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Karl Liebknecht 19100105 Referat zur Verwaltungsreform in Preußen

Karl Liebknecht: Referat zur Verwaltungsreform in Preußen

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 3. bis 5. Januar 1910, Berlin 1910, S. 230-264. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 361-423]

Wenn es jemals eine Verlegenheit des Überflusses gegeben hat, so wohl in meinem Falle. Es ist mir eine Erörterung der gesamten Staatsverwaltung Preußens aufgetragen. Das ist ein Gebiet von so ungemeiner Weitschichtigkeit, dass ich, wenn ich mich auch auf das Äußerste beschränke, in einer kurzen Zeit nicht fertig werden kann.

Zunächst will ich einige allgemeine Gesichtspunkte hervorheben, von denen aus ich das Thema behandele.

Wir verstehen unter dem Staat gegenwärtig der Regel nach eine Organisation auf territorialer Grundlage, die die Gesamtheit der in dem Gebiete lebenden Personen, gleichgültig, welcher Klasse sie angehören, zusammenfasst. Seit jeher haben wir die Tatsache zu verzeichnen, dass die herrschenden Klassen in Bezug auf Klassenbewusstsein den unterdrückten Klassen überlegen waren.

Die herrschenden Klassen haben verschiedene Machtmittel, um ihre Macht aufrechtzuerhalten. Zunächst sind sie der Regel nach, wenn auch nicht stets, die ökonomisch überlegenen Klassen. Dann steht ihnen zur Seite die Staatsmacht, brutale Gewaltmittel der verschiedensten Art und Täuschungsmittel. Zu den brutalen Machtmitteln gehören Justizgewalt, Polizeigewalt und Militärgewalt. Die Täuschungs- und Verdumrnungsmiltel sind vor allem in Kirche und Schule organisiert. Der Militarismus spielt eine vielseitige Rolle; er ist eine Art Schule und eine Art Kirche, gleichzeitig brutales Macht- und Verdummungsmittel, das vielseitigste Machtmittel der herrschenden Klassen.

In letzter Linie beruht die Macht der herrschenden Minderheit nicht nur auf ihrer eigenen Macht, sondern auf der Macht breiter Massen. Die herrschenden Klassen sind genötigt, breite Massen in ihren Dienst zu stellen. Zu diesem Zweck müssen die unterdrückten Klassen von den herrschenden in systematischer Weise ihrer eigenen Ideologie, das heißt der ihren eigenen Interessen entsprechenden Denkweise und Gesinnung, entfremdet werden. Es ist unmöglich, dass die herrschenden Klassen am Ruder bleiben könnten, wenn die unterdrückten Klassen diejenige Auffassung über die Staatseinrichtungen und über die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft haben, die ihren eigenen Interessen entspricht. So wird ihnen von jeher eine den Interessen der Herrschenden genehme und bequeme Ideologie aufgedrängt, die als aufgezwungene Ideologie, als Schmarotzerideologie im Gegensatz zu der autochthonen Ideologie der herrschenden Klassen, zu bezeichnen ist.

Es gilt, sich darüber klar zu sein, dass die Bürokratie, in deren Händen der wichtigste Teil der Verwaltung und damit eine große Macht liegt, eine besondere Klasse, eine eigentümliche Klasse, bildet. Aber diese Bürokratie ist keine einheitliche Schicht der Gesellschaft; die Verwaltung beschäftigt ja hochgestellte und gut gelohnte Beamte, mittlere Beamte und ganz armselige Schlucker. Die Bürokratie ist also keine Klasse von gleichartigem sozialen Charakter, sie zerfällt wiederum in verschiedene Klassen nach Analogie der nicht-bürokratischen Klassen.

Die Hauptschichten der Bürokratie, zwischen denen es natürlich zahlreiche Mischungen und Übergänge gibt, mögen so charakterisiert werden: einmal diejenigen, die als Vertreter außer-bürokratischer Klassen die Verwaltung in ihrem eigenen Klasseninteresse, das heißt im Interesse der von ihnen vertretenen Klassen, führen wollen; dann solche, die ihre Stellung in der Bürokratie in ihrem eigenen Interesse ausfüllen und sie als Selbstzweck betrachten, weil sie dafür ausreichend bezahlt werden; schließlich aber die bei weitem überwiegende Schicht der Beamten, die, indem sie für den Staat tätig sind, weder ihre eigenen Klasseninteressen vertreten, noch auch innerhalb des bürokratischen Apparats so gestellt sind, dass sie dadurch allein bereits zu einer den herrschenden Klassen genehmen Gesinnung erzogen werden könnten. Dieser Schicht muss eine den Herrschenden bequeme Ideologie aufgezwungen werden; sie wird künstlich staatstreu erhalten. Gerade auf ihr aber beruht doch im Schlussresultat die Hauptmacht der Staatsgewalt, der Regierung.

Jegliche staatliche Machtfunktion verleiht den damit betrauten Beamten eine gewisse Macht, indem ihnen innerhalb eines gewissen Bereichs die freie Entschließung überlassen wird. Im Allgemeinen ist zwar die Macht der Verwaltungsbeamten keine ihnen eigene, sondern eine ihnen jederzeit entziehbare, aber es zeigt sich allenthalben innerhalb unserer gesellschaftlichen Entwicklung, dass der übertragene Besitz einer staatlichen Machtfunktion die Tendenz zeigt, zu einem Eigenbesitz zu werden und sich zu verselbständigen. Jegliche Machtfunktion der Bürokratie, besonders ihrer höheren Schichten, ist deshalb auch zu einer Quelle eigener Macht geworden, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Besonders bei der Polizei- und Militärgewalt finden wir diese Verselbständigungstendenz in ungemein starkem Maße; sie hat in der politischen Entwicklung zeitweise eine geradezu staatsbildende, gesellschaftsgestaltende Rolle gespielt.

Man pflegt von drei verschiedenen Gewalten innerhalb des Staates zu reden: von der gesetzgebenden, der richterlichen und der vollziehenden Gewalt, der Verwaltung im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Verwaltung ist dabei gedacht als die Funktion der Staatsgewalt, die in der Ausführung der Gesetze, aber auch in der zwangsweisen Durchführung derselben besteht und die das Zwangsmittel selbst zu dieser Durchführung charakterisiert. Die gesetzgebende Gewalt führt die Gesetze nicht durch und nicht aus, ist auch kein Zwangsmittel.

Die richterliche Gewalt ist allerdings zweifellos ein Stück der Staatsgewalt, das gleichzeitig der Durchführung der Gesetze dient, aber nur in dem Sinne der Anwendung auf den einzelnen Fall, der ihr zur Entscheidung gestellt wird, während es die Aufgabe der Verwaltung ist, im Allgemeinen die Aus- und Durchführung der Gesetze im Einzelnen zu regeln. Natürlich werden diese Unterschiede zwischen richterlicher und Verwaltungsgewalt sowenig wie die Grenzscheide zwischen gesetzgebender und Verwaltungsgewalt strenge innegehalten.

Die Forderung der Trennung der Gewalten hat sich im Beginn unseres modernen Staatswesens mit besonderem Nachdruck erhoben, aber sie ist von unserem Standpunkt aus keineswegs das Ideal. Wir können absolut nicht damit einverstanden sein, dass die gesetzgebende und die richterliche Gewalt der Verwaltung gegenüber machtlos und aus ihrem Bereich verbannt sein sollen. Die Forderung der schroffen Trennung der Gewalten ist nur als die Frucht einer Zeit zu begreifen, in der die Klärung über die wirklichen demokratischen Bedürfnisse noch fehlte. Wir verlangen ein System, in dem zwar innerhalb der Verwaltung wie innerhalb der richterlichen Gewalt die Demokratie nach Möglichkeit durchgeführt ist, aber andererseits die richterliche Gewalt über die Verwaltung zu Gericht sitzen kann und die demokratische gesetzgebende Gewalt die Herrin über alle Gewalten ist. Das parlamentarische System, wie es in England oder Amerika besteht, entspricht zu einem Teil dieser Forderung. Dort haben die Kammern hie und da auch richterliche Funktionen.

Neben der parlamentarischen Regierungsform, bei der keine unverantwortliche Person auf die Gewalten des Staates einwirkt, steht als Gegenstück die bürokratische Regierungsform, in der es überhaupt keinen Einfluss irgendeiner Volksvertretung auf die drei Gewalten gibt, in der der Monarch oder die Oligarchen und dann der Beamtenkörper schlechterdings regieren. Das ist die eigentliche Regierungsform des absolutistischen Staates.

Ein Mittelding, das nicht Fisch und Fleisch ist, bildet das konstitutionelle System, an dem wir in Deutschland gegenwärtig leiden. Es besteht im Wesentlichen darin, dass der Monarch oder die sonstigen Herren im Staate, insbesondere die Bürokratie, nicht schlechthin von einer Volksvertretung abhängig, sondern in ihren Machtbefugnissen nur gewissen Beschränkungen unterworfen sind.

In England hat sich das Verwaltungssystem in ganz anderer Weise entwickelt als in Preußen. Dort ist in weitem Umfang die Staatsverwaltung herausgewachsen aus den örtlichen Selbstverwaltungen; ganz allmählich haben sich diese zusammengeschlossen zu größeren Einheiten. Auf diese Weise entstand schließlich die jetzige zentralisierte Staatsgewalt.

Anders bei uns in Preußen mit seinem bürokratischen System. Die staatliche Organisation in Preußen ist in ihren Grundzügen ja wohl allgemein bekannt. Wir haben Verwaltungskörper kleinster Art, die Kommunen, dann Kreise, Bezirke, Provinzen und darüber den Staat. Die Provinzen, Kreise und Kommunen sind gleichzeitig sogenannte Selbstverwaltungskörper und Organe der zentralisierten Staatsgewalt. Selbstverständlich ist die „Selbstverwaltung" der Kommunen keine Selbstverwaltung im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie ist schon auf diesem Parteitage mit Recht als ein Spott und Hohn auf die Selbstverwaltung bezeichnet worden. In viel höherem Maße noch gilt das von den Kreisen und Provinzen. Es ist in den Kreis- und Provinzialordnungen dafür gesorgt, dass der Volkswille innerhalb der Kreis- und Provinzvertretungen niemals zum Ausdruck kommen kann und kein Lüftchen von Demokratie darin weht.

Dass die Zentralinstanzen, besonders die Ministerien, in einer Weise organisiert sind, die die schärfsten Angriffe herausfordert, bedarf nicht erst besonderer Betonung. Sie wissen ja, welche Masse von Befugnissen zum Beispiel unserem Polizeiministerium übertragen ist. Die Verteilung der Geschäfte unter die Ministerien ist außerordentlich unzweckmäßig vollzogen, und das preußische System sorgt dafür, dass die Minister innerhalb ihrer Kompetenz, deren Bereich sie natürlich auch gar nicht beherrschen können, bösen Unfug stiften können.

Die Trennung der Gewalten ist in Preußen sehr unvollkommen durchgeführt. Wir haben gesetzgebende Funktionen der Verwaltung, wir haben Verwaltungsfunktionen der gesetzgebenden Körper. Die Verwaltung fungiert vielfach als Justiz, und wir können von einer gesetzgeberischen Funktion der Justiz sprechen, die wieder in enger Beziehung zur Justizverwaltung und damit zur Staatsverwaltung steht. Dass die Verwaltung in großem Umfange gesetzgebende Funktionen ausübt, geht schon daraus hervor, dass ihr vielfach die nähere Ausführung der Gesetze übertragen ist. Das bedeutet den Erlass von zahlreichen Einzelbestimmungen, die ebenso allgemeine Gültigkeit haben wie die eigentlichen Gesetze. Ich brauche hier nicht näher auf die Verwaltungs- und Disziplinar-Justiz einzugehen und kann über das Begnadigungsrecht des Monarchen rasch hinweg eilen

Eine Eigentümlichkeit der preußischen wie der Reichsverfassung ist es, dass das Parlament nur genau diejenigen Rechte besitzt, die ihm ausdrücklich und speziell übertragen sind, und dass die richterliche Gewalt nur genau in dem Umfange wirken darf, der im Gesetz gezogen ist, während alles übrige, was durch keine besondere Bestimmung der gesetzgebenden beziehungsweise der richterlichen Gewalt übertragen wurde, ohne weiteres den Verwaltungsbehörden, der Polizeigewalt des Staates gebührt.

Zweifellos vermag die Regierung dadurch, dass sie sich die staatlichen Machtmittel fast durchweg vorbehalten hat, eine ganz besondere Energie des Einflusses auf die politischen und sozialen Zustände und die gesamte Entwicklung zu üben. Dass auch das Militärwesen – nicht bloß Polizei, Justiz, Schule und Kirche – in den Händen der preußischen Regierung liegt, ist bekannt. Formell hat gegenwärtig zwar das Reich über das Militärwesen zu befinden. Aber was in Wirklichkeit das Reich mitzureden hat, ist eigentlich nichts weiter als die Budgetangelegenheiten. Wenigstens wird es von der Regierung so ausgelegt und praktiziert. Die volle militärische Befehlsgewalt steht dem König von Preußen zu. Nach wie vor hat der König das Recht, Gebiete des Staates und Reiches in Belagerungszustand zu versetzen, und nach wie vor haben die preußischen Verwaltungsorgane das Recht, das Militär „zur Aufrechterhaltung der Ordnung" – in ihrem Sinne – zu requirieren. Kein Zweifel, dass die Fülle der außerparlamentarischen staatlichen Macht von der Regierung festgehalten worden ist, so dass wir noch von einem bürokratischen System reden dürfen, während der Einfluss des parlamentarischen Regimes ein sehr geringer ist. Das hat unter anderem auch die kennzeichnende Wirkung, dass bei uns die „Regierung", das heißt die Regierungsbeamten im engeren Sinne, infolge ihres hohen Einflusses auch ein ganz besonders hohes Ansehen genießt. Bekanntlich pflegen die eigentlichen Regierungsbeamten auf der bürokratischen Stufenleiter gegenüber den richterlichen Beamten erheblich bevorzugt zu werden. Die „Regierung" ist etwas außerordentlich Exklusives. Man lässt in die Verwaltung nur so wohlgesiebte und wohlgesinnte Leute hinein, dass man hundertmal leichter Richter werden kann, als nur Regierungsreferendar. Vor einigen Jahren wurde ein Scherzwort kolportiert, das vielfach variiert wird. Zu meiner Zeit erzählte man: Der Oberlandesgerichtspräsident in Hamm, der frühere Kultusminister Falk, sei größenwahnsinnig geworden, er behaupte nämlich, er sei – Regierungsreferendar geworden. Das drückt ungefähr die Meinung aus, die man über die besondere Qualifikation und ausgesuchte Stellung der Regierungsbeamten in Preußen zu haben pflegt.

Interessant ist, dass zum Beispiel das Gesetz über den Belagerungszustand sowie das über die Verhütung eines Missbrauchs des Vereins- und Versammlungsrechtes, überhaupt alle Gesetze zur Verringerung der Volksrechte, die in der Verfassung angekündigt wurden, prompt erlassen sind, während das eben dort in Aussicht gestellte Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit bis heute ebenso auf sich warten lässt wie das viel berufene Schulgesetz. Man wagt sich eben an die Bürokratie nicht heran.

Ich sprach bereits von den drei Hauptschichten der Bürokratie. Die Verwaltungsbeamten rekrutieren sich natürlich entsprechend diesen verschiedenen Schichten der Bürokratie aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung.

Die höchsten und hohen Verwaltungsbeamten entstammen den reichsten Kreisen der Bevölkerung, in ganz hervorragendem Maße dem Adel, aber auch der Großindustrie und dem Großhandel.

Auch die mittleren Beamten müssen eine tüchtige Reihe „tadelloser" Ahnen aufweisen und dürfen beileibe nicht den Schandfleck eines im Sinne der Bürokratie nicht ganz stubenreinen Verwandten besitzen; wie vor der Aufnahme ins Offizierskorps die ganze Verwandtschaft des Aspiranten durchgeschnüffelt wird, ebenso geschieht es bei den höheren und selbst mittleren Beamten, besonders den Regierungsbeamten. Ein missliebiger Verwandter disqualifiziert den Anwärter in der Regel.

Die unteren Verwaltungsbeamten werden naturgemäß aus dem Proletariat genommen, und zwar zum Teil aus dem Proletariat der Bürokratie selbst, das sich mit einer bestimmten Beamtentradition fortpflanzt, die in hohem Maße gefährlich ist und die Entwicklung einer autochthonen Ideologie in dieser Beamtenschaft erschwert. Die soziale Lage der Unterbeamten ist durchaus proletarisch, und auch ihre Funktion im Staate unterscheidet sich nicht wesentlich von der Funktion des übrigen Proletariats. Das sogenannte freie Proletariat arbeitet der Regel nach für den Profit der Ausbeuter, aber keineswegs immer unmittelbar; es gibt eine ganze Zahl von Unternehmungen, in denen Ausbeutung stattfindet, ohne dass unmittelbar Mehrwert und Profit erzeugt werden. Wenn die Beamten die Macht der Staatsverwaltungen unterstützen, sind sie im Grunde auch Hilfskräfte für das kapitalistische System, und zwar um so mehr, je mehr der Staat kapitalistischen Zwecken dient. Wenn man annimmt, dass ein Bauwächter an der Herstellung des Baues mitwirkt, so müssen wir selbstverständlich auch diejenigen, die zur Sicherung der Ausbeutung mitwirken, vom Standpunkt der Totalität unseres Wirtschaftslebens, der Produktion und der Zirkulation aus, als notwendige ökonomische Funktionäre betrachten. Infolgedessen können wir, wenn wir ihre Arbeit auch isoliert betrachtet als unproduktiv bezeichnen müssen, doch nicht verkennen, dass die Funktionen, welche etwa die Polizeibeamten oder das Militär oder die richterlichen Beamten ausüben, in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen Wirtschaft sich nicht wesentlich unterscheiden von der Funktion, die das ausgebeutete Proletariat, insbesondere das mit der Herstellung von Schutzvorrichtungen für die Produktion oder Zirkulation befasste, ausübt. Deshalb können wir auch rein gesellschaftstheoretisch die untere Schicht der Bürokratie als Teil des Proletariats betrachten und müssen unseren Standpunkt ihr gegenüber, wie es ja auch von jeher geschehen ist, entsprechend einrichten.

