisieren soll, so behaupte ich, dass die Herren, die gegenwärtig die Mehrheit in diesem Hause bilden und die im Begriff stehen, das Wahlrechtskompromiss zustande zu bringen – dass diese Herren, wenn man die Worte der Thronrede in einem verständigen Sinne auffasst, ihres Wahlrechts verlustig gehen müssten und dass an dessen Stelle ein demokratisches Wahlrecht der breiten Massen des Volkes treten müsste. Denn gerade bei den breiten Massen des Volkes trifft alles dasjenige zu, was nach der Thronrede als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts gelten soll. Meine Herren (nach rechts), insbesondere das politische Verantwortlichkeitsgefühl streiten wir Ihnen mit allem Nachdruck ab;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie handeln nicht wie Männer, die sich ihrer politischen Verantwortung bewusst sind,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie, die Sie im Begriff stehen, das Volk durch Ihre Halsstarrigkeit, durch die Rücksichtslosigkeit, mit der Sie an Ihren Privilegien festhalten, in die schwersten inneren Konflikte zu treiben. Die Herren, die Triarier Seiner Majestät, deren Liebe zur Majestät der „Simplizissimus" in die klassische Formel gebracht hat:

Wir bitten dich, du großer Hort,

um ein gebroch'nes Fürstenwort!"

sind es ganz gewiss nicht, die, wenn sie an ihrer bisherigen Politik festhalten, dem Heil des preußischen Volkes dienen werden.

Das Fazit der zweiten Lesung ist nicht wesentlich verschieden von dem Ergebnis der Kommissionsberatung. Insbesondere ist die Frage des geheimen Wahlrechts mit Rücksicht darauf, dass in Bezug auf das indirekte Wahlrecht wesentliche Änderungen nicht getroffen sind, genauso verschandelt, wie es nach der Kommissionsvorlage gewesen ist. Herr von Zedlitz hat zutreffend in einem Artikel im „Tag" konstatiert, dass diese Art der Gestaltung des geheimen Wahlrechts vom realpolitischen Geist der Konservativen zeuge; denn es sei kein Zweifel, dass die Konservativen überall dort die geheime Stimmabgabe in ihren Wirkungen beseitigt hätten, wo sie ihnen nachteilig hätte sein können. Das ist die Tatsache, über die auch die Herren vom Zentrum nie und nimmer hinwegkommen werden, dass das geheime Stimmrecht gerade gegenüber den Konservativen nicht gegeben ist, dass den Konservativen ihre Machtstellung nach diesem „Reform"vorschlag auch weiterhin garantiert ist und werden soll.

Meine Herren, der Abgeordnete von Zedlitz hat, ähnlich wie er es bereits im „Tag" getan hat, auch heute wiederum das geheime Wahlrecht, wie es durch den Kompromiss zustande gebracht worden ist, als so abgeschwächt bezeichnet, dass es in seinen schädlichen Wirkungen im Wesentlichen aufgehoben sei. Nachdem die Herren vom Zentrum eine solche Bestätigung aus dem Munde eines, wie man ihn wohl häufig bezeichnet, Scharfmachers von der Art des Freiherrn von Zedlitz erhalten haben, sollten sie nicht mehr darüber im Zweifel sein, dass die Wahrheit über den Charakter dieses mit ihrer Hilfe gewährten geheimen Wahlrechts auch den breitesten Massen der Bevölkerung beigebracht werden kann.

Die Dreiklassenteilung bleibt, das heißt, der Geldsack regiert nach wie vor, die Ausbeutung regiert nach wie vor. Das Recht, in der ersten Wählerklasse wählen zu dürfen, ist eine Prämie auf die Ausbeutung der Mitmenschen; natürlich dokumentiert sich darin auch eine gottgewollte Nächstenliebe. Sie werden das wahrscheinlich bezeichnen als eine organische Fortentwicklung, entsprechend der Entwicklung des Verantwortlichkeitsgefühls und des Wirtschaftslebens. Die Wahlkreiseinteilung ist die alte geblieben Die rückständigen Gutsbezirke regieren nach wie vor die Städte. Das nennen Sie wohl eine organische Fortentwicklung, entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung und der fortschreitenden Bildung. Und wenn das indirekte Wahlrecht aufrechterhalten geblieben ist, diese Schönheit, die hier so oft charakterisiert ist, so bedeutet das nichts weiter als die Herrschaft der Gewalt, des Terrorismus auf den weitesten Gebieten des preußischen Landes; Sie werden wahrscheinlich geneigt sein, das als einen Fortschritt, entsprechend der Fortentwicklung des politischen Verantwortlichkeitsgefühls, zu bezeichnen.

Herr von Zedlitz hat bei der Beratung der Kommission das Wort aus dem Zaum seiner Zähne entfliehen lassen, die Drittelung in den Urwahlbezirken sei deswegen so ungerecht, weil sie dazu führe, dass in gewissen Bezirken die wohlhabenden Kreise der Bevölkerung in die dritte Wählerklasse hinabgestoßen würden und dort in der Masse der Wähler absolut rechtlos würden.

