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Karl Liebknecht19140509 Gegen kapitalistische Klassenpolitik und Klerikalismus in der Schule

Karl Liebknecht: Gegen kapitalistische Klassenpolitik und Klerikalismus in der Schule

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus bei der Beratung des Titels Elementarunterrichtswesen des Kultusetats

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, II. Session 1914/15, 5. Bd., Berlin 1914, Sp. 6502-6511 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 228-240]

Meine Herren, die gewaltige Tapferkeit, mit der die Herren von der Nationalliberalen Partei gegen die geistliche Schulaufsicht wüten, darf man fast sagen, steht in einem sonderbaren Gegensatz zu der Tatsache, dass die Herren von der Nationalliberalen Partei vor wenigen Jahren mit dazu beigetragen haben, dass die Volksschule der Geistlichkeit, der Kirche ausgeliefert worden ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Der ganze Kampf kann von uns daher nur als eine Spiegelfechterei aufgefasst werden, hinter der ein ernsthafter Wille, gegen die Verpfaffung der Schule einzutreten, nicht steht.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Der ernsthafte Wille gegen eine Verpfaffung der Schule, wenn ich dieses drastische Wort gebrauchen darf, ist bei den Herren schon darum nicht vorhanden, weil in ihrem Schulideal die Religion eine große Rolle spielt.

Wir fordern Verweltlichung der Schule, Beseitigung des dogmatischen Religionsunterrichts aus der Schule. Wir fordern Freiheit und Selbstverwaltung der Schule im weitesten Umfang, Loslösung ihrer Aufgabe von aller politischen und religiösen Zweckbestimmung. Diese Forderung, um die es sich lohnt zu kämpfen, vertritt keine der anderen Parteien dieses Hauses.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn die Herren vom Zentrum mit den Herren von der Freikonservativen und der Nationalliberalen Partei streiten, so handelt es sich darum: Herr von Zedlitz will in der Schule die Staatsräson statt der Kirchenräson, die das Zentrum darin will.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber keiner von beiden will die Selbstverwaltung und die wissenschaftliche, pädagogische Selbständigkeit der Schule. Die Freikonservative Partei befindet sich ja in dieser Beziehung in Übereinstimmung mit der Nationalliberalen Partei; sie ist die kalte, rücksichtslose Vertreterin der Staatsräson auch gegenüber der Kirche; ihr geht Staatsräson über alles, während dem Zentrum die Kirchenräson über alles geht.

Wenn der Herr Abgeordnete von Pappenheim die Schulaufsicht für nötig hält, weil es doch geboten sei, dass die Lehrer auf dem rechten Wege erhalten werden, kurzum, weil es nötig sei, die Lehrer am Gängelband zu halten – ja, meine Herren, diese Aufsicht, die Schulaufsicht in diesem Sinne bedeutet in der Tat eine Entwürdigung der Lehrer.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Vorgesetzte gibt es bei uns in Preußen allerdings für jeden Menschen; von der Wiege bis zum Grabe wird er von Vorgesetzten beobachtet, kontrolliert, reglementiert. Aber, meine Herren, warum soll der Lehrer eine ganz spezielle Aufsicht in dem Ortsschulinspektor haben, warum ist es notwendig, dass er von jemand, der ihm an Bildung in der Regel gar nicht überlegen ist, gegängelt wird, noch dazu von jemand, der fast regelmäßig ein Geistlicher ist?

Was hat denn alles dieses „Auf-den-rechten-Weg-Leiten", dieses Am-Gängelbande-Führen in dem bürokratischen Sinne im Schlussresultat für einen Wert? Es leben, wie Sie wissen, auch in unserem geistlichen Stande, auch im Stande unserer Lehrer falsche Alexander, ebenso wie in unserer Kommunalverwaltung jüngst der falsche Alexander aufgetaucht ist. Und all das trotz der bürokratischen Kontrolle, die mit jener Akribie ausgeübt zu werden pflegt, für die Sie nicht genug Rühmens haben. Im Schlussresultat geht auch der Kampf, den die Herren Nationalliberalen hier unter ungeheurem Getöse über die Kreisschulinspektoren führen, meist nur darum, ob dieses Amt von Geistlichen im Hauptamte oder von Geistlichen im Nebenamte verwaltet werden soll.

Denn in der Tat, auch die hauptamtlichen Kreisschulinspektoren sind doch nach der gegenwärtigen Praxis in der bei weitem überwiegenden Zahl Geistliche. Im Grunde genommen läuft es also darauf hinaus: Ob hauptamtlich oder nebenamtlich, es wird bei der gegenwärtigen Praxis immer auf eine Bevormundung durch den geistlichen Stand hinauskommen. Es ist ja richtig, dