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Karl Liebknecht 19140924 Gegen chauvinistische Erhitzung des deutschen Volkes

Karl Liebknecht: Gegen chauvinistische Erhitzung des deutschen Volkes

Erklärungen zum Ehrengerichtsverfahren gegen Karl Liebknecht1

Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/12. (Nach dem Manuskript) Zuerst veröffentlicht in: Das Zuchthausurteil gegen Karl Liebknecht. Wörtliche Wiedergabe der Prozessakten, Urteile und Eingaben Liebknechts. Hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), Berlin 1919, S. 35-41. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 145-154]

I

An den

Ehrengerichtshof der Rechtsanwälte

Leipzig

Berlin, den 24. September 1914

In dem ehrengerichtlichen Verfahren gegen mich ist mir infolge vielfacher Abwesenheit von meinem Büro erst unmittelbar vor dem 19. dieses Monats zur Kenntnis gekommen, dass der auf diesen Tag anberaumte Termin aufgehoben worden ist. Ich bitte um gefl. Mitteilung, aus welchem Grunde diese Aufhebung erfolgt ist, und beantrage dringend die schleunige Anberaumung eines nahen anderweitigen Termins. Ich bemerke schon jetzt, dass ich die jetzige unter behördlicher Duldung und Förderung in Deutschland ausgebrochene Hetze gegen den russischen Zaren durchaus verwerflich finde und an alles andere denke, nur nicht daran, mir die zum Zwecke der chauvinistischen Erhitzung des deutschen Volkes künstlich erzeugte Stimmung in dem vorliegenden Verfahren nutzbar machen zu wollen. Ich werde es im Gegenteil mit aller Deutlichkeit ablehnen, mich von diesem jetzt in Deutschland herrschenden bequemen offiziösen Wind tragen zu lassen.

Der Rechtsanwalt

Dr. K. Liebknecht

II

An den

Ehrengerichtshof der Rechtsanwälte

Leipzig

Berlin, den 9. November 1914

In der Disziplinarsache gegen mich halte ich es zur Vermeidung von Missverständnissen für zweckmäßig, den wesentlichen Inhalt meiner Ausführungen in der vorgestrigen Verhandlung im Folgenden schriftlich niederzulegen:

Ich bin ein Anhänger der internationalen Sozialdemokratie, deren Politik aus zwei Hauptwurzeln erwächst: der Tatsache des Klassenkampfs und dem Postulat der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" Aus dieser meiner politischen Stellung, an der ich heute mehr denn je festhalte, erklärt sich meine Todfeindschaft gegen den Zarismus, meine begeisterte Sympathie für die revolutionäre Bewegung Russlands.

Über den russischen Zarismus selbst ist hier nicht mehr zu handeln, nachdem der Oberstaatsanwalt vor wenigen Tagen seine Berufung, die meine Verurteilung wegen der Angriffe gegen den Zaren anstrebte, zurückgenommen hat. Wohl aber handelt es sich noch um die zaristische Politik deutscher Regierungen.

