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Karl Liebknecht 19100100 Leitsätze zur Verwaltungsreform in Preußen

Karl Liebknecht: Leitsätze zur Verwaltungsreform in Preußen1

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 3. bis 5. Januar 1910, Berlin 1910, S. 127-137. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 342-360]

Die preußische Sozialdemokratie erhebt für die Reform der preußischen Verwaltung im Anschluss an das Erfurter Programm und unbeschadet ihrer prinzipiellen Forderungen nach reichsrechtlicher Regelung folgende Forderungen:

A. Trennung der Kirche vom Staat

B. Organisation des Staates

Die Verwaltungskörper

Auf der Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung, wie sie in dem Kommunalprogramm gefordert ist, werden die Kreise und Provinzen als Selbstverwaltungskörper nach Art der Gemeinden ausgebaut.

In jeder Provinz und in jedem Kreise ist eine Deputation für Sozialpolitik und ein Gesundheitsamt (entsprechend den kommunalen Gesundheitsämtern) zu errichten, die mit weitgehendem Initiativrecht auszustatten sind. Ihre Mitglieder sind je zur Hälfte von den Unternehmern und den Arbeitern nach dem programmatischen Wahlrecht der Sozialdemokratie zu wählen.

Wenigstens für jede Provinz ist eine Deputation für Bildungswesen zu errichten, die aus unabhängigen Pädagogen, Vertretern der Wissenschaft, Künstlern und Delegierten der Arbeiter- und Unternehmerorganisationen besteht und von der demokratisch organisierten Provinzialvertretung zu wählen ist. Den Arbeiterorganisationen steht die doppelte Zahl an Delegierten zu wie den Unternehmerorganisationen.

Innerhalb der Kreise und Provinzen sind neben den Handwerker-, Handels- und Landwirtschaftskammern auch Arbeiterkammern auf demokratischer Grundlage zu errichten, die für Preußen in einem Staatsarbeitsamt auf demokratischer Grundlage ihre Spitze finden.

Den verschiedenen Verwaltungskörpern (Gemeinden, Kreisen, Provinzen) bleibt es unbenommen, sich zur Regelung gemeinschaftlicher Angelegenheiten zu Zweckverbänden zusammenzuschließen.

Über die Veränderung der Grenzen der Gemeinden, Kreise und Provinzen entscheiden die zu verändernden Verwaltungskörper selbständig.

Die Ministerien

An der Spitze der Staatsverwaltung stehen folgende Ministerien:

a) das Ministerium für die innere Staatsverwaltung,

b) das Ministerium für Volkswirtschaft, mit besonderen Abteilungen für die Industrie, Landwirtschaft, Handel und Bank-und Börsenwesen,

c) das Ministerium für Verkehrswesen,

d) das Ministerium für die öffentlichen Arbeiten,

e) das Unterrichtsministerium,

f) das Ministerium für Gesundheitswesen,

g) das Ministerium für Sozialpolitik,

h) das Justizministerium,

i) das Polizeiministerium,

k) das Ministerium für die Landesverteidigung,

l) das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten,

m) das Finanzministerium.

Für die Leitung der erwerbenden wirtschaftlichen Betriebe des Staats (mit Ausnahme des Verkehrswesens) wird eine besondere Hauptregieverwaltung eingeführt, deren Zusammensetzung und Verantwortlichkeit sich nach den für die Ministerien geltenden Vorschriften richtet.

Zuständigkeit

Die Zuständigkeit der höheren demokratisch organisierten Verwaltungskörper hat sich in Bezug auf ihre Selbstverwaltung nach Analogie der Gemeindeselbstverwaltung auf alle Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu erstrecken, für die in Gesetzen nichts anderes bestimmt ist.

Der höhere Verwaltungskörper ist befugt, im Allgemeininteresse die von den unteren Verwaltungskörpern geregelten Angelegenheiten unter Außerkraftsetzung der von diesen getroffenen Maßregeln innerhalb seines weiteren Bereichs zu ordnen.

Ein Aufsichtsrecht steht den höheren Verwaltungskörpern nur in Bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahmen zu. Über die Rechtmäßigkeit der Beanstandung ist im ordentlichen Gerichtsverfahren zu entscheiden.

Die Volksvertretungen

Die Wahlen zu den Kreistagen und den Provinziallandtagen finden auf Grund des demokratischen Wahlrechts statt. Ebenso die Wahlen zu den sozialpolitischen Deputationen. Die sämtlichen Wahlen erfolgen auf Grund einer alljährlich zu erneuernden Liste, die vor jeder anzuberaumenden Wahl eine geräumige Frist zu Reklamationen offen auszuliegen hat und entsprechend den Reklamationen jeweils zu berichtigen ist.

