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Karl Liebknecht 19140217 Das Oberverwaltungsgericht als Feigenblatt der Verwaltungswillkür

Karl Liebknecht: Das Oberverwaltungsgericht als Feigenblatt der Verwaltungswillkür

Aus Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern, 17. Februar 1914

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, II. Session 1914/15, 2. Bd., Berlin 1914, Sp. 2401/2402, 2405-2416, 2394-2396. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 123-143]

I

Meine Herren, es gibt manch einen, der glaubt, auf das preußische Oberverwaltungsgericht besonders stolz sein zu müssen, und man kann es als eine patriotische Legende bezeichnen, dass das Oberverwaltungsgericht eins der glänzendsten Gerichte sei, durch das die Freiheiten der preußischen Staatsbürger gesichert werden. Tatsache ist, dass das Oberverwaltungsgericht gelegentlich einmal einer allzu schroffen Polizeiwillkür Widerstand geleistet hat. Wir wollen anerkennen, dass es das Verwaltungsgericht war, das lange Jahre den Bemühungen der Polizeiverwaltungen, die fremden Sprachen in Versammlungen unmöglich zu machen, entgegengewirkt hat, allerdings nur mit dem Erfolg, dass alsbald die Gesetzgebungsmaschine in Bewegung gesetzt worden ist und wir mit dem famosen Paragraphen 12 des neuen Reichsvereinsgesetzes1 gesegnet worden sind.

Aber die Tätigkeit des Oberverwaltungsgerichts kann im Allgemeinen durchaus nicht günstig beurteilt werden. Meine Herren, es unterliegt keinem Zweifel für mich, dass die Richter, die im Verwaltungsgericht amtieren, mit zu den ausgezeichnetsten Juristen gehören, die wir in Preußen und im ganzen Deutschen Reiche haben. Aber der Scharfsinn dieser Herren wird, in politischen Dingen insbesondere, so durchaus einseitig in den Dienst der Staatsinteressen, der Interessen der herrschenden Klassen gestellt, dass wir in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine noch ausgeprägtere politische und Klassenjustiz haben als bei den ordentlichen Gerichten. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Und, meine Herren, das ist es, was uns immer wieder Veranlassung gibt, die gesonderte Verwaltungsgerichtsbarkeit als einen Schaden zu bezeichnen und zu fordern, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit für alle Angelegenheiten, auch für die jetzt den Verwaltungsgerichten unterstehenden, eingeführt werde.

Meine Herren, ich habe jüngst Gelegenheit gehabt, mich über die sogenannte Unabhängigkeit unserer ordentlichen Richter auszulassen, und Sie wissen, dass ich da zu einem keineswegs erfreulichen Schlussurteil gekommen bin. Aber die Voraussetzungen für eine wirkliche äußere und innere Unabhängigkeit der Verwaltungsrichter sind noch viel ungünstiger als bei den ordentlichen Richtern. Denn die Verwaltungsrichter werden ja systematisch, kann man fast sagen, wenigstens zu einem großen Teile, aus den Verwaltungsbeamten genommen, die die Bedürfnisse der Verwaltung – die ja doch durchaus im Sinne der Staatsräson liegen – auf das gründlichste kennengelernt und selbst exekutiert haben. Dazu kommt, dass in dem Oberverwaltungsgericht nicht ein einziger Richter sitzt, der dahin einfach auf Grund seiner Anciennität, in einer festen, gesetzmäßigen Karriere gekommen wäre, sondern dass jeder einzelne besonders ausgesucht ist, ausgesucht von der Verwaltung, bei der in diesem Falle ja der Herr Minister des Innern eine entscheidende Rolle spielt. Es ist also schon nach der Entstehung des Oberverwaltungsrichters anzunehmen, dass er nicht vorurteilslos den politischen Dingen und auch den juristischen Problemen und Schwierigkeiten gegenübertritt, sondern dass er sie – und das ist ja auch der Zweck, dem die gesonderte Verwaltungsgerichtsbarkeit dienen soll – von vornherein unter dem Gesichtspunkt der Venvaltungszweckmäßigkeit auffasst. Der Gedanke, dass nach

Zweckmäßigkeit, nach Nützlichkeit zu urteilen ist, ist grundlegend für die Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit; er dominiert auch bei der Ausübung der Verwaltungsjustiz.

Meine Herren, es kann infolgedessen nicht wundernehmen, wenn wir die größten Beschwerden und die ernstesten Bedenken gegen die Verwaltungsjustiz zu erheben haben …

Nun zu etwas anderem. Es ist Ihnen bekannt, dass in Preußen – davon handelt ja unser jüngster Antrag über den Legitimationszwang2 – die Feldarbeiterzentrale, jetzt Deutsche Arbeiterzentrale genannt, besteht, deren Aufgabe es ist, scheinbar als ein privates Institut, jedenfalls nur halb offiziös, die ausländischen Arbeiter zu überwachen, und der der entscheidende Einfluss in Bezug auf die polizeiliche Behandlung der ausländischen Arbeiter beiwohnt. Die Praxis auf diesem Gebiete hat jüngst mein Freund Hofer erörtert. Im Reichstage habe ich ohne Resultat eine diesbezügliche Anfrage3 gestellt. Hier sind die Dinge zur Erörterung gelangt, und Sie werden, wenn ich nicht irre – ich habe heute hier erst verspätet erscheinen können – noch Gelegenheit haben, über diesen Antrag abzustimmen. Ich hoffe, dass der Antrag Annahme finden wird. Ich zweifle allerdings, dass meine Hoffnung in Erfüllung gehen wird. Die Praxis der Polizei geht dahin, dass den ausländischen Arbeitern eine Verfügung zugesandt wird: Sie werden hierdurch ersucht, binnen 14 Tagen nachzuweisen, dass Sie in Landarbeit beschäftigt sind. Sofern dieser Nachweis nicht erbracht wird, werden Sie als lästiger Ausländer ausgewiesen werden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist die Form dieser polizeilichen Verfügung.

Es ist nun doch klar, dass das Petitium, die Auflage dieser Verfügung dahin geht, dass der Arbeiter in Landarbeit treten soll. Nun handelt es sich hierbei um gewerbliche Arbeiter, häufig um solche, die 10, 20 Jahre in Deutschland alteingesessen in Gewerbetätigkeit gewesen sind, Goldarbeiter, Zigarrenarbeiter und alle möglichen. Denen wird also aufgegeben, binnen 14 Tagen Landarbeit anzunehmen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist natürlich ein Skandal („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), daran ist gar kein Zweifel, durch nichts zu rechtfertigen. Aber meiner Meinung nach wird der Skandal, der in dieser Verwaltungspraxis liegt, erst gekrönt durch die Praxis des Oberverwaltungsgerichts in derartigen Fällen. Jeder, der unbefangen eine Verfügung der Art liest, wie ich sie hier kurz vortrug, wird sie als eine polizeiliche Verfügung im Sinne der Paragraphen 127 folgende des Landesverwaltungsgesetzes erkennen mit dem Postulat: Du hast dich in Landarbeit zu begeben. Für den Fall der Nichtbefolgung dieser polizeilichen Verfügung wird ihm als Zwangsmaßregel die Ausweisung angedroht wie in anderen Fällen Geldstrafen oder die unmittelbare Ausführung der betreffenden Handlung durch die Verwaltung. Ich habe mich mit Rücksicht auf diese, wie mir scheint, ganz klare juristische Lage mehrfach bemüht, im Wege der Klage beim Oberverwaltungsgericht solche Verfügungen nach Paragraph 127 folgende des Landesverwaltungsgesetzes anzugreifen. Das Oberverwaltungsgericht stellt sich jedoch auf den Standpunkt, dass den eigentlichen Gegenstand dieser polizeilichen Verfügung nicht bilde die Aufforderung zum Eintritt in landwirtschaftliche Beschäftigung, sondern die Mitteilung, dass der Betroffene ausgewiesen werden würde und dass die Aufforderung, in Landarbeit zu treten, nur die Mitteilung einer Bedingung bedeute, unter der das Verbleiben des Arbeiters in Preußen weiterhin gestattet werden solle. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das heißt doch, alle Logik verrenken, das heißt doch, die juristische Logik geradezu missbrauchen gegen den Wortlaut dieser Verfügung, und zwar weshalb? Damit der Arbeiterzentrale und der ganzen Misswirtschaft, die auf diesem Gebiete besteht, nicht Zaum und Zügel angelegt werde und damit das Verwaltungsgericht nicht in die Verlegenheit kommt, seine juristische Anschauung über diese gesetzlose Willkür, die in dieser Beziehung in unserer Verwaltung besteht, zum Ausdruck bringen zu müssen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist eine Drückebergerei der Verwaltungsjudikatur. Man kann das nicht aus der Welt schaffen.

Bekannt ist, dass aus den Moabiter Prozessen ein Zivilprozess der Witwe jenes ermordeten Arbeiters Herrmann4 erwachsen ist. In diesem Prozess hat sich das ordentliche Gericht, und zwar sowohl das Landgericht wie das Kammergericht, auf die Seite der Witwe Herrmann gestellt, das heißt auf den Standpunkt, dass hier eine widerrechtliche Tötung unter Amtsüberschreitung durch die Polizeibeamten vorgelegen habe und infolgedessen Schadensersatz zu leisten sei. Es ist dann der Konflikt erhoben worden, und über den Konflikt ist jetzt vom Oberverwaltungsgericht zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Fall nicht, wie es in anderen Fällen zu tun pflegt, von denen ich Ihnen vorhin sprach, die Entscheidungen der ordentlichen Gerichte für sich für maßgebend erachtet; es liegt ja ein rechtskräftiges Urteil der Strafkammer in Moabit und ein rechtskräftiges Schwurgerichtsurteil vor, in welch letzterem allerdings dieser Punkt nicht im Einzelnen untersucht sein kann, da ja die Feststellungen im Schwurgerichtsurteil nicht zum Ausdruck kommen. Es liegt außerdem das Urteil einer Zivilkammer und außerdem eine Meinungsäußerung des Kammergerichts vor. Aber in diesem Falle hat der Konfliktsgerichtshof plötzlich gar kein Bedürfnis dazu, sich an rechtskräftige anders-instanzliche Entscheidungen zu kehren. Er hält es für nötig, noch einmal aus eigenem Beweis zu erheben. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn man diese Bereitwilligkeit, hier Beweis zu erheben, mit der sonstigen – man könnte fast sagen grundsätzlichen – Abneigung des Oberverwaltungsgerichts, Beweis zu erheben, vergleicht, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass als Motiv für diesen Beweisbeschluss des Oberverwaltungsgerichts nicht juristische Beweggründe maßgebend gewesen sind, sondern dass im Oberverwaltungsgericht wiederum das lebendige Empfinden wirksam war, hier handelt es sich um die schwerwiegende Entscheidung, sollen auch wir, der Konfliktshof, die Polizeiverwaltung bloßstellen, sollen auch wir sagen, dass hier die Polizeibeamten in Überschreitung ihrer Amtsbefugnisse gehandelt haben, dass hier eine rechtswidrige Tötung, ein Totschlag durch Polizeibeamte stattgefunden hat? Davor schreckt das staatstreue, das staatserhaltende Gewissen der Richter, die natürlich gutgläubig sind, zurück, und so sind sie aus dem Bedürfnis, der Verwaltungszweckmäßigkeit gerecht zu werden, dazu gekommen, hier Beweis zu erheben, und wer weiß, mit welchem Ergebnis.

Meine Herren, es soll uns nicht wundern, wenn das Oberverwaltungsgericht hier versagt und die Polizei, wie schon so häufig, in Schutz nimmt, wie ja in Kompetenzkonflikten leider weit überwiegend das Oberverwaltungsgericht sich auf seilen der Beamten stellt und gegen die Bürger Partei ergreift. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ein besonders interessantes Gebiet der Verwaltungsrechtsprechung bilden die Konflikte, die Gegensätze – will ich mich ausdrücken, um nicht mit dem technischen Ausdruck „Konflikte", den ich eben gebrauchte, in Konflikt zu geraten –, die prinzipiellen Gegensätze zwischen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte. Meine Herren, es hat solche Gegensätze in größerer Zahl gegeben. Ich erinnere daran, dass zum Beispiel unter dem alten Vereinsgesetz das Oberverwaltungsgericht ständig annahm, dass Tanzlustbarkeiten, Kränzchen und dergleichen von politischen Vereinen als Sitzungen politischer Vereine anzusehen seien („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), und dass infolgedessen an diesen Tanzlustbarkeiten keine Frauen teilnehmen dürften. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das Kammergericht hat diese unsinnige Praxis nicht mitgemacht und gesagt: Nein, ein Tanzkränzchen ist keine Sitzung; das Wort „Sitzung" muss enger interpretiert werden. Meine Herren, Sie wissen, wie diesem Gegensatz in gewissem Umfange schließlich abgeholfen wurde durch den Herrn Minister des Innern – nicht den gegenwärtigen –, der durch den bekannten Segmenterlass5, der allerdings hauptsächlich durch die Bedürfnisse des Bundes der Landwirte herbeigeführt worden ist („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), eine Annäherung der Praxis an die Rechtsprechung des Kammergerichts und an unabweisliche Bedürfnisse der Zeit herbeizuführen suchte.

Meine Herren, gegenwärtig haben wir wieder interessante Konfliktsfälle. Sie betreffen die Rechtsprechung über die Arbeitersportvereine. Es haben sich einzelne Arbeitersportorganisationen scharf zentralisiert. Von der Polizei werden auf Anweisung des Herrn Ministers Ortsgruppen für politisch erklärt; es werden Vorstandsverzeichnis und Statut gefordert. Meine Herren, da haben wir zunächst wiederholt erlebt, dass die ordentlichen Gerichte den politischen Charakter dieser Vereine verneint haben; das Verwaltungsgericht aber hat ihn in ständiger Rechtsprechung bejaht. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, auch das Kammergericht hat noch vor kurzem entschieden: Es genügt nicht, dass eine Ortsgruppe einem Bunde angehört, der für sich selbst politischen Charakter trägt, um auch die Ortsgruppe politisch zu machen. Wenn die Ortsgruppe als ein Verein mit selbständiger Vereinstätigkeit angesehen werden soll, so kann die Selbständigkeit auch darin beruhen, dass gerade in politischer Beziehung gegenüber dem Bunde Selbständigkeit besteht. Aber darüber sind die Verwaltungsgerichte hinausgegangen, und schließlich haben sich auch die ordentlichen Gerichte gebeugt. Es besteht jetzt in Bezug auf die Politischerklärung der Arbeitersportvereine eine gewisse Einmütigkeit zwischen den Verwaltungs- und den ordentlichen Gerichten. Noch in einem anderen Punkt entwickelt sich hier ein Konflikt. Die scharfe Zentralisation der Sportvereine in einem Bund, die dahin zielt, den einzelnen Ortsmitgliedschaften jede Selbständigkeit zu entziehen und sie eben nur als örtlich getrennte Teile der Gesamtorganisation erscheinen zu lassen, hat den Erfolg gehabt, dass bei den ordentlichen Gerichten vielfach Entscheidungen ergangen sind, die auf Freisprechung lauteten. Es wurde anerkannt, dass die Ortsgruppe keinen Verein mit selbständiger Vereinstätigkeit bilde und infolgedessen dem Vertrauensmann dieser Ortsgruppe die Verpflichtung zur Einreichung des Vorstandsverzeichnisses und des Statuts nicht obliege.

Nachdem sich diese Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte weiter ausgebreitet hat, erleben wir es, dass die Polizeiverwaltungen kühn darüber hinausgehen, in Nichtachtung dieser Entscheidungen der ordentlichen Gerichte polizeiliche Zwangsverfügungen erlassen und nach ihrem Belieben trotz der Entscheidung der ordentlichen Gerichtshöfe die Selbständigkeit der Vereinstätigkeit dieser einzelnen Ortsmitgliedschaften proklamieren. Das ist – man kann sagen – eine Revolte der Verwaltung gegen die ordentliche Rechtsprechung, die wir ja wiederholt festnageln konnten; ich brauche nur an das Ressort des Kultusministers und seine Stellung zu den Unterrichtserlaubnisscheinen zu erinnern.

Wir haben uns bei verschiedenen Gelegenheiten über die Behandlung der Freien Volksbühne beschweren müssen.6 Mein Freund Ströbel, mein Freund Hoffmann sind bereits auf einige wichtige Fakten auf diesem Gebiete eingegangen. Ich will nur folgendes sagen: Das Bemühen des Herrn Polizeipräsidenten von Jagow, die Freie Volksbühne als eine nicht geschlossene Organisation – wenn ich diesen Widerspruch in sich selbst einmal aussprechen soll – zu behandeln, hat beim Oberverwaltungsgericht Unterstützung gefunden. Die Freie Volksbühne untersteht damit der Polizeizensur. Es ist wiederholt auch von mir zur Sprache gebracht worden, dass der Herr Minister des Innern – ich glaube, es war im vergangenen Jahre oder im vorvergangenen Jahre –, als wir ihm diese Dinge vorhielten, sagte, er verkenne nicht, dass die Freie Volksbühne eine Kulturinstitution sei, die Erfreuliches wirke, die keineswegs behördliche Bekämpfung verdiene. Die Unterstellung unter die Zensur sei nur erfolgt, weil nun eben einmal, vom Standpunkt der juristischen Reinlichkeit betrachtet, eine geschlossene Organisation nicht anerkannt werden könne. Meine Herren, es ist Ihnen bereits – ich rekapituliere hier nur – von mir, von meinen Freunden Ströbel und Hoffmann gezeigt worden, wie diese Zusicherung des Herrn Ministers des Innern zuschanden geworden ist („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), und zwar kaum, dass sie ausgesprochen war. Herr von Jagow hat sofort in der kleinlichsten Weise versucht, mit der Zensur einzugreifen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Eines der Opfer dieser Zensur ist das Werk unseres verstorbenen Parteifreundes, des ja doch als einer unserer tüchtigsten modernen Dramatiker anerkannten Rosenow, das Stück „Die im Schatten leben". Darüber ist schon geredet; hier kommt es darauf an, dass das Oberverwaltungsgericht es fertiggebracht hat, dieses Zensurverbot des Polizeipräsidenten zu bestätigen. Und zwar mit welcher Argumentation?

Der Oberpräsident hat gegen die Klage eingewandt: Nach dem Inhalt des Stückes stehe außer Zweifel, dass die darin gegebene Schilderung des Bergarbeiterloses eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruche und dass die darin auftretenden Personen danach weniger als Einzelpersonen wie als Vertreter gewisser Gesellschaftsgruppen in Betracht kämen. Von diesem Standpunkte müsse es Bedenken erregen, dass den Kreisen des Unternehmertums und der Werksverwaltungen durchweg eine Gesinnung unterlegt werde, welche auf eine gewissenlose Ausnutzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit und der Notlage der Bergarbeiter und ihrer Angehörigen hinausgehe. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Diesen Standpunkt hat das Verwaltungsgericht sich zu eigen gemacht, indem es die Klage gegen diese Verfügung abgewiesen hat, und zwar mit der kurzen Motivierung – ich kann hier nur die mündliche Begründung nach dem Pressbericht rekapitulieren –, dass Paragraph 10 II 177, das berühmte Mädchen für alles aus dem Allgemeinen Landrecht, zur Anwendung zu bringen sei, wonach es Aufgabe der Polizei sei, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung zu sorgen; der Senat nehme an, dass hier die öffentliche Ordnung gefährdet erscheine, und zwar deshalb, weil es sich um ein Stück handle, welches durch einseitige Schilderung verschiedener Gesellschaftsklassen geeignet sei, die Klassengegensätze zu verschärfen und dadurch die öffentliche Ordnung zu stören.

Meine Herren, dabei ist dieses selbe Stück unbeanstandet in Stuttgart, in Frankfurt am Main, in Mannheim vor genau einem solchen Publikum aufgeführt worden wie das, vor dem es hier aufgeführt werden sollte; es ist dort aufgeführt worden, ohne dass die öffentliche Ordnung gestört worden wäre. Das ist geschehen, längst bevor die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ergangen ist. Das ist dem Oberverwaltungsgericht mitgeteilt worden, und trotzdem hat es dieses Gericht über sich gebracht, diese kleinliche Zensurschikane des Herrn Polizeipräsidenten von Jagow zu billigen, mit dem Stempel des Oberverwaltungsgerichts zu versehen.

Meine Herren, wir müssen gegen das Oberverwaltungsgericht die Anklage erheben, dass es sich hier durchaus nicht als ein Schirm der bürgerlichen Freiheit gezeigt hat („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), wie man so oftmals von ihm gerühmt hat; man behauptet so gern, neben dem Rechnungshof sei das Oberverwaltungsgericht ein Palladium der bürgerlichen Freiheit. Um alles in der Welt, wir erleben vom Oberverwaltungsgericht alles andere als einen Schutz der bürgerlichen Freiheit! („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ganz besonders interessant ist die Judikatur des Oberverwaltungsgerichts in Bezug auf das Vereinsgesetz. „Seit jeher ist es die Art der preußischen Verwaltung gewesen, im Verwaltungswege die Gesetze in ihr Gegenteil zu verkehren." Das ist ein Ausspruch des Herrn von Gneist, des Juristen, der als Jurist auch gewusst hat, dass man als Jurist alles beweisen kann. Herr von Gneist, „der alles beweisen konnte", hat damals nur von der preußischen Verwaltung gesprochen. Aber das gleiche gilt leider in gar vielen Beziehungen auch vom Oberverwaltungsgericht, dass es die Gesetze in ihr Gegenteil verkehrt. In welcher Weise die Begriffe des „politischen" Charakters, der „Öffentlichkeit" usw. im Vereinsrecht vom Verwaltungsgericht ausgelegt worden sind, darüber will ich mich im Moment nicht weiter äußern.

Aber es bedarf doch der Hervorhebung, wie das Oberverwaltungsgericht die politische Überwachung in direktem Gegensatz zu dem Reichsvereinsgesetz „geregelt" hat („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.); und diese „Regelung" ist maßgebend für die preußische Verwaltung, für die Polizei. Im Reichsvereinsgesetz steht klar und deutlich, wann die Polizei ein Recht auf Überwachung von Versammlungen hat. Die Polizei hat danach kein Recht auf die Überwachung von geschlossenen Sitzungen, auch wenn sie politischen Charakter tragen; sie hat auch kein Recht zur Überwachung von unpolitischen Veranstaltungen, auch wenn sie öffentlich sind. Was macht nun das Oberverwaltungsgericht daraus?

Von der Arbeiterschaft werden unpolitische Versammlungen für Jugendliche veranstaltet. Ich habe das persönlich in Berlin, in Königsberg und anderen Orten durchgemacht. Die Polizei hat kein Recht zur Überwachung. Die Polizeibeamten erscheinen doch und weichen nicht von der Stelle. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Es werden Beschwerden dagegen erhoben – ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht sagt: Gewiss, ein Recht auf Überwachung hatte in diesem Falle die Polizei nicht, aber ihr hattet nur dann ein Recht, diese Versammlung abzuhalten, wenn sie wirklich unpolitisch war; die Polizei hat die Aufgabe, über die Innehaltung der Gesetze zu wachen, folglich hat sie das Recht, Polizeibeamte in die Versammlung hinein zuschicken, damit sie achtgeben, ob nicht vielleicht doch Politik getrieben wird (Lebhaftes „Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), ob nicht am Ende eine Überwachungsbefugnis besteht. (Erneutes „Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Danach gibt es also ein Recht auf polizeiliche Überwachung, die nicht eine Überwachung im Sinne des Reichsvereinsgesetzes bedeutet, sondern eine Überwachung darüber, ob nicht vielleicht eine Überwachung im Sinne des Reichs-Vereinsgesetzes zulässig ist.

Meine Herren, das heißt doch, der Polizei gegenüber Versammlungen, bei denen keine Überwachungsbefugnis besteht, mehr Recht einzuräumen als gegenüber denen, für die das Gesetz das Überwachungsrecht ausdrücklich festlegt. Damit sind diese nichtpolitischen Veranstaltungen der Willkür der Polizei ausgeliefert, und wenn man heute wünscht, Versammlungen mit einer gewissen Ungeniertheit abhalten zu können, dann kann man das nur noch machen, indem man sie als politische veranstaltet, weil man dann doch wenigstens eine klare Rechtslage vor sich hat.

