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Karl Liebknecht 19141200 Entgegnung an Wolfgang Heine

Karl Liebknecht: Entgegnung an Wolfgang Heine

Dezember 1914

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/33. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 180-183]

Werte Genossen!1

Auf den gegen mich gerichteten Artikel des Genossen Heine habe ich nicht nötig zu antworten, weil er nichts enthält, was nicht jeden Tag in allen möglichen, und zwar nicht nur sozialistischen oder gewerkschaftlichen Zeitungen stünde; weil er Tatsachen in Abrede stellt, deren Richtigkeit Sie sich sowenig wie ich werden abstreiten lassen (z. B. die Rolle der Parole gegen den Zarismus, der u. a. bonapartistische Charakter, das Urteil über die Entstehung des imperialistischen Kriegs in seiner besonderen jetzigen Erscheinungsform); weil er von einem für mich und wohl auch für Sie vollkommen fremden nationalistischen und weder internationalen noch sozialistischen Orientierungspunkt ausgeht und infolgedessen an dem meine sowie Ihre politische Auffassung bestimmenden Gedankengang des internationalen proletarischen Klassenkampfs gegen den Krieg vorbeiredet; weil er in der Meinung, dass gegen den Krieg nichts Wirksames unternommen werden könne, den Krieg mitmacht und eine selbständige sozialistische Politik, weil sie ihm aussichtslos erscheint, durch eine nationalistisch-imperialistische Politik ersetzt, die freilich glänzende Erfolge bietet, wenn auch nicht für das Proletariat. Diese Politik des Mit-dem-Strom-Schwimmens die jedes Verständnis für das Wesen einer Oppositionspolitik, d. h. der Politik einer vorläufig noch nicht herrschenden Minderheit, vermissen lässt, diese Argumentation, die nicht einsieht, dass die Oppositionspolitik einen Komplex von politischen Aktionen darlegt, eine Einheit und Ganzheit, nicht aber eine Anzahl kritischer Einfälle gegenüber der Mehrheitspolitik, dass jede oppositionelle, d. h. noch nicht realisierte Minderheitspolitik in allen ihren Stellungnahmen von ihrem besonderen politischen Gesichtspunkt aus ebenso orientiert sein muss wie die bereits realisierte Mehrheitspolitik, dass es nicht angeht, ein einzelnes Postulat der oppositionellen Politik isoliert herauszureißen, unlogisch, unkonsequent und unpolitisch, dieses als ein Glied in einer konsequenten Oppositionspolitik gestellte Postulat als durch die Mehrheit verwirklicht zu konstruieren, die praktische Unmöglichkeit eines solchen von der Mehrheit in ihre Mehrheitspolitik willkürlich, widerspruchsvoll und sinnlos aufgenommenen Fetzens aus der Minderheitspolitik mit Emphase darzulegen, und die wähnt, mit einer solchen unverständigen Argumentation die Sinnlosigkeit eines oppositionellen Postulats zu beweisen. Diese Politik des nach „Wahrheit und Klarheit" dürstenden Heine bedarf in Ihren Blättern keiner kritischen Zerpflückung. Sie haben ja auch in zutreffenden Bemerkungen alles Wesentliche bereits vortrefflich gesagt. Indessen gibt mir dieser Artikel Anlass zu zwei Bemerkungen.

Erstens: Genosse Heine, der Verkünder der „Klarheit und Wahrheit", zitiert einige Stellen aus Feldpostbriefen, in denen irgendwelche Genossen irgend etwas über meine Abstimmung daherreden, d. h. in den allgemeinen Chorus einstimmen, der von gewissen Partei- und Gewerkschaftskreisen im trauten Verein mit der bürgerlichen Presse aller Schattierungen mir Hass, Rache und Vergeltung schwört. Schade um die schöne Zeit. Bei der Konfusion, die in so vielen parteigenössischen Köpfen herrscht, wäre es wahrlich ein Wunder, wenn sich nicht auch unter den Proletariern im Felde kapitale Konfusionsräte in gehöriger Zahl fänden. Genosse Heine hätte aber aus einem Gefühl, das ich nicht deutlicher bezeichnen will, vor der Ausnutzung solcher Feldpostbriefe zurückschrecken sollen. Er weiß ganz gut, dass die Genossen draußen im Felde nur eine ganz verzerrte Darstellung von meinem Verhalten bekommen haben und dass sie die von mir überreichte schriftliche Begründung meiner Abstimmung natürlich überhaupt nicht kennen, und Genosse Heine sollte wissen oder sich doch denken, dass es auch eine gehörige Zahl von Feldpostbriefen gibt, die genau die entgegengesetzte Auffassung vertreten, und dass jeder solcher Feldpostbriefe hundertfach schwerer wiegt als das Echo der von weitesten Parteikreisen heute getriebenen nationalistischen Augenblickspolitik und der zugleich lächerlichen und zugleich gehässigen Herunterreißereien, in denen sich ein großer Teil der Presse heute unter dem gnädigen Schutz der Militärdiktatur in heldenhafter Tapferkeit gütlich tut. Jeder der Feldpostbriefe in meinem Sinne ist ein Produkt selbständigen Nachdenkens, das sich trotz massenhafter verwirrender Einflüsse durchgesetzt hat. Es ist auch immerhin ein ganz anderes Risiko, eine derartige, der Militärdiktatur unerfreuliche Auffassung in einem Feldpostbriefe zu vertreten, als – wie es die Schreiber der Heineschen Feldpostbriefe tun – einfach mit den patriotischen und militaristischen Wölfen zu heulen.

Wie die Masse des deutschen Proletariats denkt, darüber hege ich die froheste Zuversicht. Ich glaube dafür untrügliche Beweise in Händen zu haben und freue mich der Aussicht und kann den Tag kaum erwarten, an dem die Auseinandersetzung über meine Stellungnahme in aller Öffentlichkeit vor den Massen der Genossen erörtert und geprüft werden wird. Aber vorläufig, bei aller Wahrheit und Klarheit, bitte keinen Sand in die Augen. Im deutschen Proletariat ist eine gewaltig und rapid anwachsende Strömung für eine ganz andere Politik als bisher während des Krieges von den maßgebenden Partei- und Gewerkschaftsinstanzen getrieben wird.

Zweitens: Mich wundert, dass Heine nicht einige andere Vorgänge aus der Fraktion der Öffentlichkeit unterbreitet, die, wie mir scheint, ein recht großes Allgemeininteresse haben. Ich rechne dazu, dass eine sehr starke Minderheit der Fraktion die Fraktionserklärung erheblich schärfer gefasst wünschte als die Mehrheit, dass sie insbesondere einen viel schärferen Protest wegen des Bruchs der belgischen Neutralität und eine rückhaltlose Bekundung des Willens zum Frieden in die Erklärung aufgenommen wissen wollte. Es muss dem Genossen Heine bekannt sein, dass gewisse Mitglieder der Fraktionsmehrheit im Gegensatz dazu geneigt waren, auf Wunsch der bürgerlichen Parteien die bereits beschlossene Fraktionserklärung noch weiter zu kastrieren, und dass dieser Plan nur unterblieb, weil ein erheblicher Teil der Fraktion den bestimmten Entschluss fasste, bei einer solchen Preisgabe ein besonderes Minderheitsvotum im Plenum des Reichstags abzugeben – zugleich ein interessanter Beleg zu der Frage des Disziplinbruchs. Ich rechne weiter dahin die Tatsache, dass zum Erstaunen vieler Fraktionsmitglieder die Regierung den Fraktionsvorstand davon unterrichten konnte, dass eine ganze Anzahl von Fraktionsmitgliedern bereit war, die Kredite ohne jede Erklärung zu bewilligen, und dass ein bürgerlicher Abgeordneter den Fraktionsvorstand darüber belehren konnte, dass auch in den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion Anhänger der Annexionspolitik sitzen. Diese wenigen Tatsachen dürften zum Verständnis der Fraktion und gerade auch meiner Haltung nicht unwesentlich sein. Eines Kommentars bedürfen sie nicht.

1 Die Empfänger dieses Schreibens sind nicht bekannt.

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