Die Wahlen haben an einem Wochentage stattzufinden, der als gesetzlicher Feiertag zu behandeln ist. Für den Wahltag ist das volle Gehalt und der volle Lohn auszuzahlen. Durch Einwirkung auf die Reichsgesetzgebung ist dies auch für die Angestellten in Privatbetrieben zu erstreben.

Die Wahlhandlung ist öffentlich für alle erwachsenen Personen, auch für die nicht wahlberechtigten.

Sofort (das heißt bis dies letztere erreicht ist): Die Wahlbehörden sind zu verpflichten, jedem unentgeltlich seine Wählerqualität zu bescheinigen.

Die auf Grund des demokratischen Wahlrechts gewählten Volksvertreter sowie die Mitglieder der Bildungsdeputationen, Gesundheitsämter und Arbeiterkammern können für Äußerungen und Handlungen in Ausübung ihres Berufs nicht zur Verantwortung gezogen werden. Sie dürfen während der Dauer ihres Mandats weder in Untersuchungs- noch in Straf- noch in Zivilhaft gebracht werden. Auch eine anderweite Strafvollstreckung gegen sie ist ausgeschlossen.

Anstellung der Beamten

Die leitenden Beamten der Kreise, der Provinzen und der Zentralbehörden sind auf Grund des demokratischen Wahlrechts von den Einwohnern des jeweils in Frage kommenden Distrikts zu wählen. Bis diese Forderung erfüllt ist, haben diese Wahlen durch die demokratisch gewählten Vertretungen der Verwaltungskörper zu erfolgen. Doch ist das Recht des Referendums und der Initiative jedenfalls zu beanspruchen.

Die übrigen Beamten der Verwaltungskörper sind durch die demokratischen Volksvertretungen zu wählen, unbeschadet des Rechts der letzteren, die Anstellung dieser Beamten auf jederzeitigen Widerruf an Kommissionen, die aus Mitgliedern der jeweiligen Volksvertretung zu bilden und von der jeweiligen Volksvertretung zu wählen sind, zu übertragen.

Das Ernennungs-, Bestätigungs- oder Einspruchsrecht höherer Instanzen wird aufgehoben.

Dieselben Gründe, die einen Richter zur Ausübung seines Amtes unfähig machen, machen auch jeden Verwaltungsbeamten unfähig, seine amtliche Tätigkeit zu entfalten.

Rechte der Beamten

Jedem Beamten stehen alle die Rechte uneingeschränkt zu, die den Staatsbürgern im Allgemeinen zukommen.

Bei Besetzung der Stellungen darf weder auf wissenschaftliche noch auf religiöse noch auf politische Gesinnung oder Betätigung oder auf die soziale Stellung oder die Rasse oder Nationalität der Kandidaten Rücksicht genommen werden. Kein Beamter darf wegen solcher Gesinnung oder wegen ihrer außerdienstlichen Betätigung oder wegen seiner sozialen Stellung oder Rasse irgendwie beeinträchtigt werden. Den Beamten (mittelbaren und unmittelbaren) und den von den Verwaltungen beschäftigten Arbeitern ist insbesondere das freie Koalitionsrecht zu gewährleisten, ebenso das freie Petitionsrecht.

Die Beamten werden unter Beseitigung des Beamteneides ausschließlich auf die Verfassung verpflichtet.

Die geheimen Personalakten über die Staatsangestellten sind zu beseitigen; jedem Staatsangestellten steht jederzeit die Einsicht in seine Personalakte zu. Bei jeder Eintragung in seine Personalakten ist ihm Kenntnis und Gelegenheit zu geben,* seine Rechte geltend zu machen. Der Inhalt der Personalakten unterliegt der freien Nachprüfung im ordentlichen Prozessverfahren.

Verantwortlichkeit der Beamten

Die Verwaltungsbeamten haben ihr Amt in Übereinstimmung mit dem Mehrheitswillen der Volksvertretung zu führen. Sie sind für ihre Amtsführung politisch, zivilrechtlich und strafrechtlich verantwortlich. Die politische Verantwortung ist entsprechend dem Entwurf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion über die Ministerverantwortlichkeit zu regeln. Sie besteht nur gegenüber derjenigen Wählerschaft und gegenüber derjenigen Volksvertretung, die den Beamten jeweils ernannt hat.

In Bezug auf die Absetzung der Beamten ist das Recht des Referendums und der Initiative im gleichen Umfange wie bei der Ernennung der Beamten zu gewähren.