Genauso hat das Oberverwaltungsgericht jüngst in einem anderen Falle entschieden. Es handelte sich um einen Sportverein, der von der Polizeibehörde als politisch betrachtet wurde, und nun schickt die Polizei ihren Beamten zur Überwachung einer Sitzung dieses Vereins. Die Beschwerden führten wiederum zu keinem Resultat; das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Zulässigkeit dieser Maßregel, indem es sagt: Dieser Verein wurde als politisch betrachtet, folglich durften ihm Jugendliche unter 18 Jahren nicht angehören; die Polizei hegte den Verdacht, dass doch Jugendliche unter 18 Jahren anwesend sein würden, und um das festzustellen, hatte die Polizei das Recht, ihre Beamten hinein zuschicken („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wie kann man besser, als es hier geschieht, gesetzliche Rechte im Wege der Verwaltung weg eskamotieren. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann noch ein anderes. Am 14. November 1912 fand in Sommerfeld eine Veranstaltung statt, in der ein Schriftsteller Rot aus Berlin einen Vortrag mit Lichtbildern hielt, der nach der polizeilichen Anmeldung die deutsche Revolution 1848/49 zum Gegenstand haben sollte, dann aber „Aus stürmischen Zeiten" genannt wurde. Dieser Vortrag mit Lichtbildern wird von den überwachenden Polizeibeamten aufgelöst, als der Vortragende ein paar deutlich charakterisierende Redewendungen über die Revolution und die Haltung des preußischen Königs im Jahre 1848 gebraucht.

Die Auflösung wurde genau in den Formen ausgeführt, wie das Reichsvereinsgesetz sie vorschreibt. Gegen diese Auflösung wurde nun geltend gemacht, dass eine politische Versammlung nicht vorgelegen habe, vielmehr eine wissenschaftliche Veranstaltung. Nun lag die Sache so: Wenn es sich um eine politische Versammlung handelte, durfte nicht aufgelöst werden. Es war also nicht sehr zweckmäßig, einzuwenden, dass keine politische Versammlung vorgelegen habe. Es wurde aber, wie erwähnt, eingewandt, es sei ein wissenschaftlicher Vortrag. Das griff alsbald der Oberpräsident auf und sagte: Jawohl, es war ein wissenschaftlicher Vortrag, keine politische Versammlung, und gerade weil es keine politische Veranstaltung war, hat der Polizeibeamte das Recht gehabt, das er sonst nicht gehabt hätte, aufzulösen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), denn politische Veranstaltungen sind geschützt durch das Reichsvereinsgesetz, aber wissenschaftliche Vorträge und künstlerische Vorträge genießen keinerlei Schutz („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) und unterliegen ausschließlich dem Paragraphen 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts, jenem Mädchen für alles, von dem ich bereits sprach. Und diese Entscheidung, diese Auffassung des Oberpräsidenten hat das Oberverwaltungsgericht gebilligt. Ich habe das Urteil vom 27. Oktober vorigen Jahres hier in Händen und will es den Herren gern zur Verfügung stellen. Es setzt sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit über die Schwierigkeiten hinweg und verweist darauf, dass es schon längst eine solche Judikatur gegeben habe. Ich weiß, dass es Ansätze zu einer solchen Judikatur schon immer gegeben hat; aber ich weiß auch, dass eine solche Auslegung des Vereinsgesetzes dem Willen des Gesetzgebers widerspricht, dass es doch geradezu eine Blamage ist, wenn wir uns sagen lassen müssen, dass politische Veranstaltungen, politische Versammlungen noch die relativ gesichertsten Versammlungen und Veranstaltungen in Preußen sind, dass wissenschaftliche und künstlerische Veranstaltungen der reinen, nackten, gesetzlich nicht kontrollierten oder begrenzten Polizeiwillkür unterliegen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich will mich darauf beschränken, ein paar Bemerkungen aus dem Urteil vorzulesen, die beweisen, wie kleinlich der Sachverhalt auch noch interpretiert worden ist.