Es ist uns hier vorgespiegelt worden, als ob Sie alle nicht recht einsehen wollten, dass die Wähler der dritten Klasse gegenüber den Wählern der anderen Klassen entrechtet seien. Aus den Worten des Herrn von Zedlitz geht deutlich hervor, dass die Herren, wenn sie selbst in die Lage kommen, in die dritte Wählerklasse hinabzusteigen, sofort merken, wie rechtlos sie geworden sind.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Was die von den Anhängern des gleichen Wahlrechtes, den Herren vom Zentrum, ganz aus freien Stücken in die Vorlage hinein gebrachte Privilegierung der Akademiker anbelangt, so darf ich mir wohl erlauben, darauf hinzuweisen, dass dieses Privileg nicht gerade solche Kreise trifft, die man als politisch besonders tüchtig und reif bezeichnen könnte. Dass eine Examensnote weit davon entfernt ist, politische Bildung und Erfahrung zu garantieren, darüber herrscht nicht der geringste Zweifel. Gerade die Akademiker sind vielfältig geneigt, in ihrer politischen Haltung hin und her zu irrlichten, weil sie etwas abseits von den großen politischen Kämpfen stehen. Meine Herren, es soll eine Art Leibgarde der Hohenzollern – Sie wissen ja, dass die Professoren so bezeichnet worden sind – privilegiert werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn Sie die Stellung, die von der Wissenschaft leider gar vielfältig gegenüber den politischen Machthabern eingenommen wird, gekennzeichnet sehen wollen, dann empfehle ich Ihnen allen, einmal in die neue Königliche Bibliothek in Berlin zu gehen und sich dort die Bilder von Arthur Kampf anzusehen. Da können Sie sehen, wie es dieser Künstler – vielleicht hat er dabei auf höheren Befehl gehandelt – fertiggebracht hat, die angesehensten Gelehrten der Zeit Friedrichs II. in einer Stellung vor dem Könige zu zeichnen, die in der Tat geradezu als ein Katzbuckeln bezeichnet werden muss; in einer so unwürdigen Haltung, dass ein mir befreundeter Russe, als er dieses Bild zum ersten Male gesehen hatte, voll Erstaunen zu mir gelaufen kam und sagte: Was für ein abscheuliches Bild haben Sie da in Ihrer Königlichen Bibliothek! Sind denn das Lakaien, diese Professoren, die da mit ihren Bücklingen vor dem Könige gemalt sind?

Meine Herren, das ist also das Privilegium der Akademiker. Sie können versichert sein, dass den Arbeitern, die Anhänger des Zentrums sind, das Verständnis für diese Privilegierung gründlichst abgehen wird und dass diese vom Zentrum aus eigener Initiative hinein gebrachte Verschlechterung des Gesetzes in allen Gebieten, wo das Zentrum gegenwärtig seine Machtstellung besitzt, ein wirksames Agitationsmittel sein wird.

(Lachen im Zentrum.)

Meine Herren, man hat sich ja nun unterfangen – den Beginn damit hat ja in unserem Falle der Herr Ministerpräsident gemacht –, die Dreiklassenschmach gewissermaßen unter göttlichen Schutz zu stellen. Alle die Abhängigkeiten, die in dem Dreiklassen-Wahlrecht enthalten sind und die Sie jetzt konservieren wollen, sind unter die Autorität des göttlichen Willens gestellt, werden bezeichnet als gottgewollte Realitäten, als gottgewollte Abhängigkeiten. Meine Herren, ist es nicht eine schnöde Blasphemie, gerade hier bei dieser schnöden Entrechtung den Christengott anrufen zu wollen zum Zeugen und zum Schildträger?

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, ich möchte Sie doch bitten, dieses Thema etwas zarter zu behandeln.

(„Sehr richtig!")

Liebknecht: Es muss wohl möglich sein, einer Partei, die in dem Maße, wie es das Zentrum tut, als konfessionelle Partei auftritt, als Vertreterin des Christentums – es muss möglich sein, einer solchen Partei vorzuhalten, in welcher Weise sie der Masse der Bevölkerung den Willen ihres Gottes darstellt, in einem Augenblick, wo man sich anschickt, die Interessen des Volkes zu verraten.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es muss möglich sein, dem Zentrum hier zu sagen, dass, wenn es selbst oder wenn es die ihm verbündete Partei in der Tat wagt, sich zur Erhaltung des gegenwärtigen preußischen Wahlrechts auf den Willen Gottes zu berufen, dass das Zentrum damit vom Standpunkte seiner eigenen Anschauungen aus eine schwere und böse Blasphemie begeht oder doch unterstützt.

(Lachen im Zentrum.)

Im Vergleich zu der Behauptung, dass alle diese Ungerechtigkeiten gottgewollte Abhängigkeiten seien, ist ja der Anspruch, den unsere Fürsten erheben, von Gottes Gnaden zu sein, außerordentlich bescheiden, denn die Fürsten behaupten nur, dass die Gnade Gottes sie eingesetzt habe; hier wird aber behauptet, dass alle diese schnöden Ungerechtigkeiten dem Willen Gottes entsprungen seien.

Meine Herren, ich frage Sie: Wo ist in den ganzen Verhandlungen über dieses so ungemein wichtige Gesetz, auf dessen Gestaltung nicht nur das preußische Volk, sondern ganz Deutschland und, darf ich sagen, die ganze zivilisierte Welt mit äußerster Spannung und Erregung sieht, wo ist da auch nur ein einziges Mal ein großer Zug gewesen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

wie es an der Zeit gewesen wäre, wenn die Herren ihren Pflichten nachgekommen und des historischen Moments sich bewusst gewesen wären? Millionen von Menschen stehen, bildlich gesprochen, vor der Pforte dieses Hauses und warten und harren des Rechtes, das ihnen hier gewährt werden soll. Und hier wird gehandelt und gefeilscht und geschachert um ein Fraktionsinteresse,

(Unruhe.)

um eine Mark, um ein paar Pfennige; es ist eine wahre Schacherbude geworden, ein wahrer Mühlendamm, es ist eine wahre Trödelbude geworden, dieses Abgeordnetenhaus.

(Erregte Zurufe und Unterbrechungen rechts und im Zentrum. – Glocke des Präsidenten. – Andauernde Bewegung.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung wegen dieser groben Beschimpfung des Abgeordnetenhauses.

(Andauernde erregte Zurufe. – Glocke des Präsidenten.)

Meine Herren, ich bitte um Ruhe, und ich bitte den Herrn Redner, fortzufahren.

(Große Unruhe.)

Ich muss Sie aber ersuchen, die Gefühle des Hauses nicht auf das Äußerste zu reizen. Ich bitte Sie also, sich zu mäßigen.

(Erneute andauernde Erregung und Zurufe.)

Meine Herren, ich bitte um Ruhe – ich muss dringend um Ruhe bitten. Ich kann es vollständig verstehen, dass die Herren sehr erregt sind; ich bitte Sie gleichwohl, vollständig ruhig zu bleiben, damit der Herr Redner seine Rede fortsetzen kann.

(Erneute erregte Zurufe und Gegenrufe bei den Sozialdemokraten.)

Herr Abgeordneter Hirsch, Sie haben eben eine Äußerung anscheinend über Mitglieder dieses Hauses getan, die ich nicht durchgehen lassen kann.

(Zuruf des Abgeordneten Hirsch-Berlin.)

Nein? Dann habe ich Sie missverstanden.