Die zivil- und strafrechtliche Verantwortung der Verwaltungsbeamten wird durch Unkenntnis der gesetzlichen Bestimmungen nicht aufgehoben, es sei denn, dass diese Unkenntnis auf dem Verschulden eines vorgesetzten Beamten beruht. Im letzteren Fall trifft den vorgesetzten Beamten die zivil- und strafrechtliche Verantwortung uneingeschränkt.

Für jeden von einem Verwaltungsbeamten angerichteten Schaden haftet neben dem Beamten solidarisch derjenige Verwaltungskörper, dessen Angestellter der Beamte ist.

Der Arrest als Disziplinarmittel ist aufzuheben.

Dem entlassenen oder sonst disziplinierten Beamten steht für die Geltendmachung seiner materiellen Ansprüche der ordentliche Rechtsweg offen.

Jeder Beamte ist verpflichtet, sich dem Befehl eines Vorgesetzten, der mit dem Gesetz nicht im Einklang steht, zu widersetzen. Er wird durch einen ungesetzlichen Befehl des Vorgesetzten nicht entschuldigt.

Militärwesen

Auch für das Militärwesen ist durch Einwirkung auf die Reichsgesetzgebung eine Demokratisierung nach den für die Zivilverwaltung aufgestellten Grundsätzen in der Richtung der reinen Volkswehr anzustreben. Die Militärverwaltung ist der Zivilverwaltung allenthalben unterzuordnen. Das Nähere ist einem besonderen Militärprogramm vorzubehalten.

C. Aufgaben der Verwaltung

Landeskulturpolitik

Durch eine großzügige Stromregulierungs-, Kanal-, Eisenbahn- und Wegebaupolitik ist das gesamte Staatsgebiet unter möglichster Schonung des ursprünglichen Zustandes der Natur sowie wertvoller geschichtlicher und Kunstdenkmäler zu erschließen. Besonders in der Nähe größerer Menschenansiedlungen sind unbebaute Gebiete, vor allem Wälder, in solchem Umfang zu erhalten oder herzustellen, dass den hygienischen Bedürfnissen genügt wird.

Alle zum Schutz gegen Überschwemmungsgefahr möglichen Maßregeln sind ohne Verzug und im großen Stil zu ergreifen. Die Wasserkräfte sind, soweit dies unter den angegebenen Gesichtspunkten möglich ist, der wirtschaftlichen Ausnutzung durch Stauanlagen und dergleichen dienstbar zu machen.

Den Bestrebungen nach systematischem Städtebau ist von den höheren Verwaltungskörpern nach Möglichkeit Vorschub zu leisten.

Das Unland, insbesondere die großen Heide- und Moorgebiete, sind zu kolonisieren. Die Melioration des Bodens ist unter Inanspruchnahme der leistungsfähigen unmittelbaren Interessenten auf Kosten der Verwaltungskörper systematisch durchzuführen.

Der genossenschaftliche Zusammenschluss der kleinen Landwirte ist, wo erforderlich unter staatlicher Subventionierung, zu fördern.

Wirtschaftliche Unternehmungen

Die höheren Verwaltungskörper haben in entsprechender Anwendung der Forderungen des Kommunalprogramms den Regiebetrieb in möglichst großem Umfang anzustreben.

Sozialpolitik

Die sozialpolitischen Forderungen des Kommunalprogramms in Bezug auf die wirtschaftliche Lage der Beamten und Arbeiter sind entsprechend auf die Beamten und Arbeiter und die Submissionen der höheren Verwaltungskörper anzuwenden. Die Gehälter der unteren und mittleren Beamten und der Arbeiter der Verwaltungskörper sind, ohne dauernde Fixierung im Nennwerte des Geldes, periodisch, je nach der Kaufkraft des Geldes, für die wichtigsten Bedarfsgegenstände zu bemessen.

Das Gesinde und die Landarbeiter sind unter Aufhebung der Gesindeordnung usw. dem gemeinen Recht zu unterstellen. Die soziale Gesetzgebung ist durch Kreis- und Provinzialstatut auszubauen.

Die höheren Verwaltungskörper haben, insbesondere durch Inangriffnahme und Ausdehnung gemeinnütziger Unternehmungen sowie durch materielle Beihilfen an die Gemeinden, eine großzügige Arbeitslosenfürsorge zu betreiben. Die sozialen Deputationen insbesondere haben die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten ihres Bezirks laufend zu beaufsichtigen und periodisch allgemeine statistische Erhebungen darüber sowie über die Arbeitslosigkeit zu veranstalten.