Es wurde gezeigt", so heißt es, „und erklärt, wie das in einer großen Volksversammlung in den Zelten im Tiergarten unter freiem Himmel zusammengeströmte Volk auf dem Rückwege zur Stadt von der Polizei und dem Militär ,brutal' auseinandergetrieben wurde, wie die Soldaten auf die Bürger Schüsse abgaben, wie das Volk sich bewaffnete und die einzelnen Bürger sich beim Waffentragen, Kugelgießen und dergleichen beteiligten, wie die Barrikaden errichtet wurden usw." Es kommen dann einige Bemerkungen über den König und sein Verhalten in der damaligen Zeit, und schließlich heißt es im Urteil: „Auch konnte der Polizeibeamte sehr wohl annehmen, dass die einseitige Schilderung der revolutionären Vorgänge in den Zuhörern eine Belebung und Stärkung revolutionärer Gesinnung hervorrufe und dass die Vorführung der Person des Königs Friedrich Wilhelm IV. in Karikatur bei den königstreu gesinnten und patriotisch denkenden Zuhörern Unwillen und Widerspruch erregen, sie in ihren berechtigten Vaterlandsgefühlen verletzen und ihnen zu schwerem Ärgernisse gereichen würde. Damit war die Möglichkeit einer Herbeiführung von Ausschreitungen und Ruhestörungen eröffnet, denen vorzubeugen die Polizei ebenso berechtigt wie verpflichtet war." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, also weil hier bei irgendeinem ängstlichen Polizeibeamten die Besorgnis bestand, dass sich die Patrioten in Sommerfeld zu Ausschreitungen, Radau usw., Körperverletzungen und sonstigen Gesetzlosigkeiten gegenüber den friedlichen Zuhörern würden hinreißen lassen, durfte der Vortrag verboten werden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist ein sehr bequemes Rezept. Wenn sich die Patrioten überall recht wild gebärden, wird überall die Besorgnis begründet, dass sie durch Radau und gesetzloses Benehmen Unruhe stiften, dann werden den friedlichen Bürgern aus Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung ihre Rechte entzogen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir sehen also in Bezug auf das Vereinsgesetz, dass es zunächst einmal in reaktionärer Weise ausgelegt wird in Bezug auf die Begriffe der Politik, der Öffentlichkeit usw. Wir sehen, wie dann das Reichsvereinsgesetz „ergänzt" wird durch die polizeilichen Eingriffe, von denen ich sprach, durch die Inaugurierung einer besonderen Art polizeilicher Überwachung, die das Gesetz nicht kennt. Und wenn auch diese „Ergänzung" des Vereinsgesetzes und diese Interpretationen noch nicht den reaktionären Bedürfnissen genügen, dann erklärt man in besonders unangenehmen Fällen derartige Veranstaltungen als nichtpolitische und liefert sie so jeglicher Verwaltungswillkür aus. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich glaube, dass diese Leistungen des Oberverwaltungsgerichts, die die Garantien, die das Reichsvereinsgesetz schaffen sollte, und die Zusicherungen, die damals von Regierungsseite gegeben wurden, weg interpretieren, eskamotieren – ich glaube, dass diese Leistungen wahrhaftig kein Ruhmesblatt bedeuten („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) und dass wir alle Veranlassung haben, uns in schroffer Weise gegen eine solche Verwaltungsjudikatur zu wenden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber die Blüte der reaktionären Verwaltungsrechtsprechung wächst auf dem Gebiete des Disziplinarwesens und auf den ihm naheliegenden Gebieten. Wir haben gerade vor kurzem erlebt, dass gegen einen Beamten – noch dazu einen mittelbaren Staatsbeamten -, der durch Stimmenthaltung zur Wahl eines Sozialdemokraten in eine Schulkommission beigetragen hatte – der Delinquent war ein Landgemeindevorsteher! –, das Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Selbstverständlich sind Sie alle der Auffassung, dass das mit vollem Recht geschehen sei; darüber gebe ich mich gar keinem Zweifel hin. In der Tat hat das Oberverwaltungsgericht erkannt, dass zwar eine Dienstentlassung hier noch nicht am Platze sei; aber es hat auf eine Disziplinarstrafe von 30 Mark erkannt („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. „Sehr richtig!" rechts.) und zur Begründung bemerkt: Der Gemeindevorsteher hatte die Pflicht, alles zu tun, um zu verhindern, dass ein Sozialdemokrat in die Schulkommission kam. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. „Sehr richtig!" rechts.) Wenn er nicht alles tat, um das zu verhindern, und es ermöglichte, dass er in die Schulkommission kam, so handelte er damit pflichtwidrig und zeigte einen bedauerlichen Mangel an politischem Scharfblick und an Pflichtgefühl. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. „Sehr richtig!" rechts.) Ich meine, eine größere Gesinnungslumperei kann man doch (Zurufe.) – aber Sie wissen ja noch gar nicht, wovon ich reden will – wahrhaftig von einem Beamten gar nicht fordern, als sie hier von diesem Gemeindevorsteher als eine Selbstverständlichkeit gefordert wird. Es wird ihm entgegen dem Gesetz, das keine derartige Ausnahme kennt, als Pflicht angesonnen, dagegen zu wirken, dass ein Sozialdemokrat – der doch ein gleichberechtigter Bürger, ein Vertreter der unbemittelten Schichten ist, deren Kinder in erster Linie ein Interesse an den Volksschulen haben – in die Schulkommission kommt. Meine Herren, das beweist einen bedauerlichen Tiefstand – wenn ich dieses Wort des Herrn Ministers des Innern aus der letzten Sitzung aufgreifen darf –, es beweist einen bedauerlichen Tiefstand an Gerechtigkeitsempfinden, an sozialem Gewissen und im Grunde auch an nationalem Geiste. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Und nun, meine Herren, das Beste, das Schönste, was das Oberverwaltungsgericht geleistet hat: Das sind jene Entscheidungen, die sich auf den Unterrichtserlaubnisschein beziehen. Meine Herren, Sie wissen, wie die Rechtslage hier nach Auffassung der maßgebenden Instanzen, jetzt auch des Reichsgerichts, ist. Trotz alledem war es möglich, dass das Oberverwaltungsgericht sich aus besonderen Anlässen zweimal mit der Kabinettsorder von 18348 zu beschäftigen hatte. Einmal hat es sich darüber ausgesprochen, ob einem Sozialdemokraten der Unterrichtserlaubnisschein allein um deswillen verweigert werden darf, weil er Sozialdemokrat ist. Und diese Frage hat das Verwaltungsgericht bejaht! (Abgeordneter Freiherr von Zedlitz und Neukirch: „Nun, natürlich!") Ja, Herr von Zedlitz, das wissen wir: Das Verwaltungsgericht ist Geist von Ihrem Geiste. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist ja klar, und das rügen wir ja gerade, dass dieser Scharfmachergeist des Herrn von Zedlitz in diesem Gerichte, das unabhängig und unpolitisch das Recht anwenden sollte, eine dauernde Heimstätte hat („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) und ständig dort wirkt als die wesentlichste Triebfeder in derartigen politischen Entscheidungen, alle juristische Logik und alles Gerechtigkeitsgefühl über den Haufen rennend. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, dieses verzedlitzte Oberverwaltungsgericht – so möchte ich mich nun ausdrücken – hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Tatsache der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei, die Tatsache der sozialdemokratischen Gesinnung bereits genüge, um zu beweisen, dass der Betreffende nicht das erforderliche sittliche Gefühl, die erforderlichen sittlichen Qualitäten besitzt, unter deren Voraussetzung allein der Unterrichtserlaubnisschein erteilt werden darf. Meine Herren, damit ist der Sozialdemokrat an und für sich, nur weil er Sozialdemokrat ist, vom Oberverwaltungsgericht als minder sittlich bezeichnet worden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Die Herren, die dieses Urteil gefällt haben, wissen vielleicht nicht, wie wir einer derartigen geistigen Blindheit gegenüberstehen, wie bemitleidenswert uns diese bedauernswerten Menschen, auch wenn sie Oberverwaltungsgerichtsräte sind, vorkommen, die da mit Scheuklappen vor den Augen, in einer Beschränktheit, die ihresgleichen sucht („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), derartige Urteile fällen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, diese Herren haben damit bewiesen, dass sie zwar die formale Jurisprudenz ausgezeichnet beherrschen, dass sie aber auf einem Gebiete, das schließlich wichtiger ist als die formale Jurisprudenz, auf dem Gebiete des menschlichen Gefühls, des politischen Verständnisses, der sozialen Erkenntnis, auf dem Gebiete des Kulturempfindens und Kulturbewusstseins, vollkommen hinterwäldlerisch sind. Ein derartiges Urteil beweist nur, dass die modernen Kulturerrungenschaften und Kulturauffassungen dem Oberverwaltungsgerichte fremd sind. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Sie wissen, dass das Verwaltungsgericht außer dieser unsäglich mitleiderregenden Entscheidung eine weitere hierher gehörige Entscheidung gefällt hat, über die wir uns auch schon öfter unterhalten haben. Nach der Kabinettsorder von 1834 wie schon nach dem Allgemeinen Landrecht braucht einen Unterrichtserlaubnisschein nur, wer „gewerbsweise" Unterricht erteilt, nicht wer nicht gewerbsweise Unterricht erteilt. Nun wird diese Kabinettsorder ständig angewandt gegen Arbeitersportorganisationen, auch wenn der Unterricht keineswegs gewerbsweise erteilt wird, sondern nur in der Unterweisung durch einen älteren Turnkollegen besteht, der zum Beispiel die Riege führt und zeitweise kommandiert. Dieses „gewerbsweise" wird von der Praxis einfach unbeachtet gelassen, obwohl das Wort eindeutig ist. Es ist ein technisches Wort, wie jeder Jurist weiß. Das Oberverwaltungsgericht hatte den Begriff „gewerbsweise" zu interpretieren; und wie hat es dies getan? Dass einem die Röte ins Gesicht steigt. Es hat gesagt: Das Wort „gewerbsweise" ist nicht gemeint im Sinne eines Erwerbs, im Sinne eines Berufs, sondern heißt nur: systematisch. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Ich meine, ein Gericht, das die juristische Logik, selbst die formalistische Logik so misshandelt, um der Staatsinteressen, der Polizeiinteressen, der reaktionären Interessen willen, ein solches Gericht können wir nicht als ein Palladium der bürgerlichen Freiheit bezeichnen, sondern nur betrachten als ein Feigenblatt der Verwaltungswillkür, der Verwaltungsrechtlosigkeit. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