Liebknecht: Ich habe wiederholt gehört, dass mir das Wort Unverschämtheit zugerufen wurde.

Vizepräsident Dr. Porsch: Wenn ich das von einzelnen bestimmten Herren gehört hätte und mir das nachgewiesen wäre, würde ich das selbstverständlich rektifiziert haben. Sie (zum Abgeordneten Dr. Liebknecht) haben das Recht, frei zu sprechen. Ich muss Sie allerdings bitten, die Gefühle des Hauses zu schonen.

Liebknecht: Meine Herren, Herr Abgeordneter von Richthofen hat offenbar gemeint, durch die wiederholte Betonung seiner außerordentlichen Bildung die Überzeugung wecken zu können, dass der Passus der Thronrede, nach welchem das Wahlrecht der Bildung entsprechend verteilt werden solle, es durchaus rechtfertige, wenn die Herren von der Konservativen Partei ein so außerordentlich privilegiertes Wahlrecht besitzen. Ich glaube, man darf mit Recht betonen, dass dieses unausgesetzte Herumreiten des Herrn von Richthofen auf seiner Bildung doch, ich möchte sagen, einen etwas parvenühaften Eindruck macht und dass man aus seinen gespreizten Äußerungen wohl eher schließen kann, dass in den Kreisen, in denen er zu verkehren pflegt, eine Bildung auch nur solcher Art, wie er sie besitzt oder zu besitzen vermeint, als eine große Ausnahme erscheint. In wirklich gebildeten Kreisen pflegt man von seiner Bildung nicht so viel Wesens und Aufsehens zu machen, wie es Herr von Richthofen getan hat.

Meine Herren, Sie müssen auf die Dauer doch die große Masse des Volkes auf Ihrer Seite haben, wenn Sie Ihre Stellung im preußischen Staate aufrechterhalten wollen, und es wird Ihnen auf die Dauer doch unmöglich sein, gegen ein innerlich längst von der Tyrannei der herrschenden Klassen, der herrschenden Parteien in Preußen befreites, aufgerütteltes und seiner selbst bewusstes Volk gegen seinen eigenen Willen zu regieren. Meine Herren, man hat meinem Parteifreund Hirsch, als er das Wort „leider" dazwischen warf, als man von der Vormachtstellung Preußens im Reich sprach, einen schweren Vorwurf gemacht. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass mancher große deutsche Mann, auf den alle Parteien dieses Hauses sicherlich mit Stolz blicken, in dieser Richtung einen ähnlichen Standpunkt eingenommen hat, wie ihn heute meine Freunde einnehmen. Ich will Sie nicht an die Zeilen erinnern, die der Dichter Herwegh über Preußen gedichtet hat, an die Zeilen von der verfluchten Preußensuppe, die niemand gern fressen will. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass es ein Winkelmann gewesen ist, der da erklärt hat, dass es das Beste für ihn und alle diejenigen, welche in diesem unglücklichen preußischen Lande eine schwere und erstickende Luft schöpfen, wäre, wenn sie aus diesem Lande herauskämen oder sterben würden; er führt aus: „Auf Preußen drückt der größte Despotismus, der je erdacht ist,

(Lachen rechts.)

ich denke mit Schaudern an dieses Land!"

(Lachen und Zurufe rechts.)

Es ist leider nicht besser geworden; das ist ja eben die ganze preußische Misere, dass es heute noch geradeso ist, wie es vor 150 Jahren war. – Und, meine Herren, er schließt damit: „Lieber ein beschnittener Türke als ein Preuße sein." Und es war kein anderer als Lessing, der Preußen als das sklavischste Land der Erde bezeichnet hat.

(Erneute Zurufe rechts.)

Wenn es auch schon 150 Jahre her ist, so können Sie versichert sein, dass auch heute noch von manchen Leuten, die Sie als die Leuchten der Wissenschaft und der Kunst bezeichnen, ähnliche Urteile über Preußen gefällt werden; Sie brauchen nur einen Schritt über die schwarzweißen Grenzpfähle hinauszugehen, und Sie werden derartige Urteile ganz unverblümt in Masse hören.

Meine Herren, es wird Ihnen auf die Dauer unmöglich sein, gegen ein Volk zu regieren, das in dieser Weise gegen Sie und Ihre Privilegienherrschaft aufgerüttelt und aufgeregt ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Man hat der Sozialdemokratie den Vorwurf machen wollen, als ob sie es sei, die in künstlicher Weise die Erregung des Volkes aufgepeitscht habe.

(„Sehr richtig!" rechts.)

Meine Herren, wir sind die wahren Waisenknaben in der Agitation und Demagogie im Vergleich zu den herrschenden Klassen.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Darf ich mir erlauben, Ihnen eine Autorität, die Autorität des großen Dichterphilosophen Nietzsche, zu zitieren? Er sagt über die Beredsamkeit – und im Allgemeinen pflegt ja die Agitation durch Beredsamkeit geübt zu werden –:

Wer besaß bis jetzt die überzeugendste Beredsamkeit? Der Trommelwirbel. Und solange die Könige (die herrschenden Klassen) diesen in ihrer Gewalt haben, sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler."

Ja, meine Herren, mit diesem Trommelwirbel, mit Hilfe der Gewalt und mit Hilfe der Verführung, die Sie durch den Trommelwirbel und all das Bunte und Glitzernde, an Augen, Ohren und alle Sinne Dringende des Militarismus veranstalten, dadurch schon sind Sie Demagogen und Agitatoren von weit größerer Geschicklichkeit und Wirksamkeit, als jemals irgendwelche sozialdemokratischen Agitatoren sein könnten,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

aber Agitatoren freilich, die dem Volke höchst schädlich sind, weil sie die Agitation und Demagogie gegen die Interessen des Volkes, im Interesse der Aufrechterhaltung einer Minderheitsherrschaft, betreiben. Meine Herren, wenn die Sozialdemokratie in der Tat gegenwärtig einen so gewaltigen Anhang aufgeregter und ihrer Interessen bewusster Volksmassen hinter sich hat, so ist das nicht ein Verdienst der Sozialdemokratie und nicht ein Verdienst irgendwelcher Agitation, so ist das eine Wirkung der geistigen Hebung dieser Massen, ein Verdienst des Selbstbewusstseins dieser Massen, es ist ein Beweis für die politische Reife dieser Massen, die aus eigenem Impuls heraus, spontan, in ihrer Erregung gegenwärtig so weit gehen, wie Sie es zu Ihrem Schrecken allenthalben beobachten. Meine Herren, zu Ihrem Schrecken, darf ich wohl sagen.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, lachen kann man immer, auch aus Angst und auch, um seine wirkliche Ängstlichkeit zu verbergen; also Ihr Lachen beweist mir gar nichts, Ihre Handlungsweise nur beweist mir etwas, und darauf werde ich zu sprechen kommen.