Gesundheitswesen

Ein Gesundheitsgesetz ist zu erlassen, in dem der Bekämpfung der Tuberkulose und der Geschlechtskrankheiten, dem Wohnungswesen, der Lebensmittel- (auch Trinkwasserversorgung sowie den Luftverhältnissen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen sind.

Die höheren Verwaltungskörper haben die gemeindliche Krankenfürsorge zu ergänzen. Sie haben die gesundheitlichen und Ernährungsverhältnisse der Bevölkerung ihres Gebiets einer steten Kontrolle zu unterwerfen und alle zur Hebung dieser Verhältnisse und zur Vermeidung von sanitären Gefahren dienlichen Maßregeln unentgeltlich zu ergreifen.

Armenfürsorge

Die den Armen gewährte Fürsorge muss zur Erhaltung eines angemessenen Lebens und (bei Familienanhang) Hausstandes hinreichen. Die Kosten der Armenfürsorge sind durch direkte Steuern nach den Grundsätzen des Erfurter Programms vom Staate aufzubringen. Über das Recht auf Armenunterstützung und ihre Höhe ist für den Armen der ordentliche Rechtsweg zu eröffnen.

Fürsorgeerziehung

Die Fürsorgeerziehung darf nur auf Grund einer mündlichen Verhandlung vor dem ordentlichen Gericht unter Zuziehung der Eltern oder sonstigen nahen Angehörigen, Vormünder usw. verhängt werden. Den Betroffenen (Eltern oder Kindern oder beiden) ist stets von Amts wegen ein nicht beamteter rechtskundiger Beistand zu stellen.

Die Fürsorgezöglinge sind in Anstalten unterzubringen, die von den Verwaltungskörpern errichtet sind. Private oder kirchlich geleitete Anstalten sind ausgeschlossen. In freie Arbeitsverhältnisse dürfen die Zöglinge nur aus pädagogischen Gründen und nur unter der anständigen Lohnklausel und bei ständiger Kontrolle durch die sozialpolitische Deputation untergebracht werden. Die Fürsorgeanstalten sind ausschließlich nach pädagogischen Gesichtspunkten zu verwalten, und zwar nach den gleichen Grundsätzen und in der gleichen Form wie andere Unterrichts- und Erziehungsanstalten.

Die Leitung der Anstalten ist pädagogisch geschulten Kräften zu übertragen; der Zweck der Fürsorge, die Zöglinge für das Erwerbsleben brauchbar zu machen, darf die einzige Richtschnur sein. Der Einfluss der Geistlichkeit ist zu beseitigen. Keinem Zögling darf religiöser Zuspruch aufgenötigt werden. Das Züchtigungsrecht ist aufzuheben.

Sobald sich die Voraussetzungen, unter denen die Fürsorgeerziehung eingeleitet war, verschoben haben, ist von Amts wegen unter den gleichen Garantien wie bei der Einleitung der Fürsorge eine erneute gerichtliche Nachprüfung über ihre Aufrechterhaltung einzuleiten.

Schulwesen

Für die von den höheren Verwaltungskörpern errichteten Schulen gelten im Allgemeinen die im Kommunalprogramm für das Gemeindeschulwesen aufgestellten Grundsätze. Insbesondere ist die Schule von der Kirche zu trennen, die geistliche Schulaufsicht zu beseitigen und der Religionsunterricht aus dem Lehrplan auszuschalten. Religionsgeschichte unter Berücksichtigung der verschiedenen religiösen Anschauungen ist als Teil der Kulturgeschichte zu lehren.

Die Befugnis zur Erteilung von Unterricht und die Anstellung in öffentlichen Schulen darf niemandem wegen seiner politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gesinnung oder Betätigung oder wegen seiner Rasse oder Nationalität versagt oder entzogen werden. Der Lehrstoff ist unter Vermeidung tendenziöser Zuspitzung nach dem Stande der jeweiligen wissenschaftlichen Forschung von den Lehrern vorzutragen. In den Lehrplan ist Bürgerkunde aufzunehmen. Die Charaktererziehung hat sich in erster Linie die Erzielung unabhängiger, selbstbewusster Gesinnung und selbständigen Denkens und Wollens zur Aufgabe zu setzen. Das Züchtigungsrecht der Lehrer wird beseitigt.

Das Genehmigungsrecht staatlicher Instanzen in Bezug auf die Lehrerlaubnis ist sofort aufzuheben. Die Aufsicht ist in die Hände der Bildungsdeputationen und – letztinstanzlich – der demokratisch organisierten Volksvertretung zu legen.

Volksbildung

Die Aufgabe der Bildungsdeputationen ist die Errichtung und Leitung von Volks- und Wanderbibliotheken, Ausstellungen und Wanderausstellungen, Lehrkursen und Wanderlehrkursen, künstlerischen Veranstaltungen, Wandertheatern und -orchestern Die Veranstaltungen sind unter Berücksichtigung der verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Richtungen sowie unter Ausschaltung jeder Tendenz durch die Bildungsdeputation zu organisieren. Sie haben in erster Linie die Interessen der ärmeren Volksschichten und die geistige Heranbildung der Landbevölkerung ins Auge zu fassen.

Die Benutzung aller Veranstaltungen ist unentgeltlich. Privatveranstaltungen gleicher Art, vor allem solche Veranstaltungen der Arbeiterorganisationen, sind auf Vorschlag der Bildungsdeputation von den jeweils in Frage kommenden Verwaltungskörpern erforderlichenfalls materiell zu unterstützen; jedoch dürfen die Verwaltungsorgane auf die hier fraglichen Veranstaltungen der Arbeiterorganisationen keinerlei Einfluss nehmen.

Universitäten

Jeder, der die wissenschaftliche Befähigung nachweist, ist als Dozent an jeder Universität zuzulassen. Die Zulassung darf weder von der Ablegung bestimmter Examina abhängig gemacht noch von der politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gesinnung oder Betätigung oder der sozialen Stellung oder der Rasse oder Nationalität beeinflusst werden. Die Prüfung der wissenschaftlichen Befähigung obliegt ausschließlich dem Dozentenkörper, zu dem alle Dozenten gehören.

Der Universitätsdozent ist in seiner Lehre politisch, religiös und wissenschaftlich völlig unabhängig und keinem Einspruchsrecht unterworfen. Jeder Eingriff in diese Lehrfreiheit von Seiten einer Behörde ist strafbar.

Die Studenten unterstehen allenthalben dem gemeinen Recht. Sie sind ohne Rücksicht auf Rasse und Nationalität unter den gleichen Bedingungen zuzulassen. Ihre politische, religiöse und wissenschaftliche Gesinnung und Betätigung unterliegt keinem Eingriff irgendeiner Instanz. Das Disziplinarrecht ist auf die zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung dringend erforderlichen Maßregeln zu beschränken. Jede Disziplinierung erfolgt, sofern nicht ausdrücklich darauf verzichtet wird, auf Grund einer öffentlichen mündlichen Verhandlung. In wichtigen Fällen ist die Anrufung der ordentlichen Gerichte zu gestatten. Die Karzerstrafe wird abgeschafft. Die Höchststrafe ist die Strafe auf ein Jahr befristeter Relegation.

Wohnungsfürsorge

In Bezug auf die Wohnungspolitik der höheren Verwaltungskörper sind die Grundsätze des Kommunalprogramms entsprechend anzuwenden.

Justiz

Durch Einwirkung auf die Reichsgesetzgebung ist die Demokratisierung des Richterstandes im Sinne des Erfurter Programms zu fördern. Sofort ist anzuordnen, dass bei der Auswahl der Schöffen-und Geschworenenliste alle sozialen Klassen unterschiedslos heranzuziehen sind. Alle Sondergerichtsbarkeit ist zu beseitigen. (Vgl. dazu D.)

Den Gerichten ist die Befugnis zur Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen uneingeschränkt zu übertragen.

Die in diesem Programm vorgesehene entscheidende Rolle der Justiz setzt die demokratisierte Justiz voraus.

Die Beamten der Justizverwaltung (Staatsanwälte usw.) sind in ihrer Amtsausübung ausschließlich an die Gesetze gebunden und von den Anweisungen irgendwelcher Vorgesetzten unabhängig. Ihre disziplinare Stellung ist auf demokratischer Grundlage unabhängig zu gestalten.

Die Strafvollstreckung ist durch ein Gesetz einheitlich zu regeln und dem Justizministerium unterzuordnen. Die Gefangenenanstalten sind nach den Grundsätzen der modernen Hygiene einzurichten. Die Gefangenen sind individuell zu behandeln mit dem Ziele, sie körperlich und geistig zum Daseinskampf zu kräftigen. Der Einfluss der Gefängnisgeistlichkeit ist zu beseitigen und durch den Einfluss geschulter Pädagogen zu ersetzen. Die Disziplinarstrafen sind entsprechend dem allgemeinen erziehlichen Zweck der Strafvollstreckung zu regeln. Jede Misshandlung oder misshandelnde Gestaltung der Ernährung und sonstigen Lebensbedingungen der Gefangenen ist als disziplinarisches Mittel untersagt. Bei wesentlichen Disziplinarstrafen ist zur Nachprüfung ein Instanzenweg zu den ordentlichen Gerichten zu gewähren und auf Verlangen in mündlicher Verhandlung zu entscheiden. (Über die Polizeiaufsicht und die Überweisung an die Landespolizeibehörde vergleiche unter Polizei.)

Finanzwesen

Die Finanzpolitik der höheren Verwaltungskörper ist entsprechend den Grundsätzen des Erfurter Programms und des Kommunalprogramms umzugestalten. Sobald ein unterer Verwaltungskörper zu arm ist, um wichtige Aufgaben zu erfüllen, hat der weitere Verwaltungskörper einzutreten, unbeschadet der Befugnis durch Zweckverbände Abhilfe zu schaffen.

Für eine Verwaltungstätigkeit, die im öffentlichen Interesse entfaltet wird, dürfen Kosten von Privaten nicht erhoben werden; diese Kosten sind aus der Kasse des Verwaltungskörpers zu decken.

Für die Benutzung aller Verkehrsmittel, die dem allgemeinen Interesse dienen, sind, unter Beseitigung der Überschusswirtschaft, nur Gebühren zu erheben, die zur Deckung der Selbstkosten hinreichen.

Amtsbefugnisse der Verwaltungsbehörden

Das im Artikel 36 der Verfassung den Verwaltungsbehörden übertragene Recht, zur Aufrechterhaltung der Ordnung Militär zu requirieren, und das Recht der Krone nach Artikel 111 der Verfassung und Gesetz vom 4. Juni 1851, über das Staatsgebiet oder Teile desselben den Belagerungszustand zu verhängen, ist aufzuheben. Diese Rechte stehen nur der demokratisch gewählten Vertretung des betroffenen Bezirks zu. Ebenso wird das Begnadigungsrecht auf die demokratisch gewählte Volksvertretung übertragen.

Die Polizei im besonderen

Die Polizeiverwaltung ist zu dezentralisieren. § 10 I, 17 des Allgemeinen Landrechts ist aufzuheben. Die Polizei ist nur zuständig, soweit ihre Zuständigkeit in Gesetzen ausdrücklich und speziell ausgesprochen ist.

Der Eingriff in die persönliche Freiheit, insbesondere die Festnahme von Personen im Verwaltungswege ist außer zur Abwendung einer unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit des Betroffenen oder anderer Personen unzulässig, ebenso das Eindringen in eine Wohnung, die Durchsuchung und Beschlagnahme im Verwaltungswege.

Die politische Polizei ist abzuschaffen, ebenso die geheimen polizeilichen Dispositionsfonds und die geheimen Polizeipersonalakten. Jeder hat jederzeit das Recht, Einsicht in die bei der Polizei über ihn geführten Akten zu nehmen und im ordentlichen Prozessverfahren gegen ihren Inhalt vorzugehen. Die Polizei ist nicht berechtigt, ohne Zustimmung des Betroffenen Dritten von dem Inhalt der Akten Kenntnis zu geben.

Für die Publikation nach § 6 Absatz 1 des Vereinsgesetzes genügt die Bekanntmachung in irgendeiner am Ort der in Aussicht genommenen Versammlung erscheinenden oder verbreiteten Zeitung. Die Versammlungsüberwachung ist ohne Rücksicht darauf, welchen politischen Charakter die Versammlung vermutlich annehmen wird, gleichmäßig zu handhaben. Für Versammlungen unter freiem Himmel genügt in Anwendung des § 9 Absatz 1 des Vereinsgesetzes die Anzeige oder öffentliche Bekanntmachung. Gemäß § 12 Absatz 3 des Vereinsgesetzes ist ein Gesetz zu erlassen, das in öffentlichen Versammlungen allgemein fremde Sprachen zulässt. Bis zum Erlass dieses Gesetzes ist der Gebrauch fremder Sprachen gemäß § 12 Absatz 4 allgemein von der Landeszentralbehörde zu genehmigen. Die Erschwerung oder Verhinderung von Versammlungen aus ordnungspolizeilichen Gründen ist unzulässig; ein sicherheitspolizeiliches Einschreiten ist nur gestattet bei unmittelbarer Feuers- oder Einsturz- oder Seuchengefahr.