Wenn etwas geeignet war, die Berechtigung meiner Kritik zu beweisen, so waren es die Ausführungen des Herrn Ministers („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), die auf nichts weiter hinauslaufen als auf eine Versteifung der reaktionären Judikatur des Verwaltungsgerichts, die ich hier habe Revue passieren lassen. Was sind das für Argumente, die der Herr Minister gegen mich angeführt hat, als ob wir, die wir hier an der Staatsverwaltung, an den Staatseinrichtungen Kritik übten, uns damit anmaßten, klüger zu sein als diejenigen Personen, die für die Missstände verantwortlich sind! Selbst der einfachste Mann hat das Recht der Kritik. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Selbst der ungebildete Mann hat dies Recht, und wenn ein einfacher Arbeiter aufstehen würde, Herr Minister, und sagen würde: Ich klage das Verwaltungsgericht an, dass es Klassenjustiz übt, dass es nicht im Interesse der Bevölkerung seine Pflicht tut, dann hätten Sie darauf anders zu antworten, als Sie mir geantwortet haben. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe das gute Recht, Kritik an der Verwaltungsrechtsprechung zu üben. Was soll das heißen, dass wir deshalb keine Kritik üben dürften, weil das eine Beeinflussung der Verwaltungsrechtsprechung bedeute! Meine Herren, die Verwaltungsrechtsprechung unterliegt der Kritik genauso sehr wie die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), und die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte unterwerfen wir allesamt der Kritik. Auch Sie von der Rechten unterwerfen diese Rechtsprechung der Kritik. Wir haben erst vor kurzem eingehend – und Vertreter aus allen Parteien des Hauses haben dazu das Wort genommen – über die ordentliche Justiz gesprochen. Soll die Verwaltungsjustiz der öffentlichen Kritik, der parlamentarischen Kritik etwa deshalb entzogen sein, weil sie dem Herrn Minister des Innern untersteht? („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Soll etwa der Absolutismus der Verwaltungswillkür auch auf dem Gebiet der Rechtsprechung proklamiert werden? Mir beweist diese Art der Ausführungen des Herrn Ministers nur das eine: wie sich seine despotische Polizeiauffassung grenzenlos auf das ganze Gebiet seiner Amtstätigkeit erstreckt und sogar übergreift in das Gebiet desjenigen Teiles der Justiz, der unter seinen Fittichen steht. Er übersieht, dass Justiz und Polizei zweierlei ist. Er übersieht, dass die Justiz – auch die Verwaltungsjustiz – nicht nach seinem Kommando tanzt und tanzen darf und dass er uns nicht einfach kommandieren kann: Hände weg von der Kritik, das ist meine persönliche Angelegenheit! Auch die Verwaltungsjustiz ist eine Angelegenheit des ganzen Volkes, Herr Minister („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), und besonders eine Angelegenheit der Arbeiterschaft, in deren Namen ich diese Kritik erhoben habe. Ich weiß sehr wohl – und das weiß jedermann –, dass häufig genug in der Weltgeschichte die höhere formale Intelligenz auf der Seite des Unrechts, auf der Seite der Rückschrittlichkeit, der Unterdrücker gestanden hat, und trotzdem hat dieses durch die höhere formale Intelligenz gestützte, zu formalistischem Recht umdefinierte materielle Unrecht schließlich dem Ansturm der elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung weichen müssen. Der Herr Minister des Innern hat es ganz vergessen, dass einer seiner Beamten, Herr von Jagow, es gewesen ist, der durch seinen bekannten Brief an die „Kreuz-Zeitung"9 gegen das erste Straßburger Militärurteil zu wirken gesucht hat; er hat als Polizeipräsident diesen Brief an die „Kreuz-Zeitung" geschrieben. Ja, glauben Sie denn, dass wir im Parlament uns nicht über alle diejenigen Dinge äußern dürfen, über die in der Presse geschrieben wird? Was Herr von Jagow in der Presse schreiben durfte, hätte er doch wohl auch als Abgeordneter in diesem Hause sagen dürfen. Wir sind als Abgeordnete dazu berufen, über die gesamten Interessen der gesamten Bevölkerung unsere Meinung zu sagen, und zwar ungeschminkt und deutlich. Wenn Herr von Jagow unter dem Beifallsgeschrei der ganzen preußischen Reaktion in dieser Weise verfahren ist, wenn der Herr Minister des Innern sein Verhalten doch nur sehr sanftmütig missbilligt hat, dann sollte er doch wahrlich nicht solche Töne anschlagen. Herr Minister, wenn Sie sich gegen meine Deduktionen, gegen meine Angriffe wenden wollen, dann bitte tun Sie das in sachlicher Weise! (Lebhafte Rufe bei den Sozialdemokraten: „Sehr gut!") Finden Sie sich mit meinen Argumenten ab, besprechen Sie die einzelnen Fälle; mit ein paar schnoddrigen Redensarten haben Sie kein Glück! („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Stürmische Ohorufe rechts. Stürmisches „Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Erneute stürmische Zurufe rechts. Glocke des Präsidenten.)