Meine Herren, eine Volksvertretung unter Polizeischutz! Wissen Sie denn nicht, dass heute, wie an allen Tagen der Wahlrechts-Verhandlungen, in dem Museum, dem Hause gegenüber, ein ungeheures Schutzmannsaufgebot konsigniert ist, ein Schutzmannsaufgebot, das jeder beobachten kann, der etwa eine Viertelstunde nach Beendigung der Sitzung in den Torweg hineinblickt, ein Schutzmannsaufgebot mit zahlreichen Offizieren und mit einer großen Zahl von Wachtmeistern und Mannschaften! Eine Volksvertretung, die es für nötig hält, sich unter Polizeischutz zu begeben gegen die Liebe des Volkes,

(„Na! Na!")

ist eine gar absonderliche Erscheinung.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Liebe des Volkes würde Ihnen gegenüber allerdings ein bisschen sadistisch ausfallen, wenn es dazu kommen sollte.

Und, meine Herren, denken Sie doch an dieses andere Bild: Volksvertreter, denen direkt der Rat gegeben wird, sich heimlich durch eine Hinterpforte hier in dieses Haus hinein zu stehlen, damit sie, diese Herren Volksvertreter, nicht von dem Volke gesehen und „begrüßt" werden, dessen Ansammlung vor dem Haupteingang besorgt wurde. Gewiss, ein Bild für Götter! Ja, meine Herren, das ist eine Volksvertretung, die sich offenbar wirklich des Vertrauens der Massen draußen im vollen Umfange bewusst ist, daran kann ja doch wohl gar kein Zweifel sein!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, dass die Demonstrationen spontan entstanden sind, beweist Ihnen jetzt jeder einzelne Tag. Die Massen sind allenthalben über ganz Preußen hinaus auf den Beinen, und es vergeht kein Tag, kann man sagen, ohne Demonstrationen, die stets friedlich verlaufen, wenn die Polizei es nicht für nötig hält, in ungeschickter Weise einzugreifen. Meine Herren, auf die göttliche Komödie, die am vergangenen Sonntag vor acht Tagen hier in Berlin und Treptow aufgeführt worden ist, brauche ich hier nicht noch einmal einzugehen.7 Es ist ja ein unsterbliches Lachen durch die ganze Welt gegangen über die unsägliche Blamage, die sich der Berliner Polizeipräsident hierbei zugezogen hat. Aber, wenn Sie etwa aus Mitleid mit dem in so bedauernswerter und unglücklicher Weise versetzten Berliner Polizeipräsidenten, der so versetzt worden ist, wie nur jemals ein kleines Mädchen versetzt werden könnte,

(Lachen.)

sich dazu verleiten lassen sollten, etwa nun mit scharfen Angriffen und mit Verdächtigungen gegen die Demonstranten vorzugehen, so darf ich demgegenüber auf allerhand Zeugnisse hinweisen, die Sie sicherlich auch in der Presse verfolgt haben, die freilich in der von Ihnen bevorzugten Presse wohl nicht vermerkt worden sind, weil man es dort für gut hält, sie totzuschweigen. Ich darf Sie nur daran erinnern, dass diese angeblichen Radaubrüder, wie Sie so gern die Demonstranten zu bezeichnen pflegen, am letzten Sonntag, als ihrem Zuge ein Leichenzug, ein Leichenwagen begegnete, in einer Weise verstummten, die die Mitglieder der bürgerlichen Parteien frappierte und zur Hochachtung vor der Disziplin und der Anständigkeit, der edlen inneren Gesinnung dieser Massen veranlasste, zu einer Hochachtung, die Ihnen sicherlich sehr unangenehm, hoffentlich sehr unangenehm ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich darf Sie weiter daran erinnern, dass der Umzug der Demonstranten, der am Sonntag vor acht Tagen hier in der Schmidstraße in Berlin stattfand und bei dem es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, auch gerade dadurch das allgemeine Erstaunen und allgemeine Bewunderung erweckt hat, dass er, als er in die Nähe des Krankenhauses Bethanien kam, sofort verstummte und dass dafür gesorgt wurde, dass an dieser Stelle auch nicht ein einziger Ruf aus der Masse mehr laut wurde. Das sind die Radaubrüder, von denen Sie sprechen. Leute, die sich so in der Gewalt haben, die sich so diszipliniert haben, sind besser diszipliniert als die Treptower Kosaken, besser diszipliniert als die herrschenden Klassen. Diese Massen sind imstande, unter Einhaltung aller Verpflichtungen, die die Humanität ihnen auferlegt, ihre Interessen, ihre heiligsten Interessen mit Nachdruck, Rücksichtslosigkeit und höchster Opferfreudigkeit zu verfolgen. Seien Sie sich darüber klar, gegen ein solches Volk, wenn es gegen Sie tief ernstlich erregt und empört ist, können Sie auf die Dauer nicht regieren.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie können mit einem solchen Volk nicht regieren nach innen und nicht nach außen. Sie sind nicht imstande, die innere Sicherheit aufrechtzuerhalten, und mögen Sie noch so viele Trommelwirbel, noch so viele Kanonen, Flinten, Säbel, Polizeipferde und Polizeihunde zur Verfügung haben. Mit Gewalt lässt sich auf die Dauer kein selbstbewusstes Millionenvolk regieren, darüber müssen Sie sich klar sein. Was die äußere Sicherheit des Staates darunter leidet, wenn jeder Mann außerhalb Deutschlands, alle diejenigen, die Sie so gern als Feinde Deutschlands bezeichnen, hören, sehen und tagtäglich lesen, wie in Preußen eine Regierung und Parteien am Ruder sind, die von der ungeheuren Masse des Volkes im äußersten Maße gehasst werden – glauben Sie, dass das dazu beiträgt, die Machtstellung Deutschlands zu sichern?