Meine jetzt noch inkriminierten Ausführungen sind unmittelbar veranlasst durch die einzelnen Vorgänge, die die fragliche Rede anführt und die sie bereits vollauf rechtfertigen. Die Schärfe meiner Angriffe wird aber um so leichter verstanden werden, wenn man erwägt, dass sie, wie ja die Rede ergibt, das Schlussurteil über die gesamte traditionelle zarophile Politik Deutschlands, insbesondere Preußens, darstellen; über jene Politik der Liebedienerei gegen die russische Regierung und der Schikane, der Verfolgung, des Hasses gegen jede Freiheitsbewegung des russischen Volkes; über die Massenausweisungen, die Auslieferung politisch „Verdächtiger", die Bespitzelung ihres Postverkehrs, die willkürlichen Haussuchungen und Verhaftungen, die Unterstellung der deutschen Universitäten unter russische Polizeiaufsicht (vgl. zuletzt den Fall Dubrowski); über die gewohnheitsmäßige Komplizität der deutschen; besonders der preußischen Polizei mit der russischen zur Überwachung der dem Zarismus missliebigen Elemente; über die Duldung russischer Polizeiagenten in Deutschland, die ängstliche Rücksicht auf jedes Stirnrunzeln der russischen Regierung – noch im Frühling dieses Jahres suchte man der Veranstaltung von Versammlungen über die russischen Gefängnisgräuel Schwierigkeiten zu bereiten –; über die schwächliche Duldung der seit vielen Jahren immer wiederholten kosakischen Grenzverletzungen; über die Inschutznahme des Zaren und der russischen Barbarei gegen jeden politischen Angriff; über den traurigen Königsberger Prozess vom Jahre 1904, in dem deutsche Reichsangehörige wegen Hochverrats gegen die russische Regierung, wegen Beleidigung der zarischen Majestät und wegen Geheimbunds vor einem deutschen Gericht angeklagt und verurteilt sind; über den 1909 in Dresden verhandelten Geheimbundsprozess gegen Grienblatt und Genossen, in dem ebenso wie im Königsberger Hochverratsprozess gefälschte Dokumente eine Hauptrolle spielten. Ordnungsrufe im Parlament bei jedem scharfen Wort gegen die russische Schmach; vor zwei Jahren im preußischen Abgeordnetenhaus ein regelrechtes Kesseltreiben gegen mich, weil ich die russische Regierung und das russische Staatswesen als das barbarischste der Welt bezeichnet hatte! Und ist dieses ganze Ehrengerichtsverfahren nicht ein Dienst für den Zarismus? Seine Entstehungsgeschichte zeigt das, die Berufung des Oberstaatsanwalts bestätigt es, und am deutlichsten beweisen es die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses vom Juni dieses Jahres, die mich unter Bruch einer allgemein geübten Praxis dem Ehrengerichtshof auslieferten.2

In den Jahren 1905/1906, während der großen russischen Revolution, war Deutschland drauf und dran, dem Zarismus zu Hilfe zu kommen, das um seine Befreiung aus blutigen Banden kämpfende russische Volk mit militärischer Gewalt niederzuwerfen. 1904 rief Fürst Bülow in seiner Rede gegen die „Schnorrer und Verschwörer" jenes: tua res agitur, das heißt, die Unterdrückung der russischen Revolution und die Verteidigung der zarischen Barbarei wird von der deutschen Regierung als ihre eigene Angelegenheit betrachtet! Dieses Wort wurde wiederholt von dem Staatsanwalt im Königsberger Hochverratsprozess. Es wurde ständig praktiziert bis in die jüngsten Tage hinein, und alles, was sich im Jahre 1910 in Preußen und in Hessen abgespielt hat und was den unmittelbaren Anlass zu meinen Angriffen bildete, war nur die konsequente Fortsetzung dieser würdigen politischen Überlieferung.

Ich will nicht wiederholen, was ich in der früheren Instanz bereits ausgeführt habe. Ich bitte dies dem überreichten gedruckten Bericht zu entnehmen und nicht etwa dem Protokoll. Nur auf eines sei noch hingewiesen: Der damalige Besuch des Zaren in Deutschland schloss ab mit der Potsdamer Entrevue zwischen dem Zaren und dem deutschen Kaiser, in der von der deutschen Regierung an Russland und England jenes unglückliche Persien auf Halbpart ausgeantwortet wurde, nach dessen Erhebung gegen Russland heute die deutschen Staatsmänner lechzen.

Man hat mir nahegelegt, die heutige Verhandlung zu einem melodramatischen Akt zu gestalten, zu erklären: „Mag die deutsche Regierung, die preußische und hessische Regierung früher mit ihrer zarophilen Politik noch so schwer gefehlt haben, jetzt ist sie eines Besseren belehrt und auf dem rechten Weg." Ich vermag jedoch keine Indemnität, keine Absolution zu erteilen.

Gewiss, vor etwa drei Monaten hat sich ein ganz verblüffender Wandel vollzogen. Gröbste Schmähreden werden von den Zeitungen, von Angehörigen der sogenannten Intelligenz, von Honoratioren, Beamten, auch in amtlichen Kundgebungen gegen fremde Souveräne, fremde Regierungen geschleudert und sogar hervorragend gegen den Zaren. Niemand schreitet ein. Der Zar ist über Nacht vogelfrei geworden. Aber all dies geschieht aus Beweggründen und zu Zwecken, die ich sehr niedrig einschätze; es ist aus trüben Instinkten geboren, lanciert aus dem sicheren Port der Regierungsgunst, nachdem und weil es erlaubt und ungefährlich ist.