Der Verkehr auf den Straßen und Plätzen und in öffentlichen Räumen ist nur den speziell gesetzlich festzulegenden Beschränkungen zu unterwerfen; die Ausnutzung der Verkehrspolizei zur Einschränkung der Ausübung politischer oder sozialpolitischer Rechte ist unmöglich zu machen.

Die Polizeistunde ist einheitlich durch Ortsstatut zu regeln. Die Voraussetzungen einer abweichenden Regelung im einzelnen Fall sind ortsstatutarisch oder durch Gesetz speziell zu beschreiben; diese Ausnahmebestimmungen sind ohne Ansehen der Person gleichmäßig anzuwenden.

Die Einschränkungen für die Veranstaltung öffentlicher Lustbarkeiten sind aufzuheben. Bis dieses Ziel erreicht ist, sind die Voraussetzungen für die Genehmigung solcher Lustbarkeiten statutarisch oder gesetzlich speziell festzulegen und ohne Ansehen der Person gleichmäßig anzuwenden. Die Verordnungen über die Heilighaltung der Feiertage (Verfrommungsverordnungen) sind aufzuheben, ebenso alle Vorschriften, die die Verteilung oder Anheftung von Druckschriften auf öffentlichen Straßen und Plätzen beschränken (Aufhebung insbesondere der §§ 9 und 10 des preußischen Pressegesetzes vom 12. Mai 1851).

Die Befugnis zur Ausweisung von Inländern auf Grund des sogenannten Vagabundengesetzes wird aufgehoben. Die reichsgesetzliche Polizeiaufsicht ist in einer Weise auszuüben, die jede wirtschaftliche oder soziale Schädigung des Betroffenen ausschließt. Die Arbeitshäuser, in denen die nach dem Reichsrecht der Landespolizeibehörde überwiesenen Personen untergebracht sind, werden nach humanen und pädagogischen Gesichtspunkten reformiert. Die Reglementierung der Prostitution ist aufzuheben.

Für polizeiliche Strafverfügungen ist die Benutzung von Formularen und Blankounterschriften verboten.

Irrenrecht

Gegen die Zwangsinternierung Irrer ist der ordentliche Rechtsweg zu gewähren, die Internierung darf nur auf Grund eines Beschlusses des ordentlichen Gerichts ausgesprochen werden. Der schuldhaft eine Zwangsinternierung herbeiführende oder fortsetzende Beamte und Arzt ist straffällig und ersatzpflichtig. Der Staat ist bei jeder Zwangsinternierung, die sich als ungerechtfertigt erweist, auch ohne vorliegendes Verschulden eines Beamten in vollem Umfang schadensersatzpflichtig

Das Recht nationaler Minoritäten

Alle Sondergesetze und Sondermaßnahmen gegen nationale Minoritäten sind aufzuheben.

Fremdenrecht

Kein Ausländer darf innerhalb des Bereiches des preußischen Staates in irgendeiner Beziehung ungünstiger behandelt werden als der Inländer. Das Recht, Ausländer auszuweisen, ist aufzuheben. Sofort aber ist die Ausweisungsbefugnis dahin einzuschränken, dass sie aus Gründen der politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gesinnung und Betätigung oder aus armenrechtlichen Gründen unzulässig ist und nur auf Grund eines im ordentlichen Gerichtsverfahren ergangenen, mit ausführlicher Begründung zu versehenden rechtskräftigen Urteils erfolgen darf und dass dem Ausgewiesenen die Wahl der Grenze freisteht.

Jedwede Wirksamkeit ausländischer Polizeibeamten oder Agenten im Inlande ist verboten, ihre vorsätzliche oder fahrlässige Duldung ist strafbar.

D. Schutzmittel gegenüber der Verwaltung

Über alle Interessen ist der ordentliche Rechtsweg zu eröffnen, soweit nicht in den Gesetzen ausdrücklich und speziell ein anderes bestimmt ist.

Die besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Disziplinar- und die Universitätsgerichtsbarkeit werden aufgehoben. Auch als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft unterliegt die Polizei dem ordentlichen Gerichtsverfahren. Der zivilrechtliche und strafrechtliche Konflikt ist zu beseitigen.

Die Verwaltungsmaßregeln unterliegen der freien richterlichen Nachprüfung auch in der Richtung ihrer Zweckmäßigkeit. Die Benutzung polizeilicher Akten als Beweismaterial ist unzulässig. Das Gericht ist an Feststellungen und Entscheidungen irgendwelcher Instanzen nicht gebunden. Es hat derartige Entscheidungen stets selbständig nachzuprüfen.

Zwangsverfügungen der Verwaltungsbehörden, die in private Interessen eingreifen, sind auf Grund einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu erlassen. Nur ausnahmsweise darf in besonders dringlichen Fällen die Verfügung ohne eine solche Verhandlung ergehen. Doch tritt in diesem Fall die Verfügung außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen auf Grund einer öffentlichen mündlichen Verhandlung bestätigt ist. Die Verfügung ist stets – unter Ausschließung von Formularen und Blankounterschriften – mit einer eingehenden schriftlichen Begründung zu versehen, die alle wesentlichen Tatsachen einzeln wiederzugeben hat, auch die Beweismittel und Gesetzesbestimmungen sowie eine Belehrung über die zulässigen Rechtsmittel enthalten muss. Ist von einer mündlichen Verhandlung vorläufig Abstand genommen, so sind auch die Gründe hierfür in der Verfügung speziell anzugeben und zu belegen. Eine Vollstreckung vor Rechtskraft ist nur zulässig, wenn eine besondere unmittelbare und schwere Gemeingefahr droht. In diesem Fall ist die vorläufige Vollstreckbarkeit besonders auszusprechen und eingehend zu begründen. Vor Erlass solcher Maßnahmen, die das Interesse der Öffentlichkeit berühren, sind die Vertretungen der in Betracht kommenden Interessenkreise gutachtlich zu hören. Bei Erlass ohne mündliche Verhandlung ist diese Anhörung ebenso wie die mündliche Verhandlung nachzuholen. In Bezug auf Maßnahmen dieser Art ist – abgesehen von dem Eingreifen der Volksvertretung – auch das Recht des Referendums und der Initiative zu gewähren.

Die in einem Verfahren wegen einer Entscheidung der Verwaltungsbehörde, gleichviel welcher Instanz, entstehenden Kosten, auch für die Vertretung durch einen Rechtskundigen, sind von der Verwaltungsbehörde nach den Regeln des Zivilprozesses § 91 ff. C.P.O.2 zu erstatten. Für alle objektiv ungerechtfertigten Verwaltungsmaßregeln ist ohne Rücksicht auf ein Verschulden der Verwaltungsbehörden dem Betroffenen von der letzteren Schadenersatz zu leisten, über den ebenso wie über die Aufrechterhaltung der Verfügung selbst im ordentlichen Prozess entschieden wird.

E. Strafbestimmungen

Es ist auf die Reichsgesetzgebung einzuwirken, dass in das Strafgesetzbuch Bestimmungen aufgenommen werden, wonach strafbar ist jeder Verwaltungsbeamte, der

a) seine Amtspflichten fahrlässig verletzt. Unkenntnis des Gesetzes und seiner Amtsbefugnisse entschuldigen nicht, es sei denn, dass diese Unkenntnis durch einen Vorgesetzten herbeigeführt ist. In diesem Falle ist der Vorgesetzte zu bestrafen;

b) einem Untergebenen befiehlt, was über die Grenzen der Amtsbefugnis des Untergebenen hinausgeht, auch wenn kein Schade entsteht und wenn der Befehl nicht ausgeführt wird;

c) der es unternimmt, einen anderen mittelbaren oder unmittelbaren Staatsbeamten oder sonstigen Angestellten und Arbeiter eines Verwaltungskörpers oder eines Regiebetriebes wegen seiner politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gesinnung oder Betätigung oder wegen seiner Rasse oder Nationalität dienstlich zu beeinträchtigen oder ihm die Betätigung seiner Gesinnung unmöglich zu machen oder zu erschweren;

d) der es unternimmt, einen Lehrer der öffentlichen Bildungsanstalten in seiner Lehrfreiheit wissentlich oder fahrlässig zu beeinträchtigen;

e) der die Wirksamkeit auswärtiger Polizeibeamten oder Agenten im Inlande vorsätzlich oder fahrlässig duldet;

f) der schuldhaft die unbegründete Zwangsinternierung eines Irren veranlasst.

Aktion

Zur Sammlung, Sichtung und systematischen Verbreitung des Materials über die Missstände der preußischen Verwaltung ist eine dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Preußens anzugliedernde Zentralstelle zu errichten, in die ein Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion des Abgeordnetenhauses, ein Rechtskundiger und ein Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften zu berufen ist. Die Zentralstelle hat ihr Material in Form eines nach Bedarf erscheinenden Bulletins der Öffentlichkeit zu unterbreiten.

Karl Liebknecht

1 Diese Leitsätze zum Referat lagen den Delegierten gedruckt vor. Die Red.

2 Civil-Prozessordnung. Die Red.

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