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn Sie nicht rechtzeitig einlenken, gefährden Sie nicht nur den inneren, sondern, von Ihrem Standpunkt, auch den äußeren Frieden Deutschlands.

Eine Petition, die zweifellos die innere Logik für sich hat – sie ist dem Hause von einigen Volksversammlungen in Remscheid und Solingen vorgelegt worden –, verlangt, dass denjenigen Wählern, die durch die Einreihung in die dritte Wählerklasse tatsächlich, um mit jenem Worte des Herrn Freiherr von Zedlitz zu sprechen, absolut entrechtet werden, auch nicht zugemutet werden soll, der Militärpflicht zu genügen. Es ist eine Pflicht der Gerechtigkeit, dass man denjenigen, denen man das wichtigste politische Recht vorenthält, nun auch die wichtigste politische Pflicht, die Militärpflicht, von den Schultern nimmt.

Ich möchte mich kurz zu der taktischen Position äußern, die sich gegenwärtig hier im Parlament ergeben hat.

Seien wir uns doch klar: Die denkwürdige Sitzung vom vergangenen Freitag hat in blitzartiger Weise die Stellung der Konservativen Partei zu der Wahlrechtsreform enthüllt. Die Rede des Abgeordneten von Heydebrand und die Abkommandierung gegenüber dem eigenen Antrag der Konservativen, also dieser Selbstmord, den die Konservativen an ihrem Antrag begangen haben, können sich nur aus zwei Gründen erklären. Entweder daraus, dass die Herren Konservativen durch die ganze Schwierigkeit der innenpolitischen Situation und auch der Parteikonstellation hier in diesem Hause bereits so windelweich geprügelt sind, dass sie nicht mehr ein und aus wissen und die volle Kontenance verloren haben. Oder daraus, dass sie überzeugt sind: Die gegenwärtig von ihnen mitgemachte Wahlreform ist für sie so vorzüglich und entspricht ihren Wünschen so sehr, dass sie ein höchst lebhaftes und positives Interesse an ihrem Zustandekommen haben, obwohl sie nach außen die Miene der Entsagung zur Schau tragen, die auch heute wieder von dem Abgeordneten von Heydebrand aufgesetzt worden ist. Diese Miene der Entsagung ist so unglaubhaft wie möglich, und Sie können versichert sein, das Verständnis im Volk draußen für die wahre Stellung der Konservativen Partei zu dieser Wahlreform kann durch derartige Manöver in gar keiner Weise abgeschwächt werden.

Jedenfalls ergibt die Haltung der Konservativen am vergangenen Freitag, wo selbst ein so kühler und nüchterner Taktiker wie der Abgeordnete von Heydebrand die Fassung verloren hat, in einen Augenblick der Verwirrung hineingeraten ist, dass sich die Herren von der Konservativen Partei absolut nicht sicher fühlen und absolut nicht wohl fühlen in ihrer Haut. Das ist für die Beurteilung der Zentrumstaktik ungeheuer wichtig.

Und, meine Herren, weiter: Die Herren vom Zentrum sind ja auch so außerordentlich unsicher. Ich brauche nicht zu rekapitulieren den Hinweis darauf, dass schon die ganze deplatzierte Kulturkampfpaukerei, die wir hier in diesem Hause zu beobachten Gelegenheit hatten und die im Lande draußen noch eine viel größere Rolle spielt als hier im Hause, auf das Deutlichste beweist, wie es diese Partei für notwendig hält, mit allerhand kleinen taktischen Manövern dafür zu sorgen, dass die Masse der Wähler kein klares Bild der politischen Situation bekommt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich darf darauf aufmerksam machen, dass vor kurzem in der „Kölnischen Volkszeitung" eine Kritik des Herrn Ministerpräsidenten wiedergegeben war, in welcher dem Herrn Ministerpräsidenten zum Vorwurf gemacht wurde: er sei offenbar nicht genügend Taktiker und bilde sich ein, zu viel mit den Befehlen zu erreichen, er wisse noch nicht, dass man durch allerhand schlaue Tricks viel eher in die Lage komme, die Massen des Volkes, ohne sie gewaltsam zu zwingen, ohne ihnen zu befehlen, auf seine Seite zu bringen. Meine Herren, mit diesen schlauen Tricks arbeiten Sie gegenwärtig in ganz intensiver Weise. Im Übrigen ist aber die Unsicherheit der Herren vom Zentrum auf das aller deutlichste ersichtlich aus einer Publikation der „Germania", die ich Ihnen hier vortragen will. Unter der Überschrift „Kann die Regierung auch jetzt noch neutral bleiben?" erklärt die „Germania":

Wir halten es für ihre unabweisbare Pflicht, offen für die Beschlüsse zweiter Lesung einzutreten und den unentschlossenen Elementen auf der Linken zu zeigen, dass sie auf die Hilfe der Regierung nicht bauen dürfen."

Meine Herren, wer erkennt nicht, dass dieser Hilferuf der Herren vom Zentrum

(Heiterkeit im Zentrum.)

nach der Regierung und mit Hilfe der Regierung nach den übrigen Parteien dieses Hauses, insbesondere den Nationalliberalen und vielleicht den Freikonservativen, auf eine große innere Unsicherheit schließen lässt!

(Heiterkeit im Zentrum.)

Meine Herren, Sie können ganz sicher sein,

(Erneute Heiterkeit.)

Sie können versichert sein, meine Herren, dass Ihre Wähler draußen im Lande klug genug sein werden einzusehen, dass jede Wahlrechtsreform, die mit den Konservativen gemacht wird, das Gegenteil einer Wahlrechtsreform sein muss.

(Heiterkeit.)

Ihre Wähler werden stets begreifen, wie ich Ihnen vorgestern bereits ausgeführt habe, dass eine Wahlrechtsreform entweder eine Wahlrechtsreform gegen die Konservativen sein muss oder nicht sein wird. Das ist ein so einfaches Exempel, das ist so klar aus der ganzen politischen Situation in Preußen ersichtlich, dass hier in dem Kampf um die Seelen der Wähler die Sozialdemokratie gegenüber dem Zentrum ganz gewiss den kürzeren nicht ziehen wird.