Ich lehne die Gemeinschaft mit den Gesellen ab, die im Juni mich in kreischender Wut kreuzigen wollten, weil ich für die getretene Menschlichkeit gegen den damals allmächtigen und angebeteten „Blutzaren" auftrat, und die kaum einen Monat später, nicht zu Zwecken der Menschenliebe, sondern des Menschenhasses, vielfach kommandiert, sich in Beschimpfungen gegen den eben noch über alles Geliebten überstürzten, Beschimpfungen, die einen Thersites vor Neid vergilben würden.

Gewiss, die deutsche Regierung harrt seit drei Monaten sehnsüchtig der einst verhassten russischen Revolution. Über Nacht ist sie aus einem Objekt des Hasses und der Furcht zu einem Objekt der innigsten Hoffnung geworden. Die deutsche Regierung verbreitet heute revolutionäre Aufrufe und Propagandaschriften an die Polen, an die Juden (in Jiddisch!), Schriften, die die russische Bevölkerung zur Empörung gegen Russland aufrufen. (Vgl. § 81 ff. des deutschen Strafgesetzbuchs.) Sie tritt auf als Befreierin des russischen Volks, der vom Zarismus unterjochten Völker aus der zarischen Knechtschaft.

Gegen den Zarismus" hieß die Parole, mit der dieser Krieg popularisiert wurde. Unter dieser Parole zog man über das unglückliche Belgien, gegen Luxemburg und Frankreich. Sie machte die edelsten Regungen des deutschen Volkes nutzbar zur Steigerung des Völkerhasses. Borussia im Waffenrock als Freiheitsgöttin mit der Fackel der Völkerbeglückung wirkt wenig überzeugend.

Das russische Volk hat diese Beglückung abgelehnt. Es will sich selbst befreien, nicht sich einen Befreier aufzwingen lassen, dessen plötzliche Freiheitsschwärmerei höchst verdächtig ist. Es sagt: Schafft erst einmal Freiheit im eigenen Land; unfreie Menschen, Dreiklassenwähler, preußische Junker, Hakatisten3 können keine Freiheit bringen; das ist kein Freiheitskampf, das ist die Vorspiegelung eines Freiheitskampfes. Man wird begreifen, dass mir diese Leistung der deutschen Regierung beim besten Willen nicht imponiert.

Nochmals, ich vermag keine Indemnität zu erteilen. Die deutsche, die preußische Regierung war die Mitschuldige des Zarismus, und sie wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, wiederum die Mitschuldige des Zarismus sein. Schon verlautete in der Presse von „Herbstsonnenfädchen", die sich zwischen Petersburg und Berlin zu spinnen begannen, die allerdings inzwischen von den deutschen und russischen Interessenten an der imperialistischen Ausbeutung Vorderasiens auf absehbare Zeit zerfetzt worden sind.

Ich wünsche keine milde Beurteilung aus der scheinbaren Gunst dieses Augenblicks. Wenn der Gerichtshof irgendwelche Regungen solcher Art fühlen sollte, so bitte ich dringend, das Verfahren dennoch auszusetzen, bis der Krieg beendet ist – möglicherweise, ja wahrscheinlich mit einem Bündnis zwischen Deutschland, d. h. dem „verlängerten Preußen" – und dem zaristischen Russland.

Ich erkläre ohne jeden Vorbehalt, dass ich von meinen Angriffen gegen die preußische und hessische Regierung, die hier zur Anklage stehen, auch heute kein Jota zurücknehme, dass ich sie vielmehr nach alledem heute gerade verschärfe, verdoppele.

Das ist das Wesentliche, was ich zu bemerken habe. Denn dieser Prozess ist ein politischer Prozess, nichts anderes. Er will meine politischen Anschauungen bestrafen, meine politischen Empfindungen.

Ich soll gefehlt haben einmal durch den sachlichen Inhalt meiner Vorwürfe, sodann durch die Form, in der sie erhoben sind.

Der sachliche Inhalt ist in der Rede selbst hinreichend motiviert. Ich habe in ihr die einzelnen neueren Umstände aufgezählt, die mein Gesamturteil mitbestimmt haben: die Zulassung russischer Polizisten in Deutschland, die Verschleuderung deutscher Steuergroschen, die groben Verletzungen des Versammlungsrechts usw.