Dieses Proletariat in der ihm aufgedrängten Denkweise und Gesinnung festzuhalten, gibt es eine große Zahl von Mitteln, die namentlich in Preußen mit großer Virtuosität angewendet werden. Das Ordens- und Uniformenwesen, das Titelwesen und jener ganze kindische Firlefanz sind bestimmt, durch Schmeichelei zu betören und zu gewinnen. Man stellt die Beamten damit auf gleiche Stufe mit Babys, denen man, wenn sie Miene machen, vor Hunger zu schreien, zur Ablenkung etwas Glitzerndes vor die Nase hängt.

Daneben steht die Zähmung und Bändigung durch scharfe Disziplinargewalt, durch brutalen Druck. Dazu greift man erst dann, wenn es notwendig ist; nach Möglichkeit sucht man die gewünschte Gesinnung bei diesen Beamten auf andere Weise zu erzeugen und zu erhalten. Da man aber die Gehälter nicht auskömmlich gestaltet, so bleibt schließlich doch nichts übrig, als das Damoklesschwert der Disziplinierung, der Brotlosmachung über dem Nacken des Staats-Proletariats aufzuhängen. Daneben sucht man manche, für die Aufrechterhaltung der Staatsmacht hervorragend wichtige Beamtenkategorien besonders gut zu lohnen, um eine freiwillig freundliche Stimmung bei ihnen zu erzeugen. Man bildet eine bürokratische Elite, ein Verfahren, das man zutreffend mit der Errichtung von Prätorianergarden im kaiserlichen Rom verglichen hat. Die Prämierung der Unteroffiziere, die Heraushebung der Gendarmen und anderer polizeilicher Beamten bei der Gehaltsaufbesserung sind Ausflüsse der letzteren Methode. Diese Elite ist einer Umwälzung ihrer Gesinnung natürlich am schwersten zugänglich.

Im Allgemeinen sind die Unterbeamten nur einer Schmarotzerideologie verfallen, von der sie nicht schwer zu befreien sind. Es ist notwendig, ihnen immer und immer wieder das Schmähliche ihrer Lage vor Augen zu führen, dass sie in dem Augenblick, wo sie es wagen, wider den Stachel zu locken, existenzlos werden und für ihr Lebtag in der Staatsverwaltung kein Fortkommen mehr finden. Der Grundsatz: Wes Brot ich esse, des Lied ich singe, spielt in der Psychologie der preußischen Beamten eine gewaltige Rolle. Gegen die Staatsverwaltung darf nichts geschrieben oder gesagt werden, sonst nutzt sie ihre ökonomische Macht aus mit all der Brutalität, die dem übermächtigen Arbeitgeber gegenüber dem Arbeiter eben gerade nur möglich ist. Mit einem Terrorismus, der seinesgleichen sucht, wird gegen die Beamten vorgegangen, die irgendwelche freiheitliche Gesinnung zeigen.

Es ist überhaupt eine Eigentümlichkeit der Bürokratie, mit welcher Rücksichtslosigkeit sie gegen jeden Outsider, der irgendwie das Ansehen, die staatliche Stellung oder die soziale Bedeutung der Bürokratie zu gefährden wagt, vorgeht. In dem Augenblick kennt die Bürokratie keine Schonung mehr.

Zum Wesen der Bürokratie gehört eine Hierarchie von Kontroll-Instanzen. Über jedem Beamten steht ein Kontrolleur, über jedem Kontrolleur ein zweiter Kontrolleur und dann ein dritter Kontrolleur usw. Dass dieses Kontrollwesen das Gefühl der Selbstverantwortung ersticken muss und dass in dem so behandelten Beamten die Neigung entsteht, nur sklavisch das zu tun, was von oben her befohlen wird, liegt auf der Hand. Natürlich geht's da oft zu wie in der Schule bei schlechten Lehrern: Man ist nur so lange still und gehorsam, als der Bakel des Lehrers droht. Die Folge dieses Systems ist, dass in den Beamten die Menschenwürde, die Würde des freien Bürgers, das lebendige Selbstbewusstsein abgetötet werden, dass sie zu Maschinen degradiert werden. Und für die Preisgabe der Menschenwürde, für die geraubte Freiheit der Gesinnung und des Handelns gibt man dem großen Heere der Beamten neben kärglichem Proletarierlohn Titel, Uniformen, Orden und ähnliche Kinkerlitzchen.

Der ganze Stolz der preußischen Bürokratie – das weiß ich aus eigener Erfahrung, denn ich war fünf Jahre in ihr tätig – ist die Oberrechnungskammer. Der Gedanke, dass in Preußen auch nicht ein Pfennig unkontrolliert bleibt, erfüllt jeden echten Bürokraten mit dem Gefühl einer unbändigen Befriedigung. Und dabei hat diese Oberrechnungskammer im Grunde genommen nur eine ganz oberflächliche Funktion zu üben. Sie rechnet nach, nichts weiter; sie hat keinen Einfluss auf die Staatsverwaltung und auf die Verschleuderung der Gelder. Es ist ein Beweis von der spielerischen, kindlichen und kleinlichen Denkungsart der Bürokratie, wenn sie an der Oberrechnungskammer ein solches Heidenpläsier haben kann. Man erblickt in der Oberrechnungskammer geradezu das Symbol der preußischen Ordnung, während sie doch in Wirklichkeit das Symbol preußischer Knechtseligkeit, Unterwürfigkeit und bürokratischer Unselbständigkeit nicht minder ist.

Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass die führende Stellung der Beamten in Preußen ganz wesentlich dadurch erleichtert wird, dass die Bevölkerung an einer wahren Titelsucht, Ordens-Seligkeit und Adelsanbetung leidet. Im Gegensatz zu Preußen sehen wir gegenwärtig in Dänemark, wie der Minister Zahle diesen Firlefanz abgeschafft hat und wie es dort besser geht als in Preußen.

Eine bedeutsame Rolle für unsere höhere Bürokratie und für den Geist unserer Staatsverwaltung spielen die studentischen Korps. Die Zugehörigkeit zu gewissen vornehmen Korps ist geradezu eine Vorbedingung für eine Anstellung im höheren Verwaltungsdienst, gibt mindestens eine gewichtige Anwartschaft, und mag noch so viel Stroh im Schädel sein. Besonders ausgezeichnet ist ja das Korps der Borussen in Bonn, dem auch der Kaiser, seine Söhne und alle möglichen sonstigen Fürstlichkeiten angehören und dessen Treiben jetzt selbst den akademischen Behörden so bunt geworden ist, dass sie zu seiner Suspendierung schreiten mussten. Die Vorsitzenden dieser Korps halten sich für etwas so Gewichtiges, dass, wie glaubhaft berichtet worden ist, ein Vorsitzender der Borussen, also irgendein beliebiger grüner Junge von Student, als er an einem mittleren deutschen Fürstenhof zur Hoftafel geladen war, den Anspruch erhob, über dem kommandierenden General, dem höchsten militärischen Beamten, zu sitzen. Wie die Vetternwirtschaft in der höheren Bürokratie durch diese Korps gefördert und gepflegt wird, weiß jeder Kundige. Wenn man fragt, welche Beförderungsaussichten dieser oder jener Beamte habe, so hört man häufig: Der kommt gut voran, er ist ein ziemlich tüchtiger Mann, vor allem aber ist er in dem und dem Korps gewesen, ein Duzbruder gar von dem und dem „hohen Herren". Nicht selten entwickeln sich dabei Beziehungen zu den „höchsten Herrschaften", und das ist dann eine ausgezeichnete Anwartschaft auf ein Siebenmeilenstiefel-Avancement.

Dass man aus der Bürokratie jede oppositionelle Regung und selbst jede wirklich liberale Gesinnung sorgfältig fernzuhalten sucht, ist selbstverständlich. Überhaupt gilt nur die konservative Gesinnung als unbedenklich und erwünscht. Man hat im Allgemeinen die Anschauung, die jüngst Pastor Rothe zum Ausdruck gebracht hat, dass Satan der erste Liberale gewesen sei. (Heiterkeit.) Die Disziplin innerhalb der Verwaltung ist eine außerordentlich scharfe. Sie beruft sich zu ihrer Rechtfertigung mit Vorliebe auf den Beamteneid. Auch der Fahneneid ist eine Art Beamteneid. Sie wissen, dass er ausschließlich dem Kaiser und sonstigen „Landesherren" geleistet wird, während er den Soldaten nicht durch ein einziges Wort auf die Verfassung verpflichtet. Bei dem Beamteneid ist das ein klein wenig anders. Der Diensteid der preußischen Beamten lautet:

Ich schwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Seiner Majestät, dem König von Preußen, meinem Allergnädigsten Herrn, ich untertänig treu und gehorsam sein und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden Pflichten nach meinem besten Wissen und gewissen genau erfüllen, auch die Verfassung gewissenhaft beobachten will, so wahr mir Gott helfe!"

Da ist zunächst bemerkenswert, dass ängstlich vermieden worden ist zu sagen, „Ich schwöre, dass ich …", damit nur ja nicht der Anschein erweckt wird, als ob der Beamte die Kühnheit habe, seinen Namen vor dem Namen der Majestät zu nennen. (Große Heiterkeit.) Untertänig treu und gehorsam soll der Beamte sein – wie ein Hund. Hinterher – bei den Amtspflichten – wird man schon nüchterner und am nüchternsten bei dem Hinweis auf die Verfassung. Man merkt gewissermaßen an dieser Stilisierung, wie wehe es dem Verfasser des Diensteids getan hat, dass er die Verfassung überhaupt erwähnen musste.

Mit diesem Diensteid ist es noch nicht abgetan. Es ist noch eine bestimmte Vorhaltung vorgeschrieben, die ausdrücklich auf dem Formular, das der Beamte zu unterschreiben hat, mit vorgedruckt ist. Dort heißt es unter anderem:

Es ist auch die kleinste Abweichung von der erhaltenen Instruktion auf das sorgfältigste zu verhüten."

Und weiter:

Wer sich solchergestalt als gewissenhafter, redlicher Diener des Königs beträgt und mit unwandelbarer Treue unermüdeten Diensteifer verbündet, kann sich göttlichen Segens und unausbleiblicher Belohnung in dieser oder jener Welt (Große Heiterkeit.) sicher halten. Wird auch bei jeder Gefahr oder Widerwärtigkeit den Trost und die Beruhigung genießen, die nur ein unverletztes Gewissen gewähren kann."

Das ist ja billig, etwas bessere Gehälter und größere Freiheit wäre den Beamten wahrscheinlich lieber.

Auf gleiche Art wird auch von Seiten der vorgesetzten Behörde derjenige rühmlichst ausgezeichnet werden" – das heißt natürlich mit Orden, Litzen, Knöpfen, Titeln und dergleichen! –, „dessen Dienst für uns zeigt, dass er sich bei jeder Gelegenheit seinem eidlichen Angelöbnis gemäß beträgt und sich dadurch würdig macht, dem Landesherrn zur weiteren Beförderung oder sonst zu erwartenden Gnadenbezeugungen empfohlen zu werden."

Und nun kommt zum Schluss das Interessanteste:

Dahingegen haben diejenigen, welche die feierlich beschworenen Dienstpflichten vernachlässigen oder sich so weit vergehen, den ihnen erteilten Instruktionen freventlich entgegen zu handeln, außer der allgemeinen Verachtung auch die in den Gesetzen den pflichtvergessenen Offizianten angedrohten harten Strafen zu gewärtigen, welche nach dem Verhältnis des beträchtlicheren oder geringeren Verschuldens, ohne Nachsicht und Ansehen der Person unausbleiblich vollzogen werden." (Bewegung.)

Also schon von vornherein operiert man mit allen Mitteln, um die Beamten einzufangen und einzuschüchtern.

Im Jahre 1882 hat Wilhelm I. eine Kabinettsorder erlassen, die jeden Versuch der Beamten, sich irgendwelche politische Selbständigkeit „anzumaßen", in selbstherrlicher Weise im Keime ersticken will. Auch diese Kabinettsorder sowie eine Staatsministerialanweisung vom 18. April 1896 werden den Beamten bei ihrer Vereidigung regelmäßig vorgehalten. In der ersten heißt es:

Das Recht des Königs, die Regierung und Politik Preußens nach eigenem Ermessen zu leiten, ist durch die Verfassung eingeschränkt, aber nicht aufgehoben." („Hört! Hört!") „Die Regierungsakte des Königs … bleiben Regierungsakte des Königs", wenn sie auch der Gegenzeichnung bedürfen. „Es ist deshalb nicht zulässig und führt zur Verdunkelung der verfassungsmäßigen Rechte des Königs, wenn deren Ausübung so dargestellt wird, als ob sie von den dafür verantwortlichen Ministern und nicht vom Könige selbst ausginge."

Damit wird den Beamten die Möglichkeit genommen, irgendwelche Regierungsmaßnahmen, etwa in der Form einer Kritik des verantwortlichen Ministers, zu kritisieren. Jede Kritik einer Regierungsmaßnahme wird ausdrücklich von vornherein als Angriff gegen den König selbst charakterisiert. Natürlich ist damit jede Kritik für die Beamten unterbunden. Es ist bekannt, dass wir schon mehrfach mit Anklagen wegen solcher indirekten Majestätsbeleidigungen beglückt worden sind. Den Schluss der Kabinettsorder bilden die schier unglaublichen Sätze:

Es liegt mir fern, die Freiheit der Wahlen zu beeinträchtigen; aber für diejenigen Beamten, welche mit der Ausführung meiner Regierungsakte betraut sind … erstreckt sich die durch den Diensteid beschworene Pflicht auf die Vertretung der Politik meiner Regierung bei den Wahlen."

Sie wissen, dass diese Kabinettsorder bis zum heutigen Tage in womöglich stets erweitertem Umfang angewandt wird. Damit ist dem Beamten selbstverständlich auch jede Agitation gegen die Regierung bei den Wahlen untersagt.

Die Ministerialanweisung, die von sämtlichen Staatsministern gezeichnet ist, hat das Maß voll gemacht, indem sie auch das Petitionsrecht der Beamten in seinem wesentlichsten Teile aufhebt. Allerdings ist sie in neuester Zeit oft etwas milder gehandhabt worden, aber noch steht sie in Kraft. Sie bemerkt mit Unwillen, „dass Staatsbeamte Petitionen unterzeichnet haben, welche darauf abzielen, die parlamentarischen Körperschaften zu einer ablehnenden Haltung gegenüber Regierungsvorlagen oder zu wesentlichen Abänderungen derselben zu bestimmen. Auch an öffentlichen Versammlungen, in denen solche Petitionen beraten worden sind, haben Staatsbeamte einen Anteil genommen. Ein solches Verhalten ist unvereinbar mit den Pflichten eines Staatsbeamten, welche ihm gebieten, sich der Teilnahme an Bestrebungen zu enthalten, die darauf gerichtet sind, der Durchführung der Regierungspolitik Schwierigkeiten zu bereiten." Am Schluss heißt es: „Das Staatsministerium hält es für angezeigt, die Beamten sämtlicher Ressorts hierauf mit dem Bemerken hinzuweisen, dass die Regierung willens ist, diese ihrer Auffassung eintretenden Falles unnachsichtlich Geltung zu verschaffen."

Wie es unter diesen Umständen mit dem Beamtenrecht in Preußen bestellt ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Maßregelungen sind bei der geringsten Regung eines selbständigen Geistes an der Tagesordnung. Wie niemand darauf rechnen kann, Offizier oder Zivilverwaltungsbeamter oder auch nur Richter zu werden, dessen Gesinnung – sei sie echt, sei sie erheuchelt – nicht in vollstem Umfang den politischen Bedürfnissen der Regierung entspricht, so hat jeder, der als Beamter eine der Regierung nicht genehme Gesinnung erkennen lässt, unweigerlich ein Disziplinarverfahren auf dem Halse.

Hier einer der krassesten Fälle aus neuester Zeit: Im Allgemeinen bleiben die Notare wegen ihrer gleichzeitigen Rechtsanwaltsqualität disziplinarisch ziemlich verschont. Bei den Wahlen von 1906/1907 wurde indes ein polnischer Notar in Posen angewiesen, gegen den polnischen Kandidaten und für den Blockkandidaten einzutreten. Der betreffende Notar, der allzu gewissenhaft war, schrieb an die Regierung, er sei nicht imstande, für einen Gegner zu stimmen; er wolle aber, um der Regierung entgegenzukommen, sich der Abstimmung gänzlich enthalten. Darauf erfolgte – ich habe das Material zu Hause – eine zweite Anweisung der Regierung, in der es heißt, das genüge nicht, der Notar habe für den Regierungskandidaten zu stimmen. Daraufhin hat bedauerlicherweise der Herr sein Notariat niedergelegt.

Bekannt sind die Vorgänge im Kattowitzer Bezirk, die nach wohl beglaubigter Nachricht gelegentlich des berühmten Diners beim Fürsten Henckel-Donnersmarck und jener Liebesconference Madame Granier zustande gekommen sind. Hier sind sowohl Staatsbeamte als Reichsbeamte wegen Ausübung ihres Wahlrechts gemaßregelt worden, die preußische Regierung und die Reichsregierung, die ja am 11. Januar wird Spießruten laufen müssen1, haben sich hier als edles Brüderpaar gezeigt.