1 Paragraph 12 des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 legte für die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache fest und richtete sich besonders gegen die polnische Bevölkerung. Er wurde im April 1917 aufgehoben.

2 Die 1905 gegründete Deutsche Feldarbeiterzentralstelle, Kurzwort: Feldarbeiterzentrale, nahm die Vermittlung von Dienstverträgen für ausländische, vorwiegend landwirtschaftliche Arbeiter vor. Sie hatte laut preußischem Erlass vom 21. Dezember 1907 das Recht, allen ausländischen Wanderarbeitern Zwangslegitimationskarten auszustellen. Damit, war eine genaue polizeiliche Überwachung verbunden. Wer nicht im Besitz einer Legitimationskarte war, wurde ausgewiesen. Ein Wechsel der Arbeitsstelle konnte nur vorgenommen werden, wenn die Ortspolizei die Karte auf den neuen Arbeitgeber umschrieb. Bei Lohnstreitigkeiten wurden die Karten eingezogen und die Arbeiter ausgewiesen. Das bedeutete einen ungesetzlichen Eingriff in die völlige Arbeitsfreiheit, die durch die Gesetzgebung in Preußen den ausländischen Industriearbeitern gewährleistet wurde. Die Tätigkeit der Feldarbeiterzentrale diente vor allen Dingen der Sicherung des Zustroms landwirtschaftlicher Arbeiter für die preußischen Großagrarier.

Der Antrag vom 11. Februar 1914 lautete: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, mit tunlichster Beschleunigung 1. eine Denkschrift über die bisherige Anwendung des Arbeiterlegitimationszwangs unter Abdruck der von den Behörden dabei zugrunde gelegten und erlassenen Bestimmungen vorzulegen, 2. die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass ausländische gewerbliche Arbeiter, die vielfach seit langen Jahren in Deutschland ansässig sind, ohne Grund ausgewiesen oder unter Ausnutzung des ,Legitimationszwangs' durch Androhung der Ausweisung zur Übernahme landwirtschaftlicher Arbeit genötigt werden, woraus auch die ständige Gefahr internationaler Verwicklungen erwächst." Der Antrag wurde abgelehnt.

3 In der Sitzung des Reichstages vom 6. Februar 1914 stellte Karl Liebknecht folgende Anfrage: „In den letzten Wochen haben sich die Fälle vermehrt, in denen ausländischen gewerblichen Arbeitern in Deutschland von der Abfertigungsstelle der Deutschen Arbeiterzentrale die Erteilung von Arbeiterlegitimationskarten versagt worden ist. In den hierauf bezüglichen Polizeiverfügungen wird diese Versagung vielfach darauf gestützt, dass die Beschäftigung von ausländischen Arbeitern gewisser Nationalitäten, insbesondere von Polen, in gewerblichen Betrieben ,nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen untersagt ist'; Juden, die aus den nicht zum Deutschen Reiche gehörigen polnischen Gebieten stammen, werden dabei den ausländischen Polen allgemein ausdrücklich gleichgesetzt. Durch dieses Vorgehen, gegen das in den meisten Bundesstaaten keinerlei Rechtsgarantien bestehen, werden zahlreiche Ausländer, die sich in sehr vielen Fällen jahrzehntelang in Deutschland aufhalten, mit deutschen Frauen verheiratet sind und Familie besitzen, der Ausweisung und damit dem Elend preisgegeben, a) Was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, um dem gekennzeichneten Zustand schleunigst abzuhelfen? b) Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, welches die von den Polizeiverwaltungen erwähnten gestehenden Bestimmungen' sind, wann und von wem sie erlassen sind und auf welche gesetzlichen Vorschriften sie sich stützen? c) Ist der Herr Reichskanzler bereit, diese Verfügungen dem Reichstag zur Kenntnis zu bringen? d) Ist der Herr Reichskanzler bereit, eine Denkschrift über die bisherige Anwendung der Restimmungen über den Arbeiterlegitimationszwang vorzulegen?"

4 Während der sogenannten Moabiter Unruhen im Herbst 1910 war der Arbeiter Herrmann am 27. September 1910 von zwei Polizisten durch Säbelhiebe so schwer verletzt worden, dass er am 3. Oktober 1910 starb. Die Mörder wurden durch den Staatsapparat deckt und nie zur Verantwortung gezogen. Die Klage der Witwe des ermordeten Arbeiters auf Schadenersatz wurde jahrelang verschleppt.

5 Verfügung des preußischen Innenministers Hans von Hammerstern-Loxten im Jahre 1902, dass sich Frauen in politischen Versammlungen nur in einem besonderen Teil des Saales, dem „Frauensegment", aufhalten durften.

6 Im Jahre 1910 wurde die sozialdemokratisch gelenkte Freie Volksbühne zu einer nicht geschlossenen Organisation erklärt und damit der staatlichen Zensur unterworfen. Der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow verlangte, dass Vorstellungen der Freien Volksbühne künftig als öffentliche anzumelden und die zur Aufführung bestimmten Theaterstücke rechtzeitig zuvor in zwei gleichlautenden Exemplaren zur Zensur einzureichen seien. Begründet wurde die Polizeiaufsicht damit, dass es weniger der Zensur zuliebe geschehe als zum „Schutz der Mitglieder vor Feuersgefahr".

7 „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey."

8 Diese Kabinettsorder bekräftigte frühere Gesetze über die staatliche Aufsicht für private Lehranstalten und Privatlehrer im Sinne der herrschenden Kreise und hob Vorschriften des Land-rechts, die teilweise eine Lockerung dieser Aufsicht zur Folge hatten, auf. Die Genehmigung zur Unterrichtserteilung wurde nicht nur von der pädagogischen Fähigkeit und den fachlichen Kenntnissen abhängig gemacht, sondern auch von „Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnung in religiöser und politischer Hinsicht".

9 Der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow hatte sich in einem Artikel in der „Kreuz-Zeitung" vom 22. Dezember 1913 vorbehaltlos auf die Seite des Militärs gestellt und gefordert, den Leutnant Forstner, einen der Hauptschuldigen an den militaristischen Ausschreitungen in Zabern, weder anzuklagen noch zu verurteilen. Als Grund gab von Jagow an, Strafverfolgung wegen eines Aktes der Staatshoheit sei unzulässig. Er griff damit rechtswidrig in ein schwebendes Verfahren ein.

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