Wer da meinen möchte, dass ich in meinem Urteil zu sehr verallgemeinert habe, dem erwidere ich: Diese Verallgemeinerung ist ein politisches Urteil, in das ich mir nicht hineinreden lasse. Für mich sind alle die angeführten Einzelvorgänge symptomatisch, Ausflüsse eines politischen Systems. An dem Beispiel der Verletzung des Versammlungsrechts tritt dies deutlich zutage. Es ist ein Zufall, dass nur drei oder vier Versammlungen gesetzwidrig verhindert sind. Wären zehnmal so viele Versammlungen unternommen worden, sie wären von der Regierung genau ebenso behandelt worden wie jene drei oder vier. Das Versammlungsrecht ist ein verfassungsmäßiges Grundrecht. Seine Verletzung bedeutet einen schweren Verfassungsbruch. Dieser Bruch ist begangen durch die Regierung, die zum Schutze des Gesetzes berufen ist. Es handelt sich also um eine ernste Angelegenheit, bei der es sich lohnt, mit Leidenschaftlichkeit zu kämpfen.

Erwägen Sie noch das eine: Jaurès, mein Freund, jener große Freund der Menschheit und nicht zum wenigsten auch des deutschen Volkes, der für den Frieden starb, sollte in einer dieser Versammlungen reden gegen den Zarismus, er, einer der einflussreichsten Politiker des mit Russland verbündeten Frankreichs, der das Bündnis bekämpfen wollte, das jetzt uns und Frankreich und der ganzen Welt so verhängnisvoll geworden ist.

Mag irgendjemand, mögen Sie alle dieses mein politisch sachliches Urteil nicht billigen – ich verwahre mich dagegen, dass man hier darüber zu Gericht sitzen will.

Und die Form: Man hat mich rechtskräftig freigesprochen wegen meiner Angriffe gegen den Zaren. Die Form dieser Angriffe ist unvergleichlich schwerer als die der Angriffe gegen die deutschen Regierungen. Worin liegt der Unterschied zwischen beiden Angriffen? Nicht in der Form, sondern im Objekt, im Ziel der Angriffe. Das ist aber ein Stück des sachlichen Inhalts, nicht der Form. Es gehört zur rein politischen Seite der Sache, nicht zur formellen.

Will man eine besondere Pflicht statuieren, Angriffe nach oben, gegen die Regierungen, in der Form vorsichtig, milde zu fassen? Weshalb? Ich meine, es gilt gegen die Schwachen, nach unten, mild und entgegenkommend zu sein, gegen die Mächtigen, nach oben, scharf und steifnackig. Ein anderer Standpunkt ist feige.

Die Form meiner Rede mag ästhetisch nicht befriedigen. Die Häufung starker Worte mag je nach dem Geschmack wenig Anklang finden. Die Stärke der Worte ist jedoch ein Ausfluss des Temperaments, der Stimmung, der Leidenschaftlichkeit, der politischen Gesamtauffassung und der persönlichen Art. Ich muss mir auch hier jedes Hineinreden verbitten. Es ist meine Sache, die nur mich als Politiker angeht, jeweils zu bestimmen, welche Form ich zur Erreichung meines politischen Zwecks für die geeignete halte. Ich fordere das Verständnis dafür, dass ich aus einer großen Erregung, um hoher idealer Zwecke willen, im Kampf um der Menschheit große Gegenstände die von mir gewählten Wendungen als den geeigneten sprachlichen Ausdruck meiner Gedanken und Empfindungen gewählt habe. Ich berufe mich auf die Bibel, auf Luther, auf die großen Dichter, auf Shakespeare, auf den Goetheschen Faust. Die Stärke des Ausdrucks kann und muss als ein Mittel anerkannt werden, den Grad einer Stimmung auszudrücken. Das Ethos des Zweckes und der Erregung kann die schärfste Form decken. Just in der heutigen Zeit sollte das Verständnis dafür größer geworden sein.

Über die Ausdrucksweise mit mir rechten wollen heißt dem Ehrengerichtshof die wenig erhebende Rolle einer politischen Anstandsdame zumuten.

Gewiss mögen meine Wendungen gegen § 185 StGB verstoßen. Solche Verstöße werden jedoch in der Politik, wie bekannt, tagtäglich begangen. Auch von den höchsten Beamten. Äußerungen politischer Leidenschaft mit der Elle des § 185 messen wollen hat von je als geschmacklos gegolten. Als Fürst Bülow von den Schnorrern und Verschwörern sprach, verstieß er gegen das Gesetz, und nicht minder der frühere preußische Minister des Innern, jetziger Statthalter von Elsass-Lothringen, Herr von Dallwitz, als er 1912 seine von schärfsten Invektiven strotzende Rede gegen die sozialdemokratisch stimmenden Beamten hielt.

Ich bestreite schroff, gegen die Standeswürde verstoßen zu haben. Gerade weil ich Rechtsanwalt bin, hatte ich die besondere Legitimation, mit schärfsten Mitteln den Kampf aufzunehmen gegen die Rechtsbrüche der Regierung, die mich gerade als Rechtsanwalt besonders empfindlich berühren, und gerade weil sie von der Regierung verübt sind. Wenn gar von einem Verstoß gegen Pflichten des Anstands und der Sittlichkeit die Rede ist, so habe ich dafür nur ein erstauntes Achselzucken.

Man sinnt mir an, ich hätte mit meiner Rede andere Zwecke, nicht die von mir hervorgehobenen hohen ethischen, verfolgt, nämlich – Zwecke der Agitation. Es ist meine ganz persönliche Angelegenheit, ob ich agitatorische Zwecke verfolge oder nicht. Auch hier muss ich jedes Nachspüren zurückweisen. Der Zweck der Agitation steht zudem doch wirklich nicht im Gegensatz zu Zwecken der Ethik. Erfolgt die Agitation zu idealen Zwecken, so ist sie selbst auch ideal. Das edle Ziel adelt die Wirksamkeit für dieses Ziel.

Wer wagt es anzuzweifeln, dass meine Rede ohne jeden Vorbehalt der Freiheit und Menschlichkeit unterdrückter Völker dienen sollte?

Natürlich ist die zaristische Politik der deutschen Regierung nur ein organisches Glied ihrer Gesamtpolitik. Selbstverständlich bekämpfe ich, indem ich das eine Stück bekämpfe, zugleich diese Gesamtpolitik.

Der Ehrengerichtshof hat im vorliegenden Fall rund und nett zu entscheiden, ob der Anwalt politisch frei ist, zu entscheiden über das Recht der freien Meinungsäußerung in der Advokatur, über die Freiheit der Advokatur im tiefsten moralischen Sinn.

Im Namen dieser Freiheit und des politischen Pflichtbewusstseins fordere ich meine Freisprechung.

Der Rechtsanwalt [Dr. K. Liebknecht]4

1Ehrengerichtsverfahren gegen Karl Liebknecht – Im Februar 1911 eröffnet, weil er auf dem Magdeburger Parteitag 1910 den russischen Zaren und die preußische und hessische Regierung angegriffen hatte (siehe Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. III, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 490-497). Am 11. Oktober 1911 fand die Verhandlung erster Instanz vor der Anwaltskammer für die Provinz Brandenburg statt. Karl Liebknecht erhielt einen Verweis. Beide Seiten legten Berufung ein. Da das Verfahren infolge der parlamentarischen Immunität Liebknechts während der Sitzungsperioden des preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstages ausgesetzt werden musste, zog es sich bis ins Jahr 1914 hin. Im Juni 1914 wurde es wieder aufgenommen und der 19. September als Verhandlungstermin festgelegt. Die Justizorgane hoben jedoch diesen Termin nach Kriegsausbruch auf. Sie waren an dem Prozess nicht mehr interessiert, weil sie Liebknechts antizaristische Haltung zur chauvinistischen Hetze gegen Russland auszunutzen gedachten. Da Liebknecht aber auf der Durchführung des Verfahrens bestand, fand die Berufungsverhandlung am 7. November 1914 statt. Der Verweis von 1911 wurde bestätigt.

2 Am 16. Juni 1914 lehnte das preußische Abgeordnetenhaus einen Antrag der sozialdemokratischen Fraktion ab, das gegen Karl Liebknecht schwebende Disziplinarverfahren für die Dauer der Sitzungsperiode einzustellen.

3Hakatisten – Gemeint sind die Anhänger des Ostmarkenvereins, einer 1894 in Berlin gegründeten Propagandaorganisation des deutschen Monopolkapitals und der Junker zur rücksichtslosen nationalen Unterdrückung der Polen. Nach den Anfangsbuchstaben ihrer drei Führer, von Hansemann, Kennemann, von Tiedemann, auch Hakatisten-Verein genannt.

4 nach nicht unterzeichneten Vorlagen oder Durchschlägen wiedergegeben

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