Selbstverständlich gibt es kein Disziplinarrecht, das allgemein und prompt funktionierte, wenn die Beamten sich irgendwelcher Übergriffe schuldig gemacht haben. In solchen Fällen kostet es eine wahre Herkulesarbeit, ein Einschreiten herbeizuführen. Aber blitzschnell erhebt sich der rächende Arm, sobald aus irgendeinem Grunde ein Beamter die gemeinsamen Interessen der Bürokratie zu gefährden scheint. Es gibt innerhalb der Bürokratie eine Disziplin fast nur gegen das Publikum, kaum aber für das Publikum; eine Disziplin gegen die Feinde der Interessen der breiten Masse des Volkes. Es ist geradezu unerhört, wie in Preußen das Disziplinarverfahren zu versagen pflegt, auch wenn die Beamten in plumper Weise gegen die gesetzlich geschützten Interessen des Volkes verstoßen haben. Allenfalls wird dann so ein armer Schlucker und Schacher von Unterbeamten als Opfer hingeworfen, aber gegen höhere Beamte etwas zu erzielen ist nahezu ausgeschlossen. Es besteht innerhalb der Bürokratie eine ungemein starke Solidarität, die sich besonders nach außen richtet, aber auch nach innen gegen jeden Feind der bürokratischen Tradition, der sich etwa in die Kaste eingeschlichen hat. In der rücksichtslosesten Weise wird er zumeist mit Feuer und Schwert ausgetilgt. Da wird die Räson der Bürokratie zur Staatsräson erhoben.

Außer dem formellen Disziplinarverfahren gibt es noch ein nichtamtliches Disziplinarverfahren, das heißt eine ganze Reihe inoffizieller Mittel zur Ausmerzung missliebiger Beamter. Das gilt übrigens natürlich auch vom Offizierskorps Dem unbequemen Eindringling wird durch zahlreiche Schikanen das Leben so sauer gemacht, dass er schließlich von selbst die Flucht ergreift, die Flucht aus dem Amt, oft auch aus dem Leben. Hierher gehören die Versetzung, die Nichtbeförderung, die Kaltstellung, die Schurigelung aller Art und besonders die gesellschaftliche Ächtung. Nach der ganzen Tradition, in der die Mitglieder der höheren Bürokratie aufgewachsen zu sein pflegen, ist es ihnen meistens unmöglich, diese gesellschaftliche Ächtung zu ertragen. Der Geächtete findet dann auch in seiner dienstlichen Tätigkeit den Widerstand selbst der ihm untergeordneten Instanzen. Denn so sehr die Unterinstanzen katzbuckeln, solange sie im Vorgesetzten den Träger der Macht fürchten, im Augenblick, wo sie sehen, dass es mit seiner Herrlichkeit vorbei ist, sind sie gar oft wie umgewandelt. Da fangen sie an, passiven Widerstand zu leisten oder gar zu intrigieren, bis dem Opfer die Ausübung des Amtes gründlich verleidet ist. Das ist die heimliche Feme der Bürokratie zur Unschädlichmachung unbequemer Kastengenossen, grausamer und rücksichtsloser als alle die Mittel, mit denen das Proletariat sein Solidaritätsinteresse zu verfechten pflegt und die von derselben Bürokratie mit fanatischem Hass verfolgt werden.

Wenn wir die Bürokratie betrachten, müssen wir auch andere Schichten der Bevölkerung ins Auge fassen, die mit der Bürokratie eng zusammenhängen, die man teils als inoffizielle Bürokratie, teils als Halbbürokratie bezeichnen könnte. Zur ersteren wären zu rechnen die Mitglieder der Krieger- und Flottenvereine, die Mitglieder des kaiserlichen Automobilklubs und ähnlicher schöner Einrichtungen, der Luftschiffsgesellschaft, der Schützenvereine, dann die Militäranwärter und schließlich die Mitglieder gewisser Studentenkorps. Zu den Halbbürokraten gehören unter anderem die Staats- und Gemeindearbeiter, überhaupt diejenigen Funktionäre der Verwaltungen, die nicht Beamte sind; im gewissen Sinne auch diejenigen, die in Betrieben tätig sind, denen Submissionsaufträge zuteil werden. Schließlich kann man auch die Reserveoffiziere dazu rechnen; die scharfe Disziplin, der sie unterstehen, ist allgemein bekannt. Der Fall Gaedke hat auf das schlimmste gezeigt, wie weit diese Disziplin führen kann; bekannt ist auch der Fall Paasche, der beinahe zu einem Duell geführt hätte aus rein militärischen Gründen.

Selbstverständlich ist die Verwaltung nichts, was in der Luft schwebt, und die Bürokratie ist keineswegs eine Klasse, die selbständig und ohne Verbindung mit der übrigen Bevölkerung aus den ökonomischen und sozialen Verhältnissen herauswüchse. Die einzelnen Mitglieder der Bürokratie müssen – obwohl sie sich vielfach auch aus der Bürokratie selbst ergänzen – der Regel nach doch anderen Schichten der Bevölkerung entnommen werden. Auch diese blutsverwandtschaftliche Beziehung ist ein Grund dafür, dass die Bürokratie in weitem Umfange als Exponent und Vertreter des unbeweglichen und beweglichen Kapitals fungiert und von ihm abhängig ist. Aber diese Abhängigkeit ist durchaus keine vollständige. Die Bürokratie besitzt ein hohes Maß von Selbständigkeit und Eigenmacht zufolge der Tatsache, dass sie die schlagfertige Verfügung über die bereiten Machtmittel des Staates hat.

Fragen wir nun, welche sozialen Schichten in der preußischen Bürokratie ihren Ausdruck finden und ihre Vertrauensmänner haben. Man pflegt zu sagen, die preußische Regierung sei ein Ausschuss des Junkertums. Das ist natürlich eine gewisse Übertreibung. Sie erinnern sich ja, wie auf dem Kongress der Grubenherren jüngst die Behauptung aufgestellt wurde, dass die Gesetzgebung nicht von den Ministern, sondern von einer Handvoll Großindustrieller im Landtage dirigiert werde. Großindustrielle und Junker sind in der Tat längst nicht mehr scharf getrennt, eine ganze Anzahl Junker sind auch Industrielle oder mit ihnen aufs engste versippt. Wir tun überhaupt gut, Agrarier und Industrielle nicht als grundverschieden zu behandeln; die Agrarier sind nur eine besondere Fraktion der kapitalistischen Klasse, freilich eine Fraktion mit besonderer Färbung. Das Junkertum übt allerdings einen entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Verwaltung aus. Aber auch die Grubenbarone, die Großindustrie, selbst der Großhandel, die Großbanken, die großen Verkehrsunternehmer machen sich dabei geltend. An der Spitze einer Reichsverwaltung haben wir jetzt sogar einen Bürokraten, der der Bankokratie entstammt, Herrn Dernburg. Und auch sonst finden sich eine ganze Reihe bürgerlicher Minister in Preußen und Deutschland. Die adlige Intelligenz reicht offenbar auch nicht aus, sowenig Intelligenz immer für das Amt eines preußischen Ministers notwendig sein mag. Sie wissen, welchen Einfluss Herr Ballin2 auszuüben vermag, der übrigens schon einmal für eins der höchsten Ämter bestimmt gewesen sein soll. Sie wissen, wie ein hoher Beamter des preußischen Ministeriums zur Großen Berliner Straßenbahn hinüber gewechselt ist. Man darf also wohl sagen: Agrarisch ist Trumpf, man darf sagen, es besteht eine Junkervorherrschaft in Preußen, aber man darf nicht sagen, es besteht eine Junkeralleinherrschaft.

Allerdings entspricht die Zusammensetzung des Parlaments und der Bürokratie in keiner Weise der ökonomischen und sozialen Bedeutung des Junkertums im Verhältnis zur Bedeutung von Industrie und Handel, Bank-, Börsen- und Verkehrswesen. Dass die Bourgeoisie, als Vertreterin des mobilen Kapitals, dem Junkertum diese weit überwiegende politische Macht gelassen hat, erklärt sich zum großen Teil daraus, dass sich die Bourgeoisie in den Junkern eine Schutztruppe züchten und füttern will, da sie selbst wenig Lust hat, sich mit dem Handwerk der gewaltsamen Brutalisierung des Volkes, das immerhin zumeist roher und gefährlicher ist als die kapitalistische Ausbeutung, allzu viel zu befassen. Die bisherige Abneigung der Bourgeoisie, energisch abändernd in diese ihr selbst oft genug sehr lästigen Verhältnisse einzugreifen, beruht zum großen Teil auf der Bismarckschen Warnung: quieta non movere - das Ruhende nicht bewegen! Man befürchtet, wenn der Felsblock ins Rollen gebracht ist, kann er nicht mehr aufgehalten werden. Freilich, wenn etwas so reformbedürftig ist wie das Wahlrecht, dann kann es sehr leicht geschehen, dass es kein Halten mehr gibt, wenn man überhaupt anfängt zu reformieren. Wenn die hoch geschwollene Flut den Damm durchbrochen hat, so kann man nicht nach Belieben ein wenig durchfließen lassen und dann die Bresche wieder schließen. Die volle Flut bricht sich Bahn. Wenn ein Kleid so brüchig ist wie das Kleid, das heute der preußische Staat trägt, dann reißt es immer weiter, wenn es irgendwo zu reißen anfängt. So haben die herrschenden Schichten der Bourgeoisie bisher keinen energischen Vorstoß unternommen, ihre Macht im Parlament und in der Verwaltung mit aller Macht geltend zu machen, und wir müssen auch aus diesem Grund selbst daran zweifeln, dass sie bei der Wahlrechtsreform auch nur so weit zu gehen bereit sind, wie es an und für sich ihren Interessen entsprechen würde; sie fürchten, sie werden die Geister, die sie rufen, nicht wieder los.

In gewissem Umfang aber zeigt sich die Staatsmacht selbst als Unterwühlerin des Junkereinflusses. Auf die Dauer kann eben Preußen nicht regiert werden wie ein Gutsbezirk. Die hochentwickelte Industrie, der mächtige Handel und Verkehr können nicht auf die Dauer unter dem Knüppel der ostelbischen, der ostpreußischen und pommerschen Junker stehen. So führen die Notwendigkeiten der Staatsverwaltung von selbst dazu, dass reformierend vorgegangen werden muss.

Mögen die politischen Machthaber von heute sich noch so sehr sträuben und fühlen, es kann unser Ende bedeuten, wenn wir das Tor öffnen. Sie werden es nicht hindern und vermeiden können, dass das Tor doch geöffnet wird und dass durch das geöffnete Tor das ganze feindliche Heer in die Burg hineinzieht.

Betrachten wir nun die Gegensätze innerhalb der Verwaltung selbst, die in der preußischen Geschichte ja schon so oft eine Rolle gespielt haben. Ich denke da zuvörderst an die Gegensätze zwischen dem Stück der Verwaltung, das man als Krone zu bezeichnen pflegt, und dem übrigen Teil der Verwaltung. Die Macht des Königs beruht ja auf den verschiedensten Ursachen: auf seinem Reichtum, auf Traditionen, auf einer lebhaften Suggestion, am letzten Ende aber auf mannigfachen ökonomischen und sozialen Faktoren, die in den herrschenden Klassen das praktische Bedürfnis nach einer monarchischen Spitze erzeugen und das entgegengesetzte Interesse der beherrschten Klassen schwächen, verschleiern oder diese Klassen doch machtlos stellen. Bei Konflikten der sonstigen Verwaltung mit der Krone aber haben wir noch immer die Erfahrung gemacht, dass die Krone den kürzeren zog. („Sehr richtig!")

Allerdings mussten wir hören, dass Fürst Bülow in seinem bekannten Schwanengesang mit nervöser Betonung gegen die Auffassung Front machte, als ob sein Rücktritt in irgendeiner Weise von der Presse, vom Volke oder vom Parlament abhängig gewesen sei. Er erklärte, dass ganz ausschließlich seinem allergnädigsten König und Kaiser und nur ihm selbst die Entscheidung darüber gebühre. Wir sehen, wie hier der oberste Reichs- und preußische Beamte sich geradezu zum Schulbuben des Kaisers degradiert. Zwar pflegt gerade die höchste Bürokratie an Stolz und Selbstherrlichkeit gegen oben weit hinter den landrätlichen „Triariern" zurückzubleiben. Dass aber Fürst Bülow sich so zum kaiserlichen Kammerdiener hergab, geschah, weil alle Hunde auf ihn losgelassen waren und weil selbst die Minister und Staatssekretäre das sinkende Schiff verlassen hatten. Da gab es für ihn nur noch einen Fels, an den er sich klammern konnte, das war der Monarch. So oft aber gegenüber der Masse der junkerlichen Bürokratie ein unverbrüchlicher Wille des Monarchen verkündet wurde, so oft da ein Hoc volo sic jubeo erklärt wurde, wenn ernste Interessen der junkerlichen Bürokratie in Frage standen, ließ man den König noch stets einfach aufsitzen. Da mochten die schärfsten Mittel wiederholt angewendet werden, da mochte man mit Maßregelungen drohen und den Erlass von 1882 einschärfen – umsonst! Bis heute ist's nicht gelungen, die Kanalrebellen zur Räson zu bringen. Der Kanal ist heute noch nicht gebaut, und die Kanalrebellen3 sind höher hinauf gemaßregelt worden, als sie je hoffen konnten. Ein vollkommener Sieg des Junkertums und der junkerlichen Bürokratie über die Krone!

Dass die Auffassung der Junker von dem König, der absolut sein soll, soweit er ihren Willen tut, nicht mehr in vollem Umfange gilt und immer mehr abbröckelt, ist zurückzuführen auf die Interessen der übrigen Fraktionen des Kapitalismus und der Staatsmacht selbst, die die Herausbildung einer neuen Ministerilität fördern. Unser heutiges preußisches Junkertum besitzt übrigens bekanntlich gar keinen so vornehmen Ursprung, wie man annimmt. Es ist aus der alten Ministerialität hervorgegangen, die zu einem großen Teile aus Sklaven, aus Leibeigenen des Königs bestand. Nur durch die Tatsache, dass sie in der Nähe des Monarchen saßen, dass ihnen wichtige Teile der Exekutive in die Hand gegeben waren, haben sie ihre Machtstellung erlangt.

Bedeutsam ist der Einfluss der Verwaltung auf die Zusammensetzung der Parlamente. Hier wirkt vor allem das öffentliche Stimmrecht. Es lässt bewussterweise die – nach Bismarcks Prägung – „gottgegebenen Realitäten" bei der Abstimmung wirksam sein! So ist es auch eine gottgegebene Realität, wenn die Verwaltung auf die Zusammensetzung der Parlamente einwirkt, und zwar auch beim geheimen Stimmrecht. Auch bei den Reichstagswahlen wird der Verwaltungsapparat regelmäßig in Bewegung gesetzt, und zwar mit um so größerer Geschwindigkeit und Stärke, je größer das Interesse der Regierung ist.

Hierher gehört auch der Einfluss des Monarchen auf die Zusammensetzung des Oberhauses. Genau wie in England ist auch bei uns im Herrenhause ein Pairschub möglich: Der König hat jederzeit das Recht, beliebig viele Personen aus persönlichem Vertrauen in das Herrenhaus zu berufen. Dass er damit die Gesetzgebung wenigstens in der ersten Kammer nach seinem Willen zu dirigieren vermag, ist selbstverständlich. Das Herrenhaus ist denn auch gegenüber dem König viel weniger selbständig als das Abgeordnetenhaus. Schückings4 Bonmot ist bekannt, man solle es den Landräten überlassen, die Abgeordneten einfach zu ernennen. (Heiterkeit.) In der Tat würde das für einen großen Teil Preußens nur den wirklichen Zustand entschleiern.

Die Verwaltung übt ihren Einfluss auch aus auf die Tätigkeit der Parlamente. Die „Landratspartei" ist gegenüber dem König allerdings ziemlich steifnackig, wenn der König nämlich etwas anderes will als sie selbst. Anders, wo es sich um die Interessen der Landratsbürokratie selbst handelt. Da geht die Arbeit im Dreiklassenparlament flott vonstatten. Diese Bürokratie versteht es ausgezeichnet, ihren Einfluss innerhalb der Parlamente geltend zu machen. Im Abgeordnetenhaus und Herrenhaus geschieht das in ganz direkter Form durch die Unmasse von Verwaltungsbeamten, die Mitglieder dieser sogenannten Parlamente sind. Hieraus erklärt sich auch die Abneigung, die Macht des preußischen Abgeordnetenhauses zu erweitern. Man bekommt ja so alles, was man braucht, und ein Mehr an Macht könnte doch vielleicht einmal gefährlich werden, weil eine andere Zusammensetzung des Parlaments doch nicht ganz ausgeschlossen ist.

Nehmen Sie einmal an, ein ernster Konflikt zwischen Parlament und Verwaltung käme zum Ausbruch. Wir haben solche Konflikte in der preußischen Geschichte schon erlebt. In der Konfliktperiode war die überwiegende Mehrheit des Parlaments gegen die Verwaltung. Das Parlament verweigerte das Budget. Aber was geschah? Bekanntlich hat nicht etwa die Verwaltung kapituliert und sich an die Verfassung gehalten, sondern sie hat einfach auf das Parlament gepfiffen und weiter regiert, gestützt auf ihre außerparlamentarische Macht. Das Parlament hat sich mit ohnmächtigen Protesten begnügt, vollkommen wehrlos gegenüber der Bürokratie. Es kann also von keinem nennenswerten Einfluss des Parlaments auf die Verwaltung gesprochen werden. gewiss, bei Kleinigkeiten, bei Schönheitsfehlern ist die parlamentarische Kontrolle durch die Debatten im Parlament unangenehm für die Verwaltung und übt einen gewissen Einfluss auf sie. Aber bei ernstlichen Konflikten hat noch immer die Verwaltung über das Parlament obgesiegt. Die Macht liegt eben nicht bei dem Parlament.

Als man in Mansfeld die streikenden Bergarbeiter zur Räson bringen wollte, da versah man jeden Infanteristen mit 60 scharfen Patronen und fuhr Maschinengewehre auf. Wenn es einmal der Verwaltung darauf ankommen sollte, ein preußisches oder deutsches Parlament auseinanderzutreiben, sie brauchte keine 60 scharfen Patronen, sie brauchte nicht eine scharfe Patrone; ein paar Platzpatronen würden genügen. (Heiterkeit.) Unsere sogenannten Parlamente haben eben nur eine papierene Macht. Ihr Schwert ist aus Pappe, und sie werden so lange machtlos sein, bis sie sich auch die außerparlamentarischen Mächte in ihren Dienst gezwungen haben. Ein parlamentarisches Mandat ist nichts als ein Flederwisch, wenn dahinter nicht die entsprechende außerparlamentarische Macht steht. Die Machtverhältnisse innerhalb des Parlaments richten sich nicht nach der Stärke der Fraktionen, sondern nach der außerparlamentarischen Macht, die hinter den Fraktionen steht. Das ist es auch, was uns sechs Mann im Abgeordnetenhaus einen viel größeren Einfluss gibt, als er unserer Fraktionsstärke entsprechen würde.

Freilich, so ganz wehrlos ist das Parlament doch nicht, namentlich nicht in der heutigen Zeit, wo die Öffentlichkeit der Presse, der Versammlungen usw. existiert, sowenig wie die Presse machtlos ist. Das Parlament kann dadurch, dass es Lärm schlägt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Missstände aller Art lenken und so einen öffentlichen Skandal hervorrufen. Dadurch übt die parlamentarische Tätigkeit eine ungemein aufrüttelnde Wirkung auf die Bevölkerung aus und zerstört das Fundament, auf dem die Macht unserer heutigen Staatsgewalt ruht. Denn die Grundlage dieser Macht ist doch schließlich die Bereitschaft einer gewaltigen Masse der Bevölkerung, mit der Regierung durch dick und dünn zu gehen. Deshalb ist jede Zerstörung der regierungsfreundlichen Gesinnung durch eine derartige öffentliche Aussprache der Regierung, mag sie noch so sehr auf die Parlamentarier an sich pfeifen, höchst unbequem, weil höchst gefährlich. Es ist ja bekannt, wie überhaupt unsere Bürokratie die Öffentlichkeit aufs Äußerste fürchtet und hasst, wie sie möglichst alle ihre Verrichtungen im geheimen Kämmerlein vornehmen möchte, wie man das System der geheimen Akten usw. auszubauen sucht. Also, das Wesentliche der parlamentarischen Macht liegt in der Entfesselung solcher außerparlamentarischer Mächte.

Ich komme nun zum Einfluss der Verwaltung auf die Justiz. Die Justiz soll angeblich unabhängig sein; sie ist es nicht, wie Sie wissen. Zunächst gibt schon die Ernennung der Richter die Möglichkeit zum Sieben, später gibt dann das Beförderungsrecht der Bürokratie die Möglichkeit, auf die Gesinnung der Richter einen Einfluss auszuüben; und schon die Gehaltsverhältnisse sind im Allgemeinen so, dass die Richter nicht ohne ganz besonderen Grund bereit sein werden, ihre Karriere aufs Spiel zu setzen. Zweifellos würde jeder preußische Richter, der eine ernstliche oppositionelle Gesinnung betätigt, auf disziplinarischem Wege sofort aus dem Amte gejagt werden.

Allenthalben greift die Bürokratie in die Justiz ein. Nicht nur, dass sie als Justizverwaltungsbehörde einen bedeutenden Einfluss auf die Geschäftsverteilung und auf die Versetzung auch der Richter hat: Bei uns kann die Strafjustiz überhaupt nicht nach eigenem Ermessen in Aktion treten, sondern nur auf Anrufung und nach dem Ermessen eines Verwaltungsorgans, der Staatsanwaltschaft. Dadurch wird der Richter in seinem Einfluss gegenüber der Verwaltung erheblich degradiert und zum fünften Rad am Wagen.

Ob wir die Machtbefugnis der Richter, selbständig Anklage zu erheben, fordern wollen, ist eine andere Frage; ich habe in meinen Leitsätzen die Forderung aufgestellt, dass auch den Staatsanwälten eine unabhängige Stellung verliehen werden soll, entsprechend der Unabhängigkeit, die wir für die Richter fordern. Im Übrigen ist es bekannt, dass, wenn Richter einmal wirklich gewagt haben, Urteile zu fällen, die ernstlich unbequem für unsere Verwaltung waren, sich auch regelmäßig Gelegenheit fand, sie kaltzustellen und abzuhalftern, auch ohne ein förmliches Disziplinarverfahren. Sie entsinnen sich der Affäre des Landgerichtsdirektors Schmidt, des sehr unbequem gewordenen Kammergerichtsrates Havenstein, des Amtsrichters Kern, eines sehr tüchtigen Richters, der es im Falle Eulenburg gewagt hatte, so zu urteilen, wie es seiner wirklichen Meinung entsprach. Er hat nicht auf seinem Posten aushalten können. Dem Vernehmen nach soll es der nämliche Richter sein, der jetzt die russischen Staatsdepots gepfändet hat. Das wäre wieder ein Eingriff in die Interessen der Staatsverwaltung, der ihm vielleicht auch übel bekommen kann.

Weiter ist unsere Justiz nicht imstande, die Strafen selbst zu exekutieren; die Strafvollstreckung liegt wiederum in den Händen der Verwaltung. Man sieht also, dass die ordentliche Justiz eine Art Aschenbrödel darstellt. Dazu kommt, dass die Verwaltung selbst als Justiz auftreten kann: in ihrem polizeilichen Strafverfahren, in ihrer Tätigkeit in Alters- und Invalidensachen, als Rechtsmittelinstanz in vielen und wichtigen Dingen, die den ordentlichen Gerichten entzogen sind.

Wie es unserer Verwaltung möglich ist, auf die Rechtsprechung der Gerichte einzuwirken, hat sich fast stets gezeigt, wenn es sich um die Auslegung der für die Arbeiterschaft in ihrem Emanzipationskampf wichtigsten Gesetze handelte. Ich erinnere daran, wie es der Staatsanwaltschaft ganz allmählich gelungen ist, durch unausgesetzte Appellationen und Revisionen schließlich die Gerichte dazu zu bringen, dem Erpressungsparagraphen die jetzige berüchtigte Auslegung zu geben. Ich erinnere auch an die Streikpostenverfolgung. Bekanntlich werden allerhand Bestimmungen der Straßenpolizeiverordnungen in der unverschämtesten Weise von der Verwaltung bewusst missbraucht im Kampfe gegen die Arbeiterschaft.

Die Gerichte stellten sich hier zunächst auf den Standpunkt, die Zweckmäßigkeit des Vorgehens des Polizeibeamten zu prüfen, und kamen in den ersten Jahren fast stets zu der Auffassung, dass keine Veranlassung vorgelegen habe, das Streikpostenstehen aus Besorgnis für die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des Verkehrs zu verbieten. Daher erfolgte immer Freisprechung. Es handelte sich um Legionen solcher Verfügungen, ganze Schöffengerichtsverhandlungen waren monatelang nur damit ausgefüllt. Aber die Staatsanwaltschaft gab sich nicht zufrieden, sie hat Revision auf Revision eingelegt, hat Jahre hindurch beim Kammergericht gebohrt und gebohrt und schließlich erreicht, dass dieses seine frühere Judikatur vollständig über den Haufen geworfen hat.

Jetzt kommt es nach dem Kammergericht gar nicht mehr darauf an, ob der Beamte zweckmäßig gehandelt hat. Das dürfen die Richter nicht mehr nachprüfen. Es soll vollständig hinreichen, wenn der Beamte, als er die Aufforderung zum Fortgehen aussprach, selbst der Überzeugung und willens war, eine zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Sicherheit des Verkehrs dienliche Maßregel zu treffen. Es kommt also nur darauf an, was der Polizeibeamte im Innersten seines Herzens über die Zweckmäßigkeit seiner Maßregel denkt. Darüber wird er selbst als Zeuge vernommen, und dann erfolgt ohne weiteres Verurteilung. So hat sich das Kammergericht dem Ansturm der Verwaltung gefügt.

Gerade jetzt sind wir im Begriff, etwas Ähnliches zu erleben. Nach dem preußischen Pressgesetz bedarf die unentgeltliche Verteilung von Druckschriften auf der Straße der Genehmigung; nach der Gewerbeordnung ist das gewerbsmäßige Verteilen von Druckschriften auf der Straße an eine Konzession geknüpft, die nicht gewerbsmäßige, die entgeltliche Verteilung auf der Straße hingegen ist ohne Genehmigung oder Konzession zulässig. Unsere Partei und Gewerkschaftsbewegung hat sich diese Lücke im größeren Umfange zunutze gemacht. Damit ist die bisherige Judikatur den bürgerlichen Parteien gefährlich geworden, und nun wird wieder Revision auf Revision eingelegt, um eine andere Auslegung zu erwirken. Erst vor wenigen Wochen hat das Kammergericht in einem Verfahren gegen unseren Genossen Freyer-Stralsund die Auslegung des Begriffs der nicht gewerbsmäßigen Entgeltlichkeit so umgrenzt, dass es nicht leicht sein wird, mit dieser Bestimmung noch auszukommen. So erwächst die schöne Aussicht, dass das Kammergericht nächstens auch hier die ganze Judikatur über den Haufen werfen und damit der Bürokratie eine neue Waffe gegen die Arbeiterschaft in die Hand geben wird. Das sind Dinge von größter Bedeutung für die Interessen des Proletariats.

Über die Unabhängigkeit der Richter noch eine Bemerkung. Sie entsinnen sich der sehr bedenklichen und viel angefeindeten 4. Strafkammer am Berliner Landgericht I, der Strafkammer, der der berühmte Oppermann vorgesessen hat. Anlässlich des Plötzenseeprozesses wurde diese Kammer gesprengt, man konnte sie offenbar nicht mehr ertragen. Aber was geschah mit den bedenklichsten und gerade von unserem Standpunkt gefährlichsten Richtern, die darin gesessen hatten? Herr Oppermann wurde Reichsgerichtsrat, und ich hatte vor kurzem erst das Vergnügen, ihm in einer hochpolitischen Geheimbundssache als Referenten zu begegnen. Natürlich wurde die Revision verworfen. Weiter ist der Landgerichtsrat Graeber – einst gewissermaßen Attaché und Amanuensis Oppermanns – Kammergerichtsrat geworden und sitzt im ersten Strafsenat. Ein drittes Mitglied der Kammer, Hohr, ist in die einflussreiche Stellung eines Untersuchungsrichters übergetreten. Das ist das Gegenstück zu der Lahmlegung der Richter, die unbequeme Entscheidungen treffen.

Erwähnt sei noch der sogenannte Konflikt. Diese ideale preußische Einrichtung tritt in die Erscheinung, wenn ein Beamter wegen einer Amtshandlung zivil- oder strafrechtlich in Anspruch genommen werden soll. Dann hat die Regierung jederzeit das Recht, den sogenannten Konflikt zu erheben, das heißt, dem Gericht zu erklären: Halt, du darfst keinen Schritt weiter, ich behaupte, dass der Beamte in rechtmäßiger Ausübung seiner Amtsgewalt gehandelt hat. Dann hat über die Frage, ob eine rechtmäßige Ausübung stattgefunden hat, nicht das ordentliche Gericht zu entscheiden, sondern die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Natürlich bietet die letztere nicht die Garantien wie die ordentliche Gerichtsbarkeit, obwohl wir ja auch zu dieser nicht allzu viel Zutrauen hegen. Wenn nun die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung bejaht wird, dann bleibt dem ordentlichen Gericht nichts übrig, als sein Verfahren einzustellen, und der betreffende Beamte ist von jeglicher Verantwortung frei. Das Gericht ist lahmgelegt. Damit ist der Verwaltung ein probates Mittel in die Hand gegeben, der unerwünschten Inanspruchnahme von Beamten einen Riegel vorzuschieben. Deshalb verlangen wir mit größtem Nachdruck die Aufhebung dieser verwerflichen, nur der Stärkung der Bürokratie dienenden Institution.

Über den Einfluss der Staatsverwaltung auf die Selbstverwaltung möchte ich nur bemerken, dass all die angeblichen Versuche unserer Bürokratie, die Verwaltung zu verbessern, praktisch darauf hinauslaufen, die Selbstverwaltung immer mehr und mehr zu unterbinden. Wo sich einmal wirklich ein Stück echter Selbstverwaltung hervorwagt, da spürt sie den Hass der Bürokratie zumeist in gefährlicher, selbst in vernichtender Weise. Denken Sie an die Selbstverwaltung in den sozialpolitischen Körperschaften, besonders in den Krankenkassen. Wie wird gegen diese Sturm gelaufen! Man möchte behaupten, dass das ganze ungeheure Gesetzgebungswerk der Reichsversicherungsordnung nur zu dem Zwecke in die Hand genommen worden ist, um die verhasste Selbstverwaltung der Krankenkassen zu beseitigen. (Lebhafte Zustimmung.)

Nun zur Krone der Verwaltungsmacht: Die Verwaltung kann im höchsten Maße despotisch auftreten; es gibt Umstände, unter denen die Verwaltung die Gesetze schlechterdings und einfach außer Kraft setzt, die absolute Beherrscherin der Situation wird. Ich spreche vom Fall der Requisition der Militärmacht durch die Verwaltungsbehörde und von der Verhängung des Belagerungszustandes durch den Monarchen. In der Verhängung des Belagerungszustandes erblicken wir das letzte Mittel der Staatsverwaltung, sich gegen den Ansturm unliebsamer Elemente mit Gewalt zu schützen. Gesetzt den Fall, die Masse des Proletariats oder ein Parlament, das – energischer als der Konfliktslandtag – nicht einfach ignoriert werden kann, würde ernstlich unbotmäßig, der Belagerungszustand und die Entfaltung der Militärdiktatur ließen nicht lange auf sich warten.

Im Allgemeinen und in normalen Zeiten liegt jedoch der Schwerpunkt der bürokratischen Macht gegenwärtig beim Landrat. Der Landrat ist in der Tat der einflussreichste Beamte im preußischen Staat. Man hat ja den Herrn von Heydebrand als den heimlichen König von Preußen bezeichnet, und mehr als Landrat – jetzt sogar a. D. – ist dieser Herr nicht. (Heiterkeit.)

Das Publikum, besonders das oppositionelle, ist bei uns im Allgemeinen nur Objekt der Verwaltung, und was Herr von Kröcher einst im Reichstage für die Gesetzgebung wünschte, war nichts weiter als der Wunsch nach Übertragung der ständigen Verwaltungspraxis auf die Gesetzgebung.

Nun zu den ökonomischen Leistungen der Verwaltung. Hier hebe ich zunächst hervor, dass, wie Schücking mit Recht bemerkt, die Verwaltung im Allgemeinen den Standpunkt vertritt: industrieller Aufschwung heißt Förderung der Sozialdemokratie. Sie sucht infolgedessen besonders in den unteren Instanzen nach Möglichkeit, dem Eindringen der Industrie entgegenzuwirken. Bekannt ist die Städtefeindschaft unserer Bürokratie, bekannt ist, welche sonstigen ökonomischen Missstände unser Verwaltungssystem mit sich bringt. Ich brauche nur daran zu erinnern, welche Rolle das bürokratische System bei der Kieler Werftaffäre5 gespielt hat. Ein Gegenstück dazu ist ein Prozess, der vor einigen Wochen vor dem Berliner Landgericht I verhandelt wurde und wo die Praktiken bei der Vergebung von Militärlieferungen erörtert wurden. Hier wurde dargelegt, in wie ungehöriger Weise diese Vergebungen vielfach zustande kommen und welch erhebliche Korruption auf diesem Gebiet der Militärverwaltung Platz gegriffen hat. Die in Kiel zur Sprache gekommenen Missstände sind ganz außerordentlich, die Schlamperei und die Unbehilflichkeit der Verwaltung gegenüber einem gewiegten Kaufmann haben sich so deutlich gezeigt, dass die Verwaltung gar nicht mehr gewagt hat, sich ernstlich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen; die Redensarten einiger Regierungsvertreter im Reichstage waren offensichtlich nur Verlegenheitsphrasen. Eine Blamage ohnegleichen für die geschäftliche Tüchtigkeit unserer Bürokratie.

Das finanzielle Ergebnis der bürokratischen Verwaltung ist keineswegs günstig. Die preußisch-deutsche Bürokratie arbeitet ungemein teuer wegen des komplizierten Beamtenapparates und weil die Beamtenstellungen zum Lebensunterhalt für Angehörige der herrschenden Schichten einschließlich des Nachwuchses der höheren Bürokratie selbst dienen. Es lässt sich nicht verkennen, dass die unteren Staffeln der höheren Bürokratie so niedrige Gehälter aufweisen und eine so langwierige, kostspielige Vorbereitung voraussetzen, dass niemand hineinkommen kann, der nicht von Hause aus Vermögen hat. Das ist eine Art Schutzwall gegen das Eindringen proletarischer Elemente. Aber immerhin gibt es in den höheren Stellen der Zivil- und Militärverwaltung große Verschwendung; da werden Paläste errichtet für Generale und Regierungspräsidenten und Landräte, die ja Könige in ihrem Bezirk sind. Auch die Gehälter sind hier vielfach von verschwenderischer Höhe. Wie miserabel schließlich die Verwaltung, besonders die Landräte auf dem flachen Lande, bei der Steuerveranlagung funktioniert, wie sie da einer Vetternwirtschaft, besonders im agrarischen Interesse, Vorschub leistet und vielfach geradezu in die Taschen der Agrarier hinein wirtschaftet, das haben besonders die Delbrückschen Enthüllungen6 aus dem Vorjahre gezeigt.

Ich komme zu den sozialpolitischen Leistungen der Verwaltung. Sie hat Ausführungsbestimmungen zu den Gesetzen zu geben, und sie ist als Aufsichtsinstanz vor allem bei den Krankenkassen tätig. Gerade hier ist ihre Tätigkeit sehr bedeutsam. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, als hätten die Krankenkassen eine unabhängige Selbstverwaltung. Sie sind zwar demokratisch zusammengesetzt, aber im Punkte der Unabhängigkeit nach oben sind die Krankenkassen nicht besser gestellt als unsere Kommunen, und es ist geradezu ein Skandal, welch kompliziertes, undurchsichtiges Rechtsmittelsystem den Krankenkassen aufgenötigt ist; selbst ein Jurist wird immer wieder in dem einzelnen Fall unklar sein, welches Rechtsmittel anzuwenden ist. („Sehr richtig!") Die Selbstverwaltung der Kassen ist fast allenthalben sogar der Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen. Das ist das ungeheuerlich Skandalöse, dass es fast überall nur Beschwerden an die Aufsichtsinstanzen gibt. Dieser Zustand spottet jeder Beschreibung, er zeigt, wie das kleinste Stückchen Selbstverwaltung sofort wieder durch die Hintertür eines undurchsichtigen Rechtsmittelsystems und der Abhängigkeit von den Verwaltungsbehörden eskamotiert wird.

Ein sehr trübes Gebiet ist das der Sittenpolizeiverordnungen. Selbstverständlich müssen wir für die Beseitigung der Reglementierung der Prostitution eintreten, indem wir gleichzeitig eine Vervollkommnung des sanitären Schutzes fordern. Aber abgesehen davon vollzieht sich die Reglementierung in so unwürdiger Weise, dass man die Bestimmungen nicht ohne lebhafte Empörung durchlesen kann. Es wird den Mädchen vorgeschrieben, durch welche Straßen sie gehen dürfen, ob sie sich am Fenster zeigen dürfen, in welcher Weise sie sich kleiden dürfen. Die Bewegungsfreiheit dieser Mädchen ist in weitem Umfang aufgehoben. Dazu kommt noch die Tatsache, dass ein Mädchen, das einmal unter die Sittenkontrolle geraten ist, so ungeheuer schwer wieder in andere Verhältnisse kommen kann, weil die Engherzigkeit der Polizei sie unter der Kontrolle festhält. Durch die Plumpheit der polizeilichen Überwachung wird die Stellung unter Sittenkontrolle auch Dritten gar zu leicht bekannt, und solch Mädchen ist dann geradezu geächtet.

Auch auf dem Gebiete der Fürsorgeerziehung ist die Leistung der preußischen Bürokratie absolut unzureichend. Sie verkennt die wesentlichsten Ziele einer richtigen Fürsorgeerziehung; sie hat den Charakter der alten, rohen Zwangserziehung behalten. Die Fürsorgeerziehung sollte einzig und allein dafür sorgen, dass die Zöglinge dem Kampfe ums Dasein geistig und körperlich gewachsen sind. Wie schwer ist es heute, jemanden aus der Fürsorgeerziehung wieder herauszubekommen. Es bedarf einer grundstürzenden Änderung unserer bürokratischen Auffassung von der Fürsorgeerziehung. Gerade wir Juristen sehen ja täglich das Elend vor uns. Ein Junge, der sittlich vollkommen intakt war und der in Fürsorgeerziehung kam, nur weil die Eltern ihn nicht genügend erziehen konnten, wurde manu militari von der Polizei wie ein Schwerverbrecher aus dem Elternhause abgeholt, („Hört! Hört!"), bis zum Tage des Transportes in die Anstalt wurde der Junge wie ein Verbrecher in die Arrestzelle gesperrt („Hört! Hört!" und Pfuirufe.), das ist doch unerhört! Hier muss unverzüglich eine durchgreifende Wandlung eintreten. Die Fürsorgeerziehung soll nicht mehr im Zwang zu mechanischen Arbeiten bestehen, die für das künftige Leben ganz wertlos sind. Zahlreiche Existenzen sind durch die Fürsorgeerziehung direkt vernichtet worden. Bekannt ist das bedauerliche und oft geradezu infame Prügelsystem, das fast überall herrscht. Wir erleben es ja fast täglich, dass Zöglinge entfliehen. Mir sind Fälle bekannt, wo sich junge Mädchen an zerrissenen Bettlaken aus den Fenstern hinunterließen und unter den fürchterlichsten Entbehrungen im Hemd davonliefen, und zwar mehrfach, nachdem sie wieder „gefangen" worden waren. Man soll mir nicht weismachen, dass das nicht an der rigorosen Behandlung liegen sollte. Der Prozess Colander hat uns entsetzliche Enthüllungen gebracht, und die Vorgänge in Mielczyn sind in aller Erinnerung.7

Wir wollen, dass die Fürsorgeerziehung mit allen Garantien umgeben wird und dass eine mündliche Verhandlung vorausgeht. Gegenwärtig wird sie auf Grund eines Beschlusses von einem Einzelrichter einfach verhängt. Er hat allerdings die Pflicht, die Eltern zu hören, aber meist entscheidet der Richter nach Schema F und nach der unkontrollierten Auffassung irgendwelcher dritter Ratgeber, sehr oft Geistlicher, und sieht sich die Persönlichkeit kaum mehr an. Hier muss individuell verfahren werden. Der Einfluss der Geistlichkeit ist auszuschalten. Die rohe Bestrafung der Eltern, die ihr eigenes Kind, das sich der Fürsorge entzieht, bei sich aufnehmen, muss aufs Schnellste beseitigt werden.

Auf dem Gebiet der Schulverwaltung hat das Patronatsrecht vielfach zu bösartigen Missständen geführt. In einem Vororte von Berlin wohnte vor einigen Jahren ein Kunstmaler, ein Angehöriger der sogenannten besseren Stände, der sein Kind in die dortige Gemeindeschule schickte. Das Kind wurde krank, und die nähere Untersuchung ergab, dass der Aufenthalt in der Schule – einer Patronatsschule – gesundheitsgefährlich war. Der Vater hielt deshalb sein Kind von der Schule fern. Er wurde polizeilich – wegen Schul-Versäumnis – bestraft. Die Gerichte jedoch, und zwar auch das Kammergericht, stellten sich auf den Standpunkt: Wenn der Staat den Schulzwang übt, so setzt doch die Erfüllung der Schulpflicht voraus, dass der Staat für die geeigneten Schulräume sorgt. Unterbleibt dies, so kann man niemandem zumuten, auf Kosten seiner Gesundheit der Schulpflicht zu genügen. Dann tritt die Schulpflicht zurück hinter der höheren Pflicht, die Gesundheit zu schützen. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Solche Zustände des Schulgebäudes kommen auch anderwärts oft genug vor, und man könnte vielleicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Kammergerichts mit einem Schulstreik einen gewissen Einfluss zur Besserung ausüben.

Verwerflich ist das Bestreben, schon in der Schule die Kinder nach der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Bevölkerungsklassen abzutrennen. Dagegen müssen wir Sozialdemokraten auf das schärfste Front machen. Die „Leipziger Volkszeitung" meldete vor längerer Zeit, dass sich in Greiz die Schüler der Mittelschulen geweigert hätten, mit den Schülern der Bürgerschulen irgendwelche turnerischen Veranstaltungen gemeinsam zu unternehmen. Hätte den jungen Bürschchen – oder ihren Eltern – nicht ein paar hinter die Ohren gehört?

Etwas Ähnliches habe ich während meiner Festungshaft in Glatz erlebt. Dort findet am Tage des Heiligen Franziscus Xaverius eine Prozession statt, an der auch die Schüler teilnehmen. Ich sah nun, wie zwischen den Schülern der Armenschule und den Gymnasiasten ein weiter Zwischenraum gelassen wurde, auf dass nur ja niemand auf den Gedanken kommen könne, einer der Herren Gymnasiasten sei etwa – horribile dictu! – ein Armenschüler. Mich hat dieser Vorgang damals derartig empört, dass ich nicht mehr imstande war, dem Rest der Prozession zuzusehen.

Der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht auf dem Gebiete der Schulverwaltung ist Herr Schwartzkopff – der schwärzeste Kopf unter all den vielen Schwarzköpfen. In besonders unerhörter Weise sucht man die Schulverwaltung auszunutzen, um den Arbeiterturnvereinen den Jugendunterricht unmöglich zu machen. Man verbietet die Bildungskurse, an denen Jugendliche teilnehmen sollen, man wendet sogar, wie in Potsdam, Gewalt zu ihrer Verhinderung an. In rücksichtsloser Weise geht die Schulverwaltung hier mit brutalen Maßnahmen vor. Dabei sind diese Maßnahmen ungesetzlich, wie sich die Schulverwaltung jüngst vom Landgericht I Berlin hat bestätigen lassen müssen, nachdem meine wiederholte Bitte, mich wegen Beleidigung zu verklagen, nicht erhört worden war. Allerdings hat das Reichsgericht noch nicht gesprochen. Bedauerlich ist, dass die Schulverwaltung außerhalb jeder wirksamen Kontrolle steht. Nicht einmal der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegt sie. Man kann die Schulverwaltung nicht beim Oberverwaltungsgericht verklagen, sondern ist gegen ihre gröblichen Gesetzesverletzungen einfach machtlos. Es bleibt nichts übrig, als sich über die schwarze Reaktion bei den schwarzen oder den noch schwärzeren Reaktionären zu beschweren. Diese Beschwerden sind natürlich nur ein Hohn auf jedes Rechtsmittel.

Nun haben wir ja einen Wechsel im Kultusministerium zu verzeichnen. Man weiß bei uns ja nicht immer, wer zufällig Minister ist. (Heiterkeit.) Im Grunde genommen ist das auch schnuppe, die Herren könnten ebenso gut mit Nummern bezeichnet werden. (Heiterkeit und Zustimmung.) Aber das Bürgertum pflegt immer noch, wenn ein neuer Mann kommt, Märchenhoffnungen zu hegen; Honighoffnungen wie ein junges verliebtes Paar – die alte Kronprinzenhoffnung in anderer Gestalt. Herr Trott zu Solz hat aber eine so unangenehme Vergangenheit hinter sich, dass nur die, denen absolut nicht zu helfen ist, auf eine Besserung hoffen konnten. Herr Trott zu Solz hat mir nun jüngst in Bezug auf den Jugendunterricht der Turnvereine eine Entscheidung zugeschickt, die den früheren von Holle, i. V. Schwartzkopff, unterzeichneten Entscheidungen gleicht wie ein Ei dem anderen. Sie ist von Herrn Trott zu Solz selbst gezeichnet, denn er ist gesund; leider, möchte ich beinahe sagen; denn während Herr Schwartzkopff vielleicht nur ein kleinlicher, engbrüstiger Bürokrat ist, traue ich Herrn Trott zu Solz jede Rücksichtslosigkeit zu.

Auch der Strafvollzug gehört, wie erwähnt, zur Tätigkeit unserer Bürokratie. Seit Jahrzehnten wird eine Reform des Strafvollzuges verlangt. Er liegt jetzt zum Teil in den Händen des Ministeriums des Innern, zum Teil beim Justizministerium. Das ist unhaltbar. Wir fordern Garantien. Wir können uns nicht damit begnügen, dass man sich in Sachen der Strafvollstreckung beim Gefängnisdirektor, Staatsanwalt oder Minister beschweren kann. Ich verkenne dabei durchaus nicht, dass die Spitze der Justiz bei weitem nicht so elend ist wie die Spitze des Kultusministeriums. Auffallend ist, dass der Stil der Strafgefangenen, in dem sie nach längerer Haft zu schreiben pflegen, meist in einem biblischen Deutsch gehalten ist. Es werden den Leuten vor allem Bibel und Gesangbuch zur Lektüre verabreicht, und das färbt auf die Dauer ab. (Heiterkeit.)

Wir wollen eine rein pädagogische Strafvollstreckung mit individueller Behandlung der Gefangenen. Weg mit allen gesundheitsschädigenden Maßnahmen. Gebrandmarkt werden muss die Tatsache, dass der neue Vorentwurf eines Strafgesetzbuches nicht nur keine Beseitigung der rohen Disziplinarmittel in den Gefängnissen bringt, sondern geradezu ihre gesetzliche Festlegung. Das ist „Fortschritt" in Preußen und Deutschland.

Was die Polizei in Preußen alles ist und kann, davon haben die meisten Menschen keine Ahnung. Das weiß überhaupt niemand so recht, weil jeder Tag etwas Neues bringt. (Heiterkeit.)

Paragraph 10 I 17 des Allgemeinen Landrechts verdient für ewig der Vergessenheit entrissen zu werden; er muss in einem künftigen Museum unmittelbar neben die Eiserne Jungfrau der Nürnberger Folterkammer gesetzt werden. (Heiterkeit.) Dieser Paragraph lautet: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der von dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahren zu treffen, das ist das Amt der Polizei." Ja, was ist denn nun nicht das Amt der Polizei? (Heiterkeit.) Allerdings scheint es häufig so, als ob die Polizei doch nicht den ganzen Umfang der ihr gegebenen Befugnisse auszuführen versucht hätte. Denn wenn es hier heißt, dass die Polizei Maßregeln zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zu treffen habe, so müssen wir bedauern, oft beobachtet zu haben, dass die Polizei selbst als Störerin der öffentlichen Ruhe und Ordnung aufgetreten ist. („Sehr richtig!") Und wenn von der Abwendung der Gefahren für das Publikum als Aufgabe der Polizei die Rede ist, so müssen wir uns verwundert fragen, ob denn nicht gar vielfältig die Polizei eher zur Herbeiführung von Gefahren für das Publikum tätig war, wenn sie zum Beispiel ohne jede nennenswerte Veranlassung, wie selbst von bürgerlicher Seite betont wird, mit ihren Kavalleriepferden anlässlich irgendwelcher Versammlungen oder Straßendemonstrationen in das Publikum hinein reitet. Unsere Polizei ist also noch schlechter als selbst der Paragraph 10 I 17 des alten Landrechts, das muss ihr ins Gesicht gesagt werden.

Durch Paragraph 9 des Polizeiverwaltungsgesetzes aus dem berüchtigten Gegenrevolutionsjahre 1850 ist der Regierungspräsident befugt, jede ortspolizeiliche Vorschrift durch einen förmlichen Beschluss außer Kraft zu setzen. Unter Umständen muss dazu der Bezirksausschuss herangezogen werden, aber nur selten. Und außerdem ist er ja die bekannte Marionette. Schließlich heißt es im Paragraphen 16: „Der Minister des Innern ist befugt, soweit Gesetze nicht entgegen stehen, jede polizeiliche Vorschrift durch einen förmlichen Beschluss außer Kraft zu setzen." Danach ist es klar, dass die Polizeiverwaltung über ganz Preußen hinaus durchaus im Sinne einer Zentralstelle des Ministeriums dirigiert wird und dass wir das gute Recht haben, den preußischen Polizeiminister für alle Reaktion innerhalb der gesamten preußischen Polizei-Verwaltung verantwortlich zu machen. Graf Limburg-Stimm tat 1905 im Abgeordnetenhause den denkwürdigen Ausspruch: „Das Geld, das für die Gendarmen ausgegeben wird, wird wahrlich nicht unnütz ausgegeben." Das heißt, nicht unnütz für unsere herrschenden Klassen.

Wie rücksichtslos die Polizei bei uns als Gewaltmittel zur Aufrechterhaltung der brutalen Klassenherrschaft ausgenutzt wird, das beweist uns jeder Tag. Die Polizei ist ein wahrer Krebsschaden, sie erwürgt jede Möglichkeit freiheitlicher Bewegung in Preußen, soweit ihr nicht übermächtige Kräfte entgegentreten. Ihre Allmacht ist eine ständige Gefahr für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung. Das gilt sowohl für Usurpation neuer Befugnisse wie auch für die Art der Verwendung ihrer Macht. Die Polizei kann ja auch höflich sein – nach oben, sie kann aber auch grob werden, und das ist im Allgemeinen die Normalmethode, mit der man bei uns in der Polizeiverwaltung die gewöhnlichen Sterblichen behandelt – trotz der schönen Erlasse, die erst kürzlich wieder herausgegeben sind. Aber grobe Worte sind nicht ihre Hauptforce; man hat schließlich nicht umsonst sein Seitengewehr, seinen Revolver und einen Minister, der bereit ist, einen Reckeschen Schießerlass8 herauszugeben.

Vor mehreren Jahren hat ein Gendarm Jude unseren Parteigenossen Herrmann aus dem Niederbarnimer Kreise, einen sehr tüchtigen Funktionär, ohne Veranlassung niedergeschossen. Das bürgerliche Strafgericht hat das anerkannt und sogar die Kosten der Verteidigung der Begleiter Herrmanns der Staatskasse auferlegt. In dem Verfahren gegen Jude, das allerdings beim Militärgericht anhängig gemacht werden musste, ist dieser jedoch schlechthin freigesprochen worden. Das zivile Schadenersatzverfahren ist unter diesen Umständen natürlich auch nicht sehr aussichtsvoll.

Der Reckesche Schießerlass muss hier festgenagelt werden. Aus Anlass eines Vorganges in Erfurt, wo nach Ansicht des Ministers die Polizei nicht gleich genug drauflos geschossen und gehauen hatte, wurde bestimmt: „Es wird befohlen, von der Waffe sofort wirksam Gebrauch zu machen, nachdem die herkömmliche dreimalige Aufforderung, sich zu entfernen, keinen Erfolg gehabt hat. Muss von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden, so hat das auch in vollem Maße einzutreten und sind vor allem auch die sogenannten Schreckschüsse über die Köpfe der Volksmenge hinweg zu unterlassen. Bei der Anwendung der Hiebwaffe soll nicht mit flacher, sondern scharfer Klinge eingehauen werden." („Hört! Hört!") – Wir haben ja inzwischen ein Gegenstück in unserer kolonialen Kriegspolitik gehabt, die Trothasche Strategie, das zu lebhaften Erörterungen im Reichstag Anlass gegeben hat. – Nun, dieser Reckesche Schießerlass gilt noch heute, soweit wir in die Geheimkammern der Polizeiverwaltung Einblick haben. Sie sehen also, wie die Polizei bereit ist, mit Säbel und Pistole vorzugehen gegen jeden, der frech und unbotmäßig genug sein sollte, sich der Polizeiwillkür preußischen Kalibers nicht freiwillig zu fügen.

Die Polizei hat ja auch eine partie honteuse sozusagen, einen Teil, den sie selbst nach Möglichkeit schamhaft zu verbergen sucht, weil er ihr selbst unappetitlich ist. Über diesen Teil schweigt man sich auch am Ministertisch im Parlament dauernd aus, man mag interpellieren, soviel man will. Das ist die politische Geheimpolizei mit der Lockspitzelei. Die Geheimpolizei ist die Blüte unserer Polizei, und die fine fleur unserer Geheimpolizei ist wiederum die Lockspitzelei. Sie ist nichts Zufälliges. Überall, wo es Polizei mit ähnlichen Machtbefugnissen gibt wie in Preußen, bilden sich ähnliche Erscheinungen heraus; jede Geheimpolizei führt zum Spitzelwesen, und von dem unkontrollierbaren Spitzelwesen ist die Lockspitzelei – als bestes Mittel, sich unentbehrlich zu zeigen und zu avancieren – seit je unzertrennlich.