(Heiterkeit im Zentrum.)

Das kann ich Ihnen garantieren. Glauben Sie denn, dass die Massen Ihrer Wähler sich derartig mit einem Windei hineinlegen lassen werden, das Sie ihnen bescheren wollen, oder, besser gesagt, mit dem faulen Ei, das Sie ihnen ins Nest setzen wollen?

(Heiterkeit.)

Nichts anderes ist ja diese ganze Wahlrechtsreform.

Meine Herren, die Sehnsucht der verschiedensten Parteien dieses Hauses, insbesondere der Herren Konservativen und – wenn ich eine unausgesprochene, aber darum nicht minder innige Sehnsucht hier aussprechen soll – die Sehnsucht auch der Herren vom Zentrum nach der Mitarbeit ihrer Erzfeinde, der Nationalliberalen,

(Heiterkeit.)

diese Sehnsucht der Herren vom Zentrum und der Herren Konservativen ist nichts anderes, meine Herren, als die Sehnsucht nach weiteren Komplizen und Mitschuldigen an dieser Schandarbeit!

(Lebhafte Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Krause-Königsberg: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie wegen dieser Beleidigung großer Parteien dieses Hauses zur Ordnung. Gleichzeitig mache ich Sie auf die geschäftsordnungsmäßigen Folgen dieses zweiten Ordnungsruf es aufmerksam.

Liebknecht: Die Herren denken offenbar, dass gemeinsame Schuld nur halbe Schuld sei, und wünschen infolgedessen, auch die Nationalliberalen auf ihrer Seite zu haben. Die Intensität, mit der man auch heute wiederum versucht hat, das Liebeswerben um die Nationalliberalen fortzusetzen, erinnert lebhaft an das jetzt überall soviel gesungene Lied:

Man steigt nach, man steigt nach,

und das hilft, und das hilft dann und wann."

Bisher hat es noch nicht geholfen. Vielleicht wird es noch helfen. Wir legen unsere Hand für die Herren Nationalliberalen nicht ins Feuer, so unvorsichtig werden wir nicht sein. Aber immerhin dürfen wir mit einer gewissen Befriedigung darauf hinweisen, dass heute die Erklärung des Herrn Abgeordneten Dr. Friedberg, wenn sie auch sehr diplomatisch gehalten war, noch kein Kompromiss, noch kein unmittelbares Bündnis in Aussicht stellt, und wir haben die Hoffnung, dass die Sitzung des Zentralvorstandes der Nationalliberalen Partei, die hier am vergangenen Sonntag stattgefunden hat, dazu beigetragen haben wird, den Herren den Rücken zu steifen, so dass wir ernstlich damit rechnen, dass sie ihre bisher erfreulicherweise innegehaltene Stellungnahme auch weiterhin bewahren werden.

Wenn ich nun zu den Herren von der Regierung kommen soll, so muss ich sagen: Man wundert sich geradezu, wenn jemand hier von der Regierung redet. Neulich hat der Herr Ministerpräsident eine Erklärung abgegeben. Ich war zufällig nicht zugegen, bin aber unmittelbar darauf gekommen; und das Charakteristische war, dass die Erklärung des Herrn Ministerpräsidenten später nicht von einem einzigen Redner aus dem Hause auch nur berührt worden ist, so dass derjenige, der sie nicht unmittelbar gehört hat, nicht einmal gemerkt hat, dass der Herr Ministerpräsident geredet hat. Wann hat es eine solche Regierung gegeben, deren Erklärungen so einflusslos bleiben? Heute haben wir dasselbe Schauspiel gehabt. Der Herr Ministerpräsident hat heute in etwas eingehenderer Weise als neulich einen sozusagen positiven Standpunkt eingenommen. Aber auch diese Erklärung der Regierung ist sang- und klanglos vorbeigegangen, als ob es nicht eine Erklärung der starken preußischen Regierung sei, sondern als ob irgendein durchaus unwichtiger und unbedeutender Vertreter der Bürokratie hier eine ganz nebensächliche Erklärung über einen ganz unwesentlichen Punkt abgegeben hätte. Ja, wenn die preußische Regierung, wenn der Herr Ministerpräsident noch niemals eingesehen haben, dass die preußische Regierung in der Tat aus sich selbst heraus nicht stark ist, sondern dass die scheinbare Stärke der preußischen Regierung auf nichts anderem als darauf beruht, dass die Herren Konservativen hinter der preußischen Regierung stehen, ihr den Rücken steifen und ihr ihre Machtmittel zur Verfügung stellen, so hätte der Herr Ministerpräsident die Wahrheit dieser politischen Auffassung aus dem Vorgang am vorigen Montag und aus dem heutigen Vorgang entnehmen können. Man ist wirklich versucht, wenn man einmal vom Herrn Reichskanzler und Ministerpräsidenten spricht, sich an den Kopf zu greifen und zu fragen: Ja, gibt es denn heute bei uns in Preußen noch so etwas wie einen Ministerpräsidenten? Man merkt es ja gar nicht mehr.

Wenn der Herr Ministerpräsident nun schon eine Erklärung abgibt, so lautet die zunächst dahin: Die Regierung vinkuliert sich nicht. Ja, meine Herren, die Regierung vinkuliert sich wirklich nicht, sie kann sich auch gar nicht vinkulieren, weil sie bereits von anderer Seite vinkuliert ist. Sie ist gefesselt; sie ist aber nicht nur gefesselt, sondern gefangen, und sie ist nicht nur gefangen, sondern eingesperrt, eingesperrt von den Herren Junkern und von den Herren von der Zentrumspartei. Dass eine solche Regierung sich nicht vinkuliert, brauchen wir gar nicht erst zu hören, und die ganze Erklärung, die der Herr Ministerpräsident heute abgegeben hat – laudabiliter se subiecit! –, ist weiter nichts als ein Bekenntnis, dass er in der Tat in den Banden der Konservativen und der Zentrumspartei sitzt, was wir aber längst vorher gewusst haben. Das ist auch der Grund, weshalb die Erklärung des Herrn Ministerpräsidenten gar keinen Eindruck gemacht hat, weil jeder von uns das schon vorher wusste, was der Herr Ministerpräsident heute gesagt hat. Die Rede war also, wie mir scheint, ganz überflüssig. Die Wahlreform wird ja im Augenblick, soweit sie als parlamentarisches Kunststück zustande gebracht wird, von Ihnen hier unten gemacht, und die Herren da drüben (zum Regierungstisch) sind vollständig ausgeschaltet. Mich wundert nur, dass sie noch da sind.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie können ja gehen, man braucht sie ja auf keiner Seite, wir brauchen sie nicht, und die Herren auf der Rechten und vom Zentrum brauchen sie schon lange nicht.

Meine Herren, es ist also wohl deutlich genug, dass Unsicherheit überall herrscht, Unsicherheit bei den Herren Konservativen, bei den Herren vom Zentrum und sogar bei den Herren Freikonservativen; denn neulich waren sie mal für den Kompromiss, heute sind sie mal wieder gegen den Kompromiss, gerade wie's trifft, ein reines Würfelspiel, und die Regierung ist ja ganz unsicher, die hat ja überhaupt keine Meinung mehr, die frisst ja dem Schwarzblauen Block aus der Hand. Wenn nun eine solche Unsicherheit allenthalben in den Mehrheitsparteien dieses Hauses und innerhalb der Regierung herrscht, meine Herren, so sollten doch diejenigen Parteien, die wirklich die ernste Absicht haben, etwas zu erreichen, die Gelegenheit gerade jetzt ergreifen. Niemals ist ja die Gelegenheit so günstig gewesen, weil niemals alles so ins Wanken geraten ist in Preußen wie gerade gegenwärtig. Nützen Sie diese Situation aus, meine Herren vom Zentrum! Wenn Sie sich jetzt auch nur ein klein bisschen Mühe geben, wenn Sie nur ein Zehntel derjenigen Energie, die sie in kirchenpolitischer Beziehung aufzuwenden wissen, für die Durchsetzung Ihrer programmatischen Wahlrechtsreform anwenden würden, dann würden alle diese höchst labilen Kräfte auf der Rechten des Hauses und in der Regierung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Sie würden Ihre Forderungen, wenn es Ihnen ernst wäre, mit der Linken zusammen zweifelsohne durchzusetzen in der Lage sein.

So ist die politische Situation, und das ist die politische Aufgabe, die sie stellt. Meine Herren, statt dessen verfolgen Sie gegenwärtig die Taktik der Durchpeitschung dieser Vorlage. Das ist aber schon keine Durchpeitschung mehr, sondern ich darf es vor allem Lande behaupten, dass diese Durchpeitschung in Wahrheit nichts anderes ist als eine Flucht vor dem Volke.

(Lachen im Zentrum.)

Sie fürchten, dass, wenn sich die Verhandlungen längere Zeit hinziehen, die Empörung immer weiter steigt; Sie meinen, wenn Sie diese Beute eingesackt haben, so würde es außerhalb dieses Hohen Hauses ruhig werden.

(Unruhe und Zurufe im Zentrum.)

Das dürfte nun wohl doch eine kleine Täuschung sein, wenn Sie meinen, dass Sie bei der Reichsfinanzreform gut abgeschnitten hätten. Die Wunden, die Sie dabei erlitten haben, werden nicht wieder zuheilen!

(Anhaltendes Lachen im Zentrum.)

Alle Quacksalbereien werden diese Wunden nicht wieder zuheilen machen. Sie haben gegenwärtig eine Paradenachwahl, auf die Sie sich so gern berufen; aber, meine Herren, denken Sie an die ungeheuren Stimmverluste, die Sie anderwärts erlitten haben, und denken Sie an die Gesamtstimmung. Sie werden die Stimmung vielleicht ebenso gut kennen wie ich, wenn Sie es auch hier vor der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres wahrhaben wollen, und Sie werden wissen, dass es in der Zentrumsarbeiterschaft gärt und brodelt. Die Zentrumsarbeiter, die hier anwesend sind, sind – der Ausdruck ist ja gewiss parlamentarisch – sozusagen als Konzessionsschulzen in die Zentrumspartei aufgenommen. Von den Zentrumsarbeiterabgeordneten wird man sicherlich Rechenschaft fordern, man wird kein Verständnis für irgendeine parlamentarische Diplomatie besitzen, die es etwa rechtfertigen soll, dass Sie durch dick und dünn gegangen sind mit der Mehrheit der Zentrumspartei; man wird es nicht verstehen, dass die Zentrumsarbeiter, die hier im Hause sitzen, nicht einmal mit der Faust auf den Tisch des Hauses geschlagen haben, wie es der Herr Abgeordnete von Pappenheim so gut gekonnt hat, als er erregt war. Nicht ein einziges Mal haben Sie offen gegen die unerhörte Taktik der Zentrumspartei opponiert. Es ist nicht ersichtlich, dass Sie sich die allergeringste Mühe gegeben haben, auch nur innerhalb der Zentrumspartei Ihren Willen durchzudrücken. Man wird es draußen verstehen, wenn wir sagen, dass es Pflicht der Zentrumsarbeitervertreter hier in diesem Hause gewesen wäre, entsprechend ihrer ausdrücklich gegebenen Verheißung und entsprechend den Pflichten, die ihnen durch die Tatsache auferlegt sind, dass sie die Arbeiter vertreten, das Tischtuch zwischen sich und dem Zentrum zu zerschneiden. Das wäre ihre unbedingte Verpflichtung gewesen. Denn, meine Herren, eine ernstere politische Frage für die Arbeiterschaft als diese hier ist kaum je zur Verhandlung gewesen, und wenn nicht bei dieser Gelegenheit die Zentrumsarbeiterabgeordneten bei der Stange bleiben, ja, wo sollen sie dann ihre Pflicht und Schuldigkeit und das Versprechen, das sie draußen eingegangen sind, erfüllen.

Meine Herren, wir können ja mit aller Ruhe die Arbeit abwarten, die hier in diesem Hause vollführt werden wird. Sie werden keinen Lorbeerkranz für diese Arbeit bekommen, man wird Ihnen bestenfalls einen Kranz von Stroh aufs Haupt drücken. Wir können uns zu eigen machen, was ein nationalliberales Organ vor einiger Zeit – bei Gelegenheit des bekannten „Daily Telegraph"-Interviews8 – betonte: dass kein Machtwort eines Cäsaren imstande sein werde, den Kampf und Sieg aufzuhalten. Kein Machtwort eines Cäsaren, mag er nun auf den Bänken der Zentrumspartei sitzen und ein schwarzes Kleid tragen oder mag dieser Cäsar auf der rechten Seite des Hauses sitzen und Heydebrand und der Lasa heißen. Und die Massen des Volkes werden auch über diese Cäsaren hinweg schreiten

Meine Herren, die Ernte, von der Sie meinen, dass Sie sie jetzt bereits unter Dach und Fach gebracht hätten, kann Ihnen doch noch ganz gründlich verhageln. In der Tat: Diese „Reform" ist ein solches Pasquill auf eine Reform, um mich hier des Ausdruckes eines Herrn von der Freikonservativen Partei über die Reichsfinanzreform zu bedienen, dass es geradezu unmöglich sein wird, die Wähler auf die Dauer über die Wahrheit der gesetzgeberischen Arbeit zu täuschen, die Sie hier leisten. Meine Herren, wir wissen, dass das Wort wahr ist, dass die Weltgeschichte das Weltgericht ist, und Sie werden vor diesem Weltgericht Rede und Antwort zu stehen haben; und es wird die Posaune des Jüngsten Gerichts

(Stürmisches Lachen rechts und im Zentrum.)

die Posaune des Jüngsten Gerichts

(andauerndes stürmisches Lachen rechts und im Zentrum.)

die Posaune des Volksgerichts, meine Herren, wird Ihnen bös in den Ohren tönen.

(Zuruf und Lachen rechts.)

Ja, meine Herren, der Tag der Rache und der Tag der Vergeltung wird kommen, dies irae, dies illa!

(Zurufe rechts.)

Und wenn Sie sich einbilden, dass comedia finita sei, so dürfen wir Ihnen bemerken, wenn auch comedia finita ist, der Applaus draußen, ohne den Sie nicht existieren können, wird gründlich ausbleiben; ausgezischt werden Sie; und, meine Herren: Wenn es in der Tat einen Gott gibt, so werden Sie auch ein Gottesgericht über sich zu verzeichnen haben, ein Gottesgericht, das Sie treffen wird an Haupt und Gliedern, meine Herren. Sie können fest überzeugt sein, dass dasjenige, was Sie hier vollbringen, wenn Sie es in der Tat formal zustande bringen, nicht ein Abschluss der Volksbewegung sein wird, sondern nur eine ganz nebensächliche Episode in dem Verlauf, den der Wahlrechtskampf auch weiterhin nehmen wird.

Meine Herren, es ist seit jeher das Unglück der herrschenden Klassen gewesen, dass sie die Wahrheit nicht hören können und nicht zur rechten Zeit auf ihre Privilegien zu verzichten übers Herz brachten. Wenn Sie meinen, hier einen Sieg erfechten zu können, nun gut, diesen parlamentarischen Sieg können Sie erfechten. Aber es gibt Siege, die verhängnisvoller sind als Niederlagen, und der Sieg, den Sie hier scheinbar erfechten, wird Ihnen teuer zu stehen kommen, und Sie können versichert sein, die Massen und die Millionen des Volkes draußen rufen mit uns: Trotz alledem! Der Kampf geht weiter!

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

1 Nachdem die preußische Regierung durch Wilhelm II. bereits seit dem Jahre 1908 eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhaus angekündigt hatte, veröffentlichte die Regierung Bethmann Hollweg am 4. Februar 1910 einen diesbezüglichen Gesetzentwurf, der nichts am Wesen des reaktionären Dreiklassenwahlsystems änderte. Diese Wahlrechtsvorlage war eine Verhöhnung der Volksmassen. War es den Konservativen gemeinsam mit dem Zentrum bereits im Abgeordnetenhaus gelungen, den Gesetzentwurf weiter zu verschlechtern, so wurde dieser in den anschließenden Beratungen des preußischen Herrenhauses noch reaktionärer gestaltet. Bei der Beratung im Abgeordnetenhaus am 27. Mai konnte keine Verständigung gefunden werden, so dass die Regierung die Wahlrechtsvorlage zurückzog.

2 Gemeint ist das prinzipienlose Verhalten der Zentrumsfraktion am 11. März 1910, dem ersten Tag der zweiten Lesung des "Wahlgesetzentwurfs im preußischen Abgeordnetenhaus. Nachdem der sozialdemokratische Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für Männer und Frauen über 20 Jahre von sämtlichen Parteien niedergestimmt worden war, bestand noch die Möglichkeit, wenigstens die direkte und geheime Wahl zu erzwingen, eine Forderung, die auch in dem freisinnigen und nationalliberalen Antrag gestellt war. Die Konservative Partei hatte jedoch bereits mit dem Zentrum ein festes Bündnis zur Verhinderung einer ernsthaften Wahlrechtsreform geschlossen, so dass die Zentrumsfraktion in der Abstimmung über diese Anträge ihr eigenes Programm, das die Übertragung des Reichstagswahlrechtes auf Preußen verlangte, verleugnete und gegen diese Forderungen stimmte.

3 Als Steueranrechnung für jeden Wähler, der keine Steuern zahlte. Die Red,

4 Koalition der konservativen Parteien mit dem Zentrum. Die Red.

5 Freikonservative Partei. Die Red.

6 § 4: „Die Abgeordneten werden von den stimmberechtigten Wählern des Wahlbezirks unmittelbar gewählt." Die Red.

7 Am 6. März 1910 nahmen etwa 100.000 Berliner an Wahlrechtskundgebungen im Tiergarten teil. Die Polizei erwartete die Demonstranten jedoch im Treptower Park, dem ursprünglich vorgesehenen Versammlungsort. Die Red.

8 Gemeint ist das am 28. Oktober 1908 im „Daily Telegraph" erschienene Interview Kaiser Wilhelms II., das er einem englischen Obersten über die Beziehungen zwischen England und Deutschland gegeben hatte. Unter anderem hatte Wilhelm II. erklärt, er habe England den Feldzugsplan zur Niederwerfung der Buren geliefert; es sei eine machtvolle deutsche Flotte nötig, um bei der Lösung der Fragen des Stillen Ozeans mitzusprechen.

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