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Karl Liebknecht 19100212 Jetzt gilt's!

Karl Liebknecht: Jetzt gilt's!

Leitartikel in der „Märkischen Volksstimme"

[Märkische Volksstimme, Sozialdemokratisches Organ für die Provinz Brandenburg, Nr. 36 vom 12. Februar 1910. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 56-58]

Als im Jahre 1806 die friderizianische Preußenherrlichkeit schmählich in Scherben brach, suchten die feig-verräterische Junkersippe und die angstzitternde Dynastie Rettung beim preußischen Volke. Das Volk für den Befreiungskrieg zu begeistern, ward ihm eine freiheitliche Verfassung feierlich versprochen. Das Volk stand auf und verjagte in elementarem Sturm die fremden Eroberer. Junkersippe und Dynastie dankten ihm durch Karlsbader Beschlüsse, Demagogenverfolgungen und eine Polizei- und Säbelherrschaft rohester Art. Die schmutzigen Westkalmücken walteten ihres Amtes, ganz Preußen zu russifizieren.

Der erste Wortbruch, der erste Eidbruch.

Unter der amtlichen borussischen Verwesung keimt jedoch frisches Leben. Polizei, Säbel und alles Westkalmückentum vermögen die schwellende Volkskraft nicht zu zerfressen, nicht zu ersticken. Diesmal [1848] geht's gegen den inneren Feind des Volkes, gegen Junkersippe und Dynastie, gegen die Wortbrüchigen der Karlsbader Beschlüsse. Das Volk hilft sich selbst und zersprengt die Fesseln; es schafft sich aus eigener unveräußerlicher Machtvollkommenheit eine Verfassung der Freiheit, beruhend auf demokratischem Wahlrecht. Eine Verfassung, beschworen vom König unter Huldigung des zitternden Junkertums! Aber schon versammelt sich die Meute der borussischen Reaktion von Neuem. Polizei, Armee und die Staatsgewalt konzentrieren sich von neuem in den Händen der Mächte von gestern. Bajonette verjagen die Nationalversammlung; wie eine Hammelherde stiebt sie auseinander. Oktroyierte Verfassung, oktroyiertes Wahlrecht bezeichnen den Weg der Gegenrevolution. So wird die Dreiklassenschmach geboren, und um auf den Schaden den Hohn zu pflanzen, lässt man dieses Kind des frechsten Hochverrats von oben durch gerade eben dasselbe, das erste preußische Dreiklassenparlament, dies unwürdige Produkt des hochverräterischen Wahlrechts, in einer frechen Komödie feierlich sanktionieren.

Der zweite Wortbruch, der zweite Eidbruch.

Staatsstreich und Verfassungsbruch bereiten den Boden, auf dem von neuem die Niedertracht des schmutzigen Westkalmückentums ihre Orgien feiert. Und das Volk knirscht mit den Zähnen und vertraut der Zukunft.

Das Proletariat tritt auf den Plan. Der Feuerbrand des Klassenbewusstseins, von der Sozialdemokratie in die Massen geschleudert, zündet, Polizei, Klassenjustiz, Sozialistengesetz – Polizei, Klassenjustiz, Militarismus sollen den Brand löschen; doch sie schüren ihn nur immerfort und geben ihm neue willkommene Nahrung.

Das seiner selbst bewusste Proletariat rüstet sich zum Sturm auf die preußische Raubritterburg, auf das Junkertum und seine Sippe, die das ganze gewaltige Leben und Fluten der modernen Entwicklung in mittelalterlicher Brutalität beherrschen und in das enge Bett einer engherzigen Gutsbezirksinteressen-Wirtschaft zwingen möchte. Im ganzen Volk, wo immer es der sozialen Fortentwicklung Bahn zu brechen sucht, wird die Herrschaft der übermütigen Junkerkaste mit wachsender Empörung ertragen. Mehr als 82 Prozent der preußischen Staatsbürger sind zur völligen politischen Machtlosigkeit verdammt. Das Proletariat will die Schmach nicht länger erdulden! Es will nicht länger! Es ist nicht mehr machtlos, wenn es mächtig sein will. Und es will seine Macht politisch realisieren. Mit Hohn und Spott wird sein trotziges Einlassbegehren von den Privilegierten überschüttet, aber innerlich beginnt das Selbstbewusstsein der Übermütigen zusammenzubrechen. Die Vorahnung ihrer Götzendämmerung ergreift sie, trotz allem säbelrasselnden Scheintrotz.

Eine zeitgemäße Reform des Dreiklassenwahlrechts wird verheißen, feierlich in einer Thronrede verheißen. Und der 4. Februar 1910 bringt die „Erfüllung" der Verheißung.1 Eine Erfüllung, würdig der Vergangenheit des borussischen Westkalmückentums. Eine Erfüllung, die eine Verhöhnung ist. Statt der ersehnten Freiheit – ein brutaler Faustschlag mitten ins Gesicht des Volkes. Nicht eine Lockerung der Fessel, sondern neue Fesseln, Verstärkung und Befestigung der alten. Ein neuer Versuch, durch Militarisierung des politischen Lebens jeden Fortschritt zu hintertreiben, durch Privilegierung der Staatsfunktionäre das bürokratische Proletariat immer enger an den Staat zu ketten, von der großen Masse des Volkes zu trennen, zu einer willigen Hetze gegen das kämpfende Proletariat zu gewinnen. Kurzum: Ein letzter Versuch, die Minderheitsherrschaft durch Steigerung der Staatsgewalt zu stabilisieren, Militarismus und Bürokratie zu einem immer festeren Bollwerk gegen die andrängenden, Freiheit heischenden Volksmassen zusammenzuschweißen.

Ein Faustschlag mitten ins Gesicht! Demselben Volke, das seit je getreten und geknechtet und ausgebeutet ist! Ein Faustschlag, geführt von denen, die das Volk um Gnade betteln müssten für alle an ihm verübten Verbrechen.

Dieser Faustschlag dem Volke! Und das Volk? Das kämpfende, seiner selbst bewusste preußische Proletariat? Das die hehre Mission zu erfüllen hat, als neuer Heiland ein neues Preußen der Freiheit und des Glücks für alle zu gestalten?

Es wird seine Verheißung erfüllen, es wird unverzagt jeden Schlag mit doppeltem Schlag vergelten!

Es wird, es muss all seine Macht kühn, rücksichtslos und opferbereit zum Äußersten entfalten. Jetzt oder nie! Der Krieg ist erklärt! Auf, preußisches Proletariat! Es gilt!

1 Nachdem die preußische Regierung durch Wilhelm II. bereits seit dem Jahre 1908 eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhaus angekündigt hatte, veröffentlichte die Regierung Bethmann Hollweg am 4. Februar 1910 einen diesbezüglichen Gesetzentwurf, der nichts am Wesen des reaktionären Dreiklassenwahlsystems änderte. Diese Wahlrechtsvorlage war eine Verhöhnung der Volksmassen. War es den Konservativen gemeinsam mit dem Zentrum bereits im Abgeordnetenhaus gelungen, den Gesetzentwurf weiter zu verschlechtern, so wurde dieser in den anschließenden Beratungen des preußischen Herrenhauses noch reaktionärer gestaltet. Bei der Beratung im Abgeordnetenhaus am 27. Mai konnte keine Verständigung gefunden werden, so dass die Regierung die Wahlrechtsvorlage zurückzog.

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