Ich muss in diesem Zusammenhang von dem Militärwesen sprechen als von einem Machtmittel des Staates zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Wir haben gerade jetzt Anlass, uns damit zu beschäftigen; denn wir haben in den letzten Jahren die Neigung des Militärs, sich in die Arbeiterkämpfe einzumischen, sich verstärken sehen. Der preußische Parteitag darf hier nicht schweigen, er muss kundtun, wie unsäglich empörend wir die Mansfelder Vorgänge empfinden und wie unsäglich schmählich sich die ganze preußische Verwaltung dabei bloßgestellt hat, wie sie dadurch allerdings der Agitation des Proletariats für den schärfsten Machtkampf gegen die Staatsgewalt eine unvergleichliche Waffe in die Hand gelegt und in Tausenden und Hunderttausenden das feste Gelöbnis und den ernsten Entschluss erzeugt hat, diesen Kampf mit der rücksichtslosesten Energie bis zum Ende zu führen. (Stürmischer Beifall.)

Das Vereinsrecht, mit dem ich mich noch befassen muss, ist ja jetzt reichsgesetzlich geregelt. Aber den Verwaltungsbehörden der Einzelstaaten ist eine weitgehende Dispositionsbefugnis übertragen worden. Zunächst einmal ist der Verwaltung die Möglichkeit gegeben, in Bezug auf die Publikation der Versammlungen Bestimmungen zu erlassen, ferner Versammlungen unter freiem Himmel unter der bloßen Voraussetzung der Publikation in einer Zeitung zuzulassen und endlich in weitem Umfang Ausnahmen von dem Sprachenverbot9 zu gewähren. Selbstverständlich werden wir im Landtag das dringende Verlangen an die Regierung zu stellen haben, dass sie diese Befugnisse ausnutzt. Aber freilich, erreichen ist etwas anderes. Die süddeutschen Regierungen haben von vornherein Ausführungsverordnungen erlassen, die die zulässigen Erleichterungen gewähren. Wenn Preußen dies nicht getan hat, so hat dies seinen guten Grund darin, dass Preußen diese Form des Gesetzes hat machen lassen, um es nicht nötig zu haben, weiterzugehen. Die im Gesetz gewährte Erlaubnis zu liberaleren Bestimmungen ist also nur gedacht als eine Befugnis für die außerpreußischen Staaten. Wir haben also wenig Aussicht, die preußische Verwaltung in dieser Beziehung rasch vorantreiben zu können. Die Zustände in Preußen haben sich durch den Erlass des Reichsvereinsgesetzes nicht gebessert. Das einzige, was sich geändert hat, ist der Sprachenparagraph und das Jugendlichenverbot – bösartige Verschlechterungen, Die Zulassung der Frauen hat keine nennenswerte Bedeutung mehr gehabt, nachdem das alte Vereinsgesetz in diesem Punkte bereits vorher durch die Praxis ausgemerzt worden war.

Was man auch heute noch innerhalb des Vereinsgesetzes fertigbringt, dafür nur einige Beispiele: Ich erinnere an die Versammlung, die vor etwa einem halben Jahr im Wahlkreise des Herrn von Heydebrandt (in Altenau) abgehalten werden sollte, um einmal gründlich mit diesem Junker abzurechnen. Die Versammlung wurde verboten, zunächst ohne Gründe, später, weil angeblich eine Scharlachepidemie herrsche. Tatsächlich aber war nirgends ein Scharlachkranker zu finden, nur in einer Entfernung von mehreren Kilometern war vor einigen Wochen ein Kind gestorben, aber auch nicht an Scharlach. (Große Heiterkeit.) Die Versammlung war jedenfalls unmöglich gemacht.

In der Nähe von Berlin sollte vor einigen Jahren eine Versammlung unter freiem Himmel stattfinden. Als Ort der Versammlung war ein Platz in Aussicht genommen, der mindestens 5000 Personen fassen konnte, obwohl in der ganzen Gegend wohl kaum mehr als 500 Personen für die Versammlung in Frage kamen. Die Polizei behauptete aber, dass der Platz nicht ausreichen werde, die Versammelten würden auf die Nachbarfelder übertreten, die gerade bestellt seien. Die Bauern würden sich das nicht gefallen lassen, es würde zu Prügeleien und zur Störung der öffentlichen Ordnung kommen – die Versammlung wurde verboten. (Lebhafte Heiterkeit.)

In einem anderen Falle sollte eine Versammlung gleichfalls auf dem guten alten märkischen Sandboden stattfinden. Auf dem Platze befand sich eine kleine Sandkute, die man jedenfalls vor Abhaltung der Versammlung zugeschüttet hätte. Die Polizei meinte aber, dass zweifellos irgendeiner der Teilnehmer in die Kute hineinstürzen und Hals und Beine brechen würde. Eine solche Verantwortung für das Leben eines Sozialdemokraten kann die Polizei natürlich nicht übernehmen. (Große, anhaltende Heiterkeit.) Die Versammlung wurde nicht genehmigt.

Ein anderer Fall: Der Platz, auf dem die Versammlung stattfinden sollte, lag am kühlen Strande der Havel. Natürlich musste die Versammlung verhindert werden – aber guter Rat war teuer; auf den Gedanken, die Leute könnten ins Wasser fallen, kam man nicht. Schließlich kam man auf einen genialen Gedanken: Die Havelschiffer, die als gewalttätig bekannt seien, würden, so schrieb man, sobald sie die Versammlung sehen würden, in großen Massen an dem Platze landen und aussteigen. Es würde zu ungeheuren Prügeleien und Störungen kommen, und um das zu verhüten, wurde die Versammlung verboten. (Stürmische Heiterkeit.) Dabei war damals die Havel gefroren! (Große Heiterkeit.)

Derartige Geschichten haben wir auch in Zukunft zu erwarten, denn die Bestimmungen des Reichsvereinsgesetzes sind in dieser Beziehung ebenso kautschukartig geblieben, wie sie früher waren. Auch die Saalabtreibungstaktik ist dieselbe geblieben, und den Versicherungen des Herrn von Bethmann Hollweg, die er bei der Beratung des Vereinsgesetzes gegeben hat und in denen er hier Remedur zusicherte, schenken wir kein Vertrauen, haben diese Abtreibungen doch unter dem Oberpräsidenten von Bethmann Hollweg hier in Brandenburg genauso floriert wie irgend anderwärts.

Ein Kapitel, das ich nicht übergehen kann, ist das der landrätlichen Organisation der Kriegervereine. Die Landräte haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Organisation der Kriegervereine auf breiter Basis mit dem gleichen Drucke zu fördern, mit dem die Reserveoffiziere bekanntlich in die Kriegervereine gepresst werden. Erwähnt sei auch der ungemeine Einfluss, den die Verwaltung und speziell die Landräte auf die Presse besitzen. Ein genauer Kenner der Verhältnisse, der frühere Bürgermeister Schücking, hat dieses Kapitel eingehend behandelt, und jeder, der in der Praxis steht, weiß, welch große Macht sich die Landräte durch die Beeinflussung der Kreisblätter zu sichern wissen. Sie geben ihnen die materielle Unterstützung, die in den amtlichen Bekanntmachungen und Inseraten liegt, nur unter der Voraussetzung, dass die Blätter ihre politische Gesinnung an die Regierung verschachern. Aber sie kaufen sich auch den Einfluss auf eine große Zahl von Organen, die keinen amtlichen Charakter haben: das ist der größte Teil der offiziösen. Eine Hand wäscht die andere! Die Bedeutung dieser Pressebeeinflussung ist außerordentlich. Unsere Bürokratie hat mit Recht die größte Angst vor der Öffentlichkeit und sucht durch Fälschung der Presse die Aufklärung zu unterbinden. Diese Ausnützung der Presse ist ein ganz zielbewusstes, kluges Vorgehen im Interesse der Aufrechterhaltung der bestehenden preußischen Reaktion.

Sooft ich in meine Notizen hineinsehe, entfährt mir ein Seufzer über das, was ich – wegen Zeitmangel – nicht sagen darf. (Große Heiterkeit.) Nicht umgehen aber kann ich die Besprechung des Plakatwesens. Die wenigsten Leute wissen, wie weit das alte preußische Pressegesetz in Bezug auf die Plakate geht. Danach dürfen Plakate, die einen anderen Inhalt haben als Nachrichten für den gewerblichen Verkehr, über verlorene und gestohlene Sachen, über Versteigerungen, Versammlungen und ähnliches, überhaupt niemals angebracht werden, auch nicht mit Genehmigung der Polizei. Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes sind also die meisten Plakate, die wir sehen, verboten.

Natürlich wird überall gegen dieses Verbot verstoßen. Beispielsweise ist das Plakat, das wir in diesem Saal vor uns sehen, „Ein Herz, ein Volk, ein Vaterland", zweifellos unstatthaft. Aber auch die an sich erlaubten Plakate, Versammlungsbekanntmachungen, dürfen nicht von jedem nach Belieben angebracht werden, sie bedürfen der polizeilichen Genehmigung, so dass die Polizei Bekanntmachungen unliebsamer Versammlungen durch Plakate einfach unmöglich machen kann. Überall verstößt man gegen dieses Gesetz, und kein Hahn kräht danach. Die Polizei selbst, die Eisenbahnverwaltung, die Jünglings- und Jungfrauenschutzvereine mit ihren Protektoren bis zum Kaiser und der Kaiserin, die Missionsgesellschaften – alle verstoßen gegen dieses Gesetz, und kein Staatsanwalt und kein Schutzmann findet sich, obwohl es davon doch wahrlich genug in Preußen gibt. (Heiterkeit.)

Aber wenn die Polizei will, kann sie das Gesetz gegen die Sozialdemokratie anwenden, und wir haben solche Fälle selbst in der Umgegend von Berlin erlebt. In der Regel hält sie sich zurück, weil sie fürchtet, schließlich auch zum Einschreiten gegen loyale Staatsbürger genötigt zu werden. Doch zuweilen hat sie zum Beispiel das Aushängen von Gewerkschaftsplakaten verhindert und ebenso das Aushängen von Plakaten, in denen sozialdemokratische Versammlungen angezeigt wurden.

Es ist eine selbstverständliche Forderung, dass dieses Gesetz, das selbst der Oberstaatsanwalt und das Kammergericht in einer Strafsache gegen Kiesewetter ausdrücklich als veraltet und unhaltbar bezeichnet haben, entweder beseitigt oder wenigstens gleichmäßig angewendet wird. Ich habe schon einmal den Vorschlag gemacht, Verletzungen gegen dieses Gesetz in Masse bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. In Berlin würden wir im Nu 100.000 Anzeigen beisammen haben. Vielleicht würde das den Anstoß geben zur Aufhebung dieser kindischen und schikanösen Bestimmungen, die aus dem bösen gewissen der Konterrevolution geboren sind.

Das preußische „Fremdenrecht" kann als Gipfel der preußischen Verwaltungsweisheit und Niederträchtigkeit bezeichnet werden. Tatsächlich existiert ein Fremdenrecht überhaupt nicht. Wir haben nirgends Bestimmungen über den Schutz von Fremden, außer in gewissen Staats- und Niederlassungsverträgen. Aber auch diese werden nicht so ausgelegt, wie sie sollten, und verhindern keineswegs die skandalöse Ausweisungspraxis gegen die Ausländer. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben sich jedenfalls in Ihr Bewusstsein eingebrannt, so dass ich Ihre Empörung durch meine Worte sicherlich nicht verschärfen kann.

Neben dem Ausweisungsrecht nimmt die Polizei das Recht der Beschlagnahme, der Durchsuchung der Wohnungen und der Verhaftung von Ausländern in Anspruch. Die Polizei nimmt sich das Recht heraus, mit jedem Ausländer nach Belieben geradezu Schindluder zu spielen. Was sie auf diese Weise über Ausländer erfährt, teilt sie den ausländischen Behörden mit, das gilt besonders für Russland! Die Glanzleistung aber bilden die berüchtigten Ausweisungen nach der russischen Grenze, die in der Wirkung einer Auslieferung gleichkommen, ohne die Garantien der Auslieferung. Das ist eine Schande und eine Schmach für Deutschland, und immer wieder müssen wir das Gefühl für das Entwürdigende und Barbarische dieser Vorgänge wachrufen. Man gewöhnt sich leider allzu leicht auch an die Niedertracht. Sie kennen ja das Sprichwort, dass der Aal sich daran gewöhnt habe, lebendig zerschnitten zu werden. Gerade der Deutsche hat die Neigung, in der Politik leicht zu vergessen. Deshalb ist es nötig, das Gedächtnis an diese Dinge immer wieder zu erneuern und die Frische der Empfindung nicht verblassen zu lassen. Nur dann können wir das Volk zu der Massenempörung treiben, die wir brauchen, um die Feste der preußischen Reaktion zu Fall zu bringen.

Der Ausweisungspraxis würdig an die Seite zu stellen ist das System der Auswandererkontrollstationen10, jene unfaire Vermischung brutaler polizeilicher Willkür mit klugem Geschäftsgeist für einige große Verkehrsgesellschaften, und zwar unter Ausnutzung gerade der ärmsten Ausländer.

Nicht alle Ausländer werden ausgewiesen. Wir haben auch einige Sorten, die man gern hier sieht, sogar heranzieht. Zunächst einmal gewisse Arbeiterkategorien. Die agrarischen Patrioten haben es durchgesetzt, dass das Recht der Durchtränkung Deutschlands mit fremden Völkern ihnen in Monopol und Erbpacht übergeben ist. Für sie Arbeiter zu schaffen ist der Zweck des polizeilichen Legitimationszwanges für Ausländer. Wie diese Praxis im einzelnen wirkt, zeigt zum Beispiel der Fall Renkawek. Dieser Mann, ein gelernter Goldarbeiter, befand sich in Boxhagen-Rummelsburg in seinem Berufe in fester Stellung, als er plötzlich, 1907, vom Amtsvorsteher die Weisung erhielt, binnen 14 Tagen landwirtschaftliche Beschäftigung zu nehmen oder Preußen zu verlassen. Ein ebensolcher Fall ist mir jüngst aus Westfalen bekannt geworden. Es ist dagegen nichts zu machen. Die zuständigen Instanzen behaupten, dass die Verwaltungsbehörden sich innerhalb ihrer Befugnis bewegen. Wir sind dieser Verwaltungspraxis gegenüber wehrlos, wir können sie nur als Agitationsmaterial ausnutzen, und das ist glücklicherweise schließlich noch immer das, was den Herren die größten Unbequemlichkeiten besorgen kann. („Sehr richtig!")

Dann gibt es noch eine andere Sorte von Ausländern, die man mit großer Liebe geduldet hat und duldet, das sind die Spitzel, die russischen Spitzel, von denen wir auch jetzt noch eine ganze Menge in Deutschland haben. Ich weiß bestimmt, dass die berüchtigte Sinaida Jutschenko sich heute noch in Deutschland, und zwar in nächster Nähe von Berlin, aufhält. („Hört! Hört!") Dass sie hier ist, befleckt den deutschen Boden nicht, wohl aber diejenigen, die sie hier dulden, und denen gönnen wir diesen Schmutz. („Sehr gut!") Im Übrigen ist gerade jetzt gemeldet worden, dass das auswärtige russische Polizeiwesen neu organisiert ist und dass der berüchtigte Spitzel Harting-Landesen an die Spitze dieses Zweiges der russischen Polizei gestellt ist, mit dem Hauptquartier in Belgien (Brüssel oder Namur), während nach Berlin eine Spitzelfiliale mit der Oberleitung auch für Österreich und die skandinavischen Länder kommen soll, wenn sie nicht schon da ist, wie ich fest überzeugt bin. („Hört! Hört!")

Ich muss nun kurz auf die Freiheit der Wissenschaft und die Stellung unserer Volksschullehrer eingehen. Der gegenwärtige Zustand ist so, dass jeder Volksschullehrer, der nicht par ordre du moufti auch entgegen seiner eigenen Überzeugung so lehrt, wie die vorgesetzten Instanzen wollen, auf die Straße gesetzt wird. Dutzende von derartig gemaßregelten Lehrern laufen in Preußen herum, und das böse Beispiel Preußens hat auch schon die früher besseren Sitten anderer deutscher Staaten verdorben. Der Einfluss der preußischen Verwaltung ist überhaupt nicht auf Preußen beschränkt, sondern überall bemüht sie sich, die preußische Praxis auch außerhalb Preußens überall und mit Erfolg einzuführen. Auch in Bremen, Baden, Württemberg stehen Maßregelungen der Volksschullehrer in voller Blüte. In Bremen ist dieser Fall gerade jetzt aktuell. Eine ganze Anzahl von Lehrern wurde dort wegen freiheitlicher, angeblich sozialistischer Gesinnung ihres Amtes enthoben und einem Disziplinarverfahren unterworfen. Wir können diesen tapferen Kämpfern in der Lehrerschaft, die trotz der schweren Gefahr ihren Kampf gegen die zermalmende Macht der volksfeindlichen Bürokratie aufzunehmen gewagt haben, nur unsere wärmste Sympathie aussprechen. (Lebhafte Zustimmung.)

Mit den Hochschulen steht es nicht besser. Wir haben unsere Tendenzprofessoren, wir haben Herrn Ehrenberg, Herrn Ruhland, wir haben auch die Fälle Konrad Schmidt und Michels und, nicht zu vergessen, den Fall Arons11, der Thron und Altar durch den schwarzen Plan gefährdete, an der Berliner Universität sozialdemokratische Physik zu lehren. Da musste sofort eingegriffen werden, sonst hätte er vielleicht die Gesetze der Physik in sozialistischem Sinne beeinflussen können. (Heiterkeit.) Dass sozialdemokratische Dozenten an der Universität nichts zu schaffen haben, darüber ist man sich in den maßgebenden Kreisen einig. Auf dem Hochschullehrertag hat man zwar hiergegen opponiert. Man hat es als einen Skandal bezeichnet, dass die wissenschaftliche Lehre, die auf den Universitäten den Gegenstand ständiger Angriffe bildet und von zahlreichen Gegnern polemisch erörtert wird, dass man dem Marxismus an den Universitäten keine Vertretung gibt. Einige tapfere Leute ergriffen Partei für eine wahre Freiheit der Wissenschaft, und besonders die Gebrüder Weber haben sich in diesem Kampfe als Männer gezeigt. Aber gebessert hat sich nichts.

Wir müssen verlangen, dass den Lehrkörpern das uneingeschränkte Selbstverwaltungsrecht gegeben wird, dass sie in demokratischer Weise organisiert werden und dass niemand wegen seiner politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Betätigung vom Lehramt ausgeschlossen werden darf, eine Forderung, die wir analog selbstverständlich überhaupt für alle Beamten stellen. Für die Studenten, deren politische Rechte bei uns in der unerhörtesten Weise beeinträchtigt werden, verlangen wir die Beseitigung der rückständigen Disziplinargesetzgebung, die ohne die Kautelen irgendeines Rechtsmittels schwere Strafen und auch die entwürdigende Karzerhaft zulässt, und wir verlangen, dass die Disziplinargewalt an den Universitäten sich auf die Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung beschränkt. Denken Sie an die Auflösung der Berliner Junkerschaft, an das Verbot von Vorträgen politisch radikaler Gelehrter, wie es in Berlin und anderwärts gegenüber studentischen Organisationen erfolgt ist. Die Universitäten schämen sich auch heute noch nicht, die Papiere russischer Studenten durch die deutsche Polizei den russischen Polizeibehörden aushändigen oder doch mitteilen zu lassen. Wir verlangen, dass die Ausländer an den Universitäten auch in Bezug auf die Gebühren den Inländern völlig gleichgestellt werden.

Die Sozialdemokraten werden von der Verwaltung als minderen Rechts betrachtet. Sie können nicht Beamter oder Lehrer werden, man duldet sie nicht an den Universitäten, man möchte sie am liebsten aus der Rechtsanwaltschaft herauswerfen, man bestätigt sie nicht als Mitglieder einer Schuldeputation, ja man hält sie nicht einmal für fähig, an Jugendliche Turnunterricht zu erteilen. Die Bürokratie hat sich in ihrer unglaublichen Frechdachsigkeit herausgenommen zu behaupten: ein Sozialdemokrat habe nicht die erforderliche sittliche Reife für die Erteilung dieses Unterrichts. („Hört! Hört!" und „Pfui!") Um Himmels willen, lassen wir uns deswegen die Galle nicht überlaufen. Was diese Herren für sittlich halten, halten wir noch lange nicht für sittlich. („Sehr richtig!") Herr Schwartzkopff und Herr Trott zu Solz mit ihrer Sittlichkeit der Verhöhnung von Gesetz und Gerechtigkeit würden in einem sozialistischen Staat sicher für disqualifiziert erachtet und in kein Amt gewählt werden. („Sehr richtig!") Aber in Preußen ist nun einmal alles von oben nach unten gekehrt, und wir Sozialdemokraten besitzen die preußisch patentierte Sittlichkeit wirklich nicht und wollen sie auch gar nicht haben.

Mit den schärfsten Mitteln sucht man uns auch jede Möglichkeit zu nehmen, auf die Soldaten einzuwirken, während die Soldaten- und Marineagitation und -organisation reaktionärer christlicher Vereine amtlich nicht nur geduldet, sondern nach Kräften gefördert wird.

Das Schlussurteil über unsere Verwaltung ist ein miserables. Von ihren Leistungen muss man sagen, sie sind unzensierbar. Die preußische Verwaltung ist nicht nur in Bezug auf eine wirkliche Reformtätigkeit im modernen Sinne überall unfruchtbar gewesen, sie ist nicht nur durchaus unzweckmäßig eingerichtet und dabei so teuer wie möglich, sie ist nicht nur rückständig auf allen Gebieten, sondern häuft auf diese Rückständigkeit noch den brutalen Drang, mit dem Polizeiknüppel und polizeilicher Reglementierung plumper und kleinlichster Art in alle Verhältnisse einzugreifen, um alles nach den Wünschen der herrschenden Bürokratie zu fördern. Daher müssen wir diese Bürokratie auf das energischste bekämpfen. Dazu bedarf es zunächst einmal der Kenntnis dessen, was sie tun darf, und dessen, was sie tut, ohne es zu dürfen.

Sie sehen aus dem kleinen Auszug aus meinem Material, das ich vorgetragen habe, wie umfangreich das Material sein muss, das ich nicht mehr vortragen kann. Es ist ein ungemein dankbares Gebiet; man kann agitatorisch mit diesen Dingen geradezu aufpeitschend wirken.

Ich habe in meinen Thesen besonders den Unterricht in der Bürgerkunde verlangt, natürlich in einer Bürgerkunde, wie wir sie für richtig halten, die nicht in einem Drill im Sinne patriotisch-monarchistischer Gesinnungszüchterei besteht. Selbst bei unseren politisch tätigen Parteigenossen erleben wir noch täglich eine merkwürdige Unkenntnis über die Befugnisse der Verwaltung. Da werden Vergnügungen bei der Polizei angemeldet, und es wird um Genehmigungen nachgesucht, wo es weder einer Anmeldung noch einer Genehmigung bedarf. Sogar in Berlin wird auf Flugblätter noch der verantwortliche Redakteur gesetzt. Weil es dringend nötig ist, dass die Kenntnis von der Zuständigkeit der Verwaltungsorgane mehr verbreitet wird, habe ich die Forderung der Bürgerkunde als Unterrichtsgegenstand aufgenommen.

Die Verwaltung zeigt sich nach alledem als die Verfechterin eigener Interessen und als Dienerin und Handlangerin der herrschenden Klassen, vor allem des Junkertums. Das Junkertum in der Verwaltung vertritt dabei nicht nur die Interessen der Bürokratie, sondern gleichzeitig die speziellen Junkerinteressen. Und darin liegt der besondere Grund für die rücksichtslose Energie und die bewundernswerte Zielklarheit, mit der die junkerliche Bürokratie ihre Politik führt. Als Junker haben sie den wichtigsten Teil der Verwaltung in der Hand zur Wahrnehmung der Interessen der Junker, wie denn der preußische Parlamentarismus für sie nur eine besonders bequeme Methode bildet, ihre Sonderinteressen allenthalben durchzusetzen. Das kommt auch in der Finanz-Verwaltung des preußischen Staates zum Ausdruck und kaum minder im Reich, das ja nichts anderes ist als ein erweitertes Preußen.

Nach oben Nicken und Bücken, nach unten Drücken und Zwicken. Das ist die normale Methode des preußischen Normalbürokraten. (Lebhafter Beifall.)12

Ein altes Sprichwort sagt: Man kehrt stets zu seiner ersten Liebe zurück. So kann auch ich diesen Teil nicht verlassen, ohne noch mit einem Worte hingewiesen zu haben auf die zahlreichen ungesetzlichen Verfolgungen, denen besonders in den letzten Monaten die Jugendbewegung des Proletariats von Seiten der Verwaltungsbehörden ausgesetzt gewesen ist. Sie haben alle davon gelesen, wie unpolitische Jugendorganisationen in zweifellos ungesetzlicher Weise für politisch erklärt wurden, wogegen selbstverständlich mit aller Energie vorgegangen werden wird. Sie werden mit mir der Meinung sein, dass das Proletariat die Aufgabe hat, der bedrängten Jugend mit allen zu Gebote stehenden Mitteln beizustehen in dem Kampfe gegen die übermächtige Verwaltung. (Zustimmung.)

Die Verwaltung hat ein Schutzmittel um sich errichtet, das die Angriffe auf sie und eine Reform auf das äußerste erschwert: Das ist die außerordentliche Kompliziertheit und Undurchsichtigkeit der Bestimmungen über die Zuständigkeit der einzelnen Verwaltungsorgane und über das Rechtsmittelverfahren gegenüber der Verwaltung. Außerdem wird geradezu systematisch verhindert, dass der Staatsbürger in der Schule oder sonstwo über seine Rechte im Staate belehrt wird. Es ist ja bekannt, dass die Volksschüler und Gymnasiasten wohl belehrt werden über die Rechte der alten römischen und griechischen Staatsbürger, während sie von den Rechten der deutschen und preußischen Staatsbürger nichts erfahren.

Die Bürokratie hat sich einst sogar eine ganz eigene Sprache geschaffen, genau wie die Kirche die lateinische oder griechische Sprache benutzte, um zu verhindern, dass die misera contribuens plebs, das elende, steuerzahlende Volk, in das Dunkel der Verwaltung hineinleuchten könne. Auch gegenwärtig ist ja die Sprache unserer Verwaltung noch eine etwas sehr eigentümliche. Man pflegt sie als papiernes Deutsch, als Beamtenstil, zu bezeichnen, und es fällt im Allgemeinen dem einfachen Manne sehr schwer, sie zu verstehen. Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass dies Schutzmittel der Verwaltung für sie selbst mehr und mehr unmöglich wird. Unser modernes Staatswesen verlangt von der Verwaltung große Beweglichkeit und Durchsichtigkeit im Interesse der Verwaltung und im Interesse der herrschenden Klassen selbst, so wie die Kleinstaaterei aufhören musste im Interesse der herrschenden Klassen. So finden wir auch heute innerhalb der Bürokratie selbst Bestrebungen auf Beseitigung der papiernen Sprache und der formalen Schwierigkeiten in Bezug auf das Verständnis der einzelnen Verwaltungsvorschriften. Tatsache aber ist, dass es durch diese Kompliziertheit des Verwaltungssystems der Verwaltung heute noch ungemein leicht gemacht wird, ihr Kompetenzgebiet unversehens zu erweitern. Innerhalb des Parlaments sitzen, abgesehen von den gerissenen Bürokraten der Konservativen, bei den übrigen herrschenden Parteien der Nationalliberalen, Freisinnigen und auch beim Zentrum sehr wenig wirkliche Kenner der Verwaltung, und so entwickelt sich eine gewisse Scheu, in dieses Wespennest, in dieses Labyrinth überhaupt hinein zu steigen Man überweist vielfach durch die Gesetzgebung den gefährlichsten Verwaltungsinstanzen neue Machtmittel, ohne davon auch nur eine rechte Ahnung zu haben. Schücking hat ebenfalls auf diese parlamentarische Überlegenheit hingewiesen, die die Landräte in dieser Beziehung im preußischen Abgeordnetenhause haben. Wir müssen uns deshalb besondere Mühe geben, diese geriebenen Füchse in all ihre Schlupfwinkel zu verfolgen.

Dass im Allgemeinen eine Tendenz besteht, überhaupt den Beamtencharakter weiter auszudehnen, dass wir sozusagen eine Neigung zur Pensionsberechtigung, zu Papachen- und Mamachenexistenzen, haben, ist ja jüngst in so köstlicher Weise gegeißelt worden.

Die Mittel zur Kontrolle über die Verwaltung, die wir gegenwärtig besitzen, sind einmal der Aufsichtsweg, dann eine Art Rechtsweg, die Verwaltungsgerichtsbarkeit, und schließlich die parlamentarische Behandlung. Letztere Kontrolle ist jedoch, wie schon nachgewiesen, kaum einen Pfifferling wert, abgesehen von der außerordentlich wichtigen Wirkung der Aufrüttelung der Massen nach außen hin.

Der Beschwerdeweg ist natürlich nichts anderes, als das Recht, den Teufel beim Beelzebub oder bei seiner Großmutter zu verklagen. Die Verwaltungsjustiz ist das einzige, was noch einen gewissen Rückhalt bietet. Zunächst aber ist sie für weite Zweige nicht gegeben, besonders nicht für das Gebiet der Schule, wie ich schon ausgeführt habe; nur da ist sie zulässig, wo das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Aber auch sie ist sehr mangelhaft. Von den Stadtausschüssen zu schweigen, ist der Kreisausschuss nichts anderes als der Landrat und der Bezirksausschuss nichts anderes als der Regierungspräsident. Und was sonst noch darin sitzt, taugt nicht mehr als Landrat und Regierungspräsident. Wir Sozialdemokraten haben meines Wissens nur in einem einzigen Kreisausschuss einen Vertreter, den Genossen Herbst aus Köpenick. Die unteren Verwaltungsgerichte sind sämtlich Verwaltungsorgane, keine unabhängigen Gerichte, sie entbehren der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder, dieser ersten Voraussetzung für jede richterliche Tätigkeit. Das Oberverwaltungsgericht hat allerdings äußerlich die Unabhängigkeit der an ihm beschäftigten Richter aufzuweisen. Aber zu diesen Richtern werden nur siebenmal gesiebte Leute genommen, die meist seit Jahren in der Verwaltung tätig waren, so dass sie die engste Fühlung mit den Bedürfnissen der „Staatsräson" haben. Man muss es für ausgeschlossen erklären, dass das Verwaltungsgericht bei einer ernsten politischen Angelegenheit ein Bollwerk sein kann gegenüber der Staatsgewalt. In Kleinigkeiten haben wir ja zuweilen Erfolge erzielt, und Sie wissen, welches Lob die Bürokratie dem Oberverwaltungsgericht zu spenden pflegt. Wir können dieses Lob nicht unterschreiben. Immerhin ist das Oberverwaltungsgericht noch die beste von allen in Frage kommenden Instanzen.

Beim Vorentwurf zum Strafgesetzbuch hat man in Erwägung gezogen, ob Bestimmungen krimineller Art gegen den Missbrauch der Amtsgewalt zu erlassen seien. Das ist als inopportun bezeichnet worden. Man ist also der Ansicht, dass die Verwaltung in krimineller Beziehung keiner schärferen Abgrenzung bedarf als gegenwärtig. Wir sind anderer Meinung. Unsere Erfahrung lehrt, dass es sehr schwierig ist, ein Strafverfahren wegen Missbrauchs der Amtsgewalt gegen einen Beamten durchzuführen. Es ist wohl möglich, die armen Schacher der unteren Beamtenschaft wegen irgendwelcher kleinen Vergehen auf die Anklagebank zu bringen; aber wegen Missbrauchs der Amtsgewalt ist es schon bei einfachen Schutzleuten sehr schwer, und bei anderen als bei den untersten armen Schachern der Verwaltungsbürokratie gelingt es überhaupt nie, es sei denn, dass der Betreffende der Bürokratie unbequem ist und etwa wegen Hochverrats unter Anklage kommt, nicht weil er gegen die heiligen Rechte des Volkes gefehlt hat, sondern gegen die usurpierten Ansprüche der Bürokratie. So kommen gerade die anständigsten Elemente der Verwaltung gelegentlich vor den Richterstuhl, die Waldeck, die von Kirchmann usw. Ein Fall aus den Wahlen 1903 ist sehr bemerkenswert. Damals wurden in einem kleinen Ort nahe bei Berlin unsere Kontrolleure aus dem Wahllokal hinausgeworfen und geprügelt. Der Wahlvorsteher, ein simpler Bauer, wurde wegen Nötigung usw. angeklagt. Es stellte sich aber in der Verhandlung heraus, dass er das Hinauswerfen unserer Kontrolleure auf telegraphische Weisung des Landrats vorgenommen hatte. Er wurde deshalb von der Anklage der Nötigung freigesprochen. Ich erstattete nun Anzeige gegen den Landrat, bekam aber durch alle Instanzen bis zum Kammergericht die Antwort, es sei ausgeschlossen, dass der Landrat sich der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens bewusst war. Die Erhebung der Anklage wurde abgelehnt. (Heiterkeit.) Der Gemeindevorsteher war wegen desselben Deliktes angeklagt, er war hinreichend verdächtig, sich der Rechtswidrigkeit des Vorgehens bewusst gewesen zu sein. Der Landrat dagegen nicht. (Adolph Hoffmann: „Er war nicht intelligent genug!") Auch hier gilt also: Die Kleinen hängt man allenfalls, aber die Größeren und Großen lässt man ganz gewiss laufen.

Wir müssen verlangen, dass Unkenntnis der Gesetze einen Beamten niemals entschuldigen kann, weder kriminell noch zivilrechtlich. Solche Vorgänge sind es, die Gneist zu dem Ausspruch veranlasst haben, es sei allezeit die Eigentümlichkeit Preußens gewesen, dass die Verwaltung die Gesetze in ihr Gegenteil verkehrt habe. („Sehr richtig!") In erster Linie müssen wir verlangen, dass die oberen Beamten zur Verantwortung gezogen werden, welche die Unkenntnis der unteren verschuldet haben. Die Hauptschuldigen sitzen zumeist sehr hoch, bis hinauf ins Ministerium. Das Landratsamt ist die gefährlichste Brutstätte der Ungesetzlichkeit, der politische Garten der Circe, wo Recht in Unrecht verkehrt wird. Und die Junker wissen sehr gut, was ihnen diese Verwaltung bedeutet. Ich bin fest überzeugt, man gibt uns viel eher ein demokratisches Wahlrecht als eine demokratische Verwaltung, weil man genau weiß, dass bei der Verwaltung schließlich doch die Macht liegt.

Als Schücking seine heftigen und außerordentlich lehrreichen Angriffe aus der Verwaltung heraus gegen die Verwaltung richtete, hatte die Verwaltung nichts Besseres zu tun, als durch Einleitung des Disziplinarverfahrens zu bestätigen, dass er in allen Beziehungen recht hatte, dass er nicht zu schwarz, sondern wohl noch zu günstig gemalt hatte. Die Erfahrungen Schückings werden weit übertroffen durch die Fülle der Erfahrungen, die das organisierte Proletariat täglich in seinem Kampfe zu machen Gelegenheit hat.

Ich habe Ihnen Thesen über die Reform der Verwaltung unterbreitet. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich bereits im Allgemeinen das jeweils Einschlägige daraus anzudeuten gesucht; und schon wegen der fortgeschrittenen Zeit muss ich es mir versagen, diese Vorschläge, die Ihnen gedruckt vorliegen, vorzutragen und näher zu begründen.

Ich habe nicht so disponiert wie das Kommunalprogramm, nicht nach der Zuständigkeit der Stellen, an die sich die Forderungen richten, sondern möglichst nach ihrem organischen Zusammenhange. Doch habe ich oft besonders angegeben, an welche Instanz sie zu richten sind.

Meine Vorschläge bedeuten selbstverständlich ein weit ausschauendes Programm, das sich nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt. Es muss einer einsichtigen Beurteilung der Vorschläge überlassen bleiben, in welchem Zusammenhange die einzelnen Forderungen und für welches Stadium der Entwicklung sie jeweils gemeint sind.

Wir haben uns bisher mit der Verwaltungsreform noch wenig befasst. Ich glaube aber, dass hier ein wichtiges Gebiet für unsere künftige Tätigkeit liegt, zumal die preußische Regierung gleichzeitig mit der Ankündigung der Reform des Wahlrechts auch eine Reform der preußischen Verwaltung angekündigt hat.

Am 19. Januar vorigen Jahres hat der Minister des Innern von Moltke seinen Plan in kurzen Zügen entwickelt. Herr von Moltke hat sich darin – ein großer Schweiger ist er allerdings – als ein großer Denker nicht enthüllt. Die Vorschläge sind weit davon entfernt, auch nur annähernd eine Reform in unserem Sinne zu sein. Sie kennzeichnet sich als eine Reihe von Vorschlägen, die nur eben der Vervollkommnung der bürokratischen Regierungsform dienen sollen. Der Minister will auch eine gewisse Dezentralisation eintreten lassen. Diese soll nur hinuntergehen bis zum Landrat, und die Machtvollkommenheit des Landrats und des Regierungspräsidenten soll nach der ausdrücklichen Erklärung des Ministers noch über den gegenwärtigen Stand hinaus erweitert werden. Die Aufgaben, die nach dem Programm des Ministers den Landräten zugewiesen werden sollen, sind so weitschichtig, dass sogar von konservativer Seite Bedenken dagegen erhoben wurden, und das will gewiss viel sagen.

Der Minister erklärt, es solle vor allem die überflüssige Häufung von Instanzen beseitigt werden. Aber gerade die Instanzen, die beseitigt werden sollen, sind die, die als Rechtsmittelinstanzen für das Publikum in Frage kommen können. Wahrlich, eine schöne Reform! Im Übrigen soll der Aufbau der Behörden verändert werden. Es ist auch von einer Vereinfachung der Formen des bürokratischen Geschäftsganges die Rede; und Moltke bezeichnet es geradezu als Hauptsache, dass das Schreibwerk vermindert werde. Daran erkennt man am besten, was es mit der angeblichen Verwaltungsreform auf sich hat. Man kann eben von einer Distel keine Rosen oder Veilchen verlangen, ebenso wenig von einem Minister, dass er Einsicht in die wirkliche und dringende Reformbedürftigkeit der Verwaltung besitzt.

An einer Stelle seines Programms macht Moltke auch eine dunkle Andeutung, als ob er den Selbstverwaltungskörpern gewisse erweiterte Rechte geben möchte. Dazu heißt es aber, das könne nur Sache der innersten und ernstesten Selbstprüfung sein, ob man so weit gehen könne; dieser Teil der Reform sei bei weitem der schwierigste und inhaltsreichste

Schließlich wird bemerkt, es gebe eine große Menge weniger wichtiger Geschäfte, die man unbedenklich nach unten abgeben könne. In diesem verächtlichen Wort „nach unten hin" drückt sich am besten die souveräne Verachtung gegenüber den Selbstverwaltungskörpern aus.

In Aussicht steht übrigens auch ein Gesetzentwurf, wonach Städte über 25.000 Einwohnern nicht mehr kreisfrei werden, also unter der Despotie des Landrates verbleiben sollen. Dass man auch die Provinzschulkollegien beseitigen will, für die wir keine besondere Begeisterung verspüren, und dass man ihre Rechte dem Regierungspräsidenten übertragen möchte, sei nebenbei noch erwähnt.

Vom Verein der deutschen Ingenieure ist an den Landtag ein Antrag gerichtet worden, in dem der besondere Wunsch ausgesprochen wird, dass bei der Zusammensetzung unserer Bürokratie in höherem Maße die Sach- und Fachkundigen und nicht mehr die eigentlichen Verwaltungsbeamten bevorzugt werden sollen. Ich bezweifle, dass dieser Wunsch Erfüllung finden wird.

Ob wir bei unseren Verwaltungsreformbestrebungen auf eine energische Mitarbeit der Liberalen zu rechnen haben, erscheint mir höchst fraglich. Sie sind zwar nach ihren Worten und ihrem Programm für eine Ausdehnung der Selbstverwaltung; aber sie werden sich hüten, energisch auf unsere Seite zu treten, wenn wir die Ansprüche für die Masse des Volkes, die wir zu erheben verpflichtet sind, durchzusetzen uns bemühen werden. Nicht einmal für die Gemeinden erstreben sie ja das demokratische Wahlrecht. Es wird von den Liberalen heißen, wie Hoffmann von Fallersleben einst sang:

Viel getrunken, viel geklungen,

viel geredet, viel gesungen,

nichts erstrebt und nichts errungen.

Und so werden sie es treiben,

werden singen, reden, schreiben,

und – es wird beim Alten bleiben!

(Lebhafte Zustimmung.)

Wir müssen den Kampf gegen die Bürokratie als einen Machtkampf verstehen und betrachten, nicht als einen Kampf, der rein auf parlamentarischem Boden geführt werden kann. Nur wenn wir die Massen aufrütteln, können wir auf einen Erfolg rechnen. Selbst Schücking erkennt an, dass in der Verwaltung allenthalben die Macht und nicht etwa rechtliche Tendenzen den Ausschlag geben. Der Kampf um die Staatsgewalt wird von uns geführt auch innerhalb des Kampfes um das Wahlrecht. Er wird von uns geführt mit aller Rücksichtslosigkeit und Schärfe. Natürlich kämpfen wir nicht gegen die unteren Beamten, die Proletarier sind und zu uns gehören, sondern wir führen ihn gegen die wirklichen Schuldigen. Des Schutzmanns Majestät gilt ja nur, solange der Schutzmann ein Handlanger, ein Hofhund für die Interessen der herrschenden Klassen ist. Verstößt er gegen diese Hofhundepflicht, dann ist seine Majestät sofort dahin, dann wird er von der Bürokratie ohne Erbarmen zermalmt. Wir müssen diese Beamtenproletarier und die Kreise, aus denen sie sich rekrutieren, mit allen zu Gebote stehenden Aufklärungsmitteln für unsere Weltanschauung zu gewinnen suchen. Das ist der wichtigste Teil unseres Kampfes um die Verwaltung. Haben wir diese Funktionäre der Staatsgewalt auf unserer Seite, dann haben wir einen wichtigen Teil der Staatsgewalt selbst in unseren Händen.

Der Kampf um die Demokratisierung der Verwaltung ist ein integrierender Bestandteil des Wahlrechtskampfes. Das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht ist nichts weiter als die Spitze all unserer demokratischen Forderungen. Wir können uns natürlich nicht damit begnügen, sozusagen auf das Haus der Reaktion und Despotie nur ein demokratisches Dach zu setzen. Wenn wir eine Demokratisierung des Wahlrechts zum Landtag fordern, dann müssen wir auch die Forderung eines demokratischen Wahlrechts für die übrigen Verwaltungskörper, die Gemeinden, die Kreise und die Provinzen erheben. Sonst tun wir nur halbes. Wir können unsere Angriffe auf die heutige Verwaltungsmisere nur dann voll wirksam und überzeugend gestalten, wenn wir nicht nur beleuchten, in welcher Weise Preußen verwaltet wird, sondern auch zeigen, wie die Verwaltung nach unserer Auffassung und unseren Forderungen beschaffen sein müsste.

Die Forderung der Demokratisierung darf nicht haltmachen beim Wahlrecht, wir müssen sie verallgemeinern. Die Fülle des Materials, das uns hier für unsere Propaganda fortgesetzt in die Hände strömt, ist geradezu unerschöpflich. Was ich Ihnen in meinem Referat, über dessen Länge Sie wohl alle mit Recht empört sind (Widerspruch.), vorgetragen habe, ist nichts als ein kleiner Ausschnitt. Keine Leporelloliste der ganzen Welt kann sich mit dem Sündenregister der preußischen Verwaltung vergleichen. Eine unerschöpfliche Fundgrube steht uns da offen. Eher könnten wir das Meer ausschöpfen als diese Fülle der Willkür, Rohheit und Rückständigkeit.

Ein demokratisches Wahlrecht ohne Verbindung mit der Demokratisierung der Verwaltung wäre eine Attrappe ohne Inhalt, eine Tonne für den Walfisch. Das demokratische Wahlrecht ist wirkungslos, solange draußen, außerhalb des Parlaments, die Machtverhältnisse nicht verschoben sind. Ein Parlament wird nie und nimmer imstande sein, seinen ersten Willen in ernsten Angelegenheiten gegen die Staatsregierung und ihre außerparlamentarischen Machtmittel durchzusetzen, solange die Verwaltung keine demokratische ist. Deshalb ist der Kampf um die demokratische Verwaltung das Herz- und Hauptstück des Wahlrechtskampfes. Diesen Gedanken müssen Sie hinaustragen in die Massen.

In Preußen wird der Kampf um das Wahlrecht, der Kampf um eine Reform der Verwaltung beim gewalttätigen Charakter des preußischen Staates sehr rasch zu einem Kampf gegen die Staatsgewalt werden, zu einem Kampf um die Staatsgewalt, der auf Biegen oder Brechen geht. Es wäre gewiss eine Illusion zu glauben, dass man die preußische Verwaltung in absehbarer Zeit in unserem Sinne reformieren könne. Indes, wie bemerkt, es erhöht den Wert unserer Kritik und unserer Angriffe, wenn wir den heutigen Zuständen die Ziele gegenüberstellen, deren Verwirklichung wir anstreben.

Die Gesetzlichkeit ist in Preußen nur eine dünne Moosdecke, die über dem tiefen Polizeisumpf ausgebreitet ist. Das klassenbewusste preußische Proletariat ist weit entfernt davon, der preußischen Wirtschaft auch nur das geringste Vertrauen zu schenken. („Sehr richtig!") Es erblickt im preußischen Staat und in der preußischen Verwaltung seinen Erzfeind, den es mit allen Machtmitteln zu bekämpfen gilt, rücksichtslos und ohne allzu große Ängstlichkeit. (Lebhafte Zustimmung.) Von der anderen Seite geht man ja auch nicht mit Glacéhandschuhen vor. („Sehr richtig!") Eine solche Gesellschaft niederzuringen gelingt nicht mit Rosenwasser und sanftmütigen Predigten.

Ein Spruch des frommen Sebastian Franck lautet: „Tyrannei wird billig mit Aufruhr bestraft." Wir Sozialdemokraten wissen, dass wir in Preußen unter einer echten Tyrannei leben. Wir wollen darum aber keineswegs den Aufruhr predigen. Wir haben andere Mittel, um unseren Willen durchzusetzen. Wir haben vor allem das Mittel der Propaganda, der Aufrüttelung der Massen, wir haben das Mittel der Schürung der Unzufriedenheit, der leidenschaftlichen Empörung gegen den preußischen Staat und seine Verwaltung. Wenn wir diese Stimmung in den Massen entfesselt haben, wenn sie den nötigen Siedegrad erreicht hat, dann werden die herrschenden Gewalten es sich wohl doch überlegen, ob sie erst einen Ausbruch dieses Vulkans abwarten, oder ob sie friedlich auf die Wünsche der Massen eingehen wollen.

Alle die Siege der Junker, die mit der brutalen Macht der preußischen Verwaltung erfochten werden, sind Pyrrhussiege und werden von Tag zu Tag mehr Pyrrhussiege werden. „Noch ein solcher Tag, und wir sind verloren!" Denn diese Siege der brutalen Gewalt werden die loyale Gesinnung der Staatsbürger immer mehr unterwühlen, um dieses fürchterliche Polizeiwort zu gebrauchen. Dieses Unterwühlen ist etwas außerordentlich Nützliches. Wir müssen die schärfste Aktivität in diesem Kampfe entfalten.

Sie wissen, dass der Kampf gegen und um die Verwaltung der wichtigste Teil des Kampfes um die außerparlamentarische Macht ist, und Sie wissen, dass der Kampf um die außerparlamentarische Macht das wichtigste Stück des Kampfes um eine wirkliche Demokratisierung unseres Staatswesens, um eine demokratische Reform auch unseres Wahlrechts und um die Schaffung eines wirklich kräftigen, seiner selbst bewussten und machtvollen Parlaments ist. Sie wissen, dass die Erringung der Demokratie in Preußen die Voraussetzung ist für jeden ernsthaften Fortschritt im Deutschen Reiche, und Sie wissen, dass die Reaktion in Preußen und im Deutschen Reich für die weitere Entwicklung auch aller anderen Kulturstaaten einen Hemmschuh bedeutet.

So dürfen wir sagen, dass das Proletariat und alle fortgeschrittenen Elemente der Welt erwarten, dass das Proletariat Preußens in diesem Kampfe gegen die preußische Junkerschmach und Reaktion seine Schuldigkeit tut. Von dem Minister Moltke ist in Bezug auf die preußische Verwaltung gesagt worden: panta rhei, alles ist im Fluss Das hat dieser verkrüppelte Bürokrat, wie sein Programm zeigt, freilich in einem engherzigen, bürokratischen Sinne gemeint. Nach unserer Auffassung ist allerdings alles im Fluss, und wir wissen, wohin der Fluss zu weisen hat, und werden ihn in das richtige Bett hinein lenken Es ist nicht wahr, dass in Preußen die Souveränität der Fürsten, wohl aber ist es wahr, dass die Souveränität der Verwaltung stabilisiert ist wie ein rocher de bronze, aber diesen ehernen Felsen wird das Proletariat untergraben und zu Fall bringen.

Ich rufe Sie auf zu einer frischen und verwegenen Jagd gegen Henkersbrut und Tyrannen, gegen die Junkerreaktion in Preußen! (Stürmischer anhaltender Beifall.)13

1 Der Deutsche Reichstag behandelte am 12. und 13. Januar 1910 zwei Interpellationen gegen die Versetzung von Reichsbeamten aus Kattowitz, die dort bei den Stadtverordnetenwahlen für polnische Kandidaten gestimmt hatten.

2 Leiter der Hamburg-Amerika-Linie.

3 Gemeint sind die Junker, die gegen den Bau des Mittellandkanals opponierten. Die Red.

4 Verurteilung des Bürgermeisters von Husum, Dr. jur. Lothar Schücking, am 24. September 1909 durch das Oberverwaltungsgericht zum Verlust des Bürgermeistertitels und der Pensionsansprüche, weil er in dem Buch „Die Reaktion in der preußischen Verwaltung" vom Bürgermeister XY in Z, Berlin 1908, Kritik an der Verwaltung Preußens im Sinne des bürgerlichen Liberalismus geübt hatte.

5 Verhandlungen vor dem Schwurgericht in Kiel wegen Riesenunterschlagungen auf der Kieler Werft im November/Dezember 1909. Angeklagt waren Magazindirektoren, Aufseher, Beamte und andere wegen Unterschlagungen, Fälschungen, Bestechungen, doch verneinten die Geschworenen sämtliche 70 Schuldfragen.

6 Karl Liebknecht meint die Enthüllungen von Professor Delbrück im Märzheft 1909 der konservativen Monatsschrift „Preußische Jahrbücher", wonach die Steuerveranlagungen zugunsten des Junkertums um zwei Drittel hinter dem eigentlichen Wert zurückblieben.

7 Colander, Leiter der Erziehungsanstalt „Blohmesche Wildnis" bei Itzehoe, wurde im Jahre 1909 zweimal wegen Misshandlung von Mädchen und einmal wegen Verleitung zum Meineid vor Gericht gestellt und zu insgesamt 17 Monaten Gefängnis und 1½ Jahren Zuchthaus verurteilt.

Auf Grund einer sozialdemokratischen Interpellation in der Berliner Stadtverordnetenversammlung wurde der Leiter der Erziehungsanstalt Mielczyn, Breithaupt, wegen Misshandlung seiner Zöglinge am 9. September 1909 seines Amtes enthoben und am 25. Dezember 1910 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.

8 Vom preußischen Innenminister Freiherr von der Recke am 22. Juni 1898 an den Regierungspräsidenten von Erfurt gegeben. Darin forderte er die Polizeibeamten auf, bei Unruhen, Volksansammlungen usw. sofort, beim ersten Steinwurf, die Schusswaffe anzuwenden, Schreckschüsse zu unterlassen und mit scharfer Klinge zuzuhauen.

9 Paragraph 12 des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 legte für die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache fest und richtete sich besonders gegen die polnische Bevölkerung. Er wurde im April 1917 aufgehoben.

10 Ballin, Leiter der Hamburg-Amerika-Linie, hatte mit der deutschen Regierung vereinbart, dass die deutsche Grenzpolizei aus jedem von Russland kommenden Eisenbahnzug alle Leute herausgriff, die nach Amerika auswandern wollten, um sie den von der Hamburg-Amerika-Linie und auch vom Norddeutschen Lloyd eingerichteten Kontrollstationen zuzuführen. Da nach einer Polizeiverordnung vom 12. April 1897 Auswanderern und auch anderen Reisenden die Durchreise durch Deutschland nur gewährt wurde, wenn sie im Besitze hoher Geldmittel oder einer Kajütenfahrkarte einer deutschen Reederei waren, wurden die russischen Emigranten faktisch gezwungen, Schiffskarten dieser Linien zu kaufen, obwohl sie dreimal teurer waren als z. B. die der englischen Schiffslinien.

11 1898 wurden die unbezahlten und bisher nicht als Beamte geltenden Privatdozenten unter die Disziplinargewalt des preußischen Staates unterstellt. Diese Gesetzesänderung richtete sich besonders gegen die Sozialdemokratie und wurde zuerst gegen den sozialdemokratischen Physikdozenten Arons angewandt. Arons wurde am 20. Januar 1900 wegen seiner Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie von der Universität Berlin gewiesen.

12 An dieser Stelle wurde das Referat durch die Mittagspause unterbrochen. Die Red.

13 Der Parteitag nahm den Antrag an, das Referat als Handbuch für den Kampf gegen den preußischen Staat drucken zu lassen. Die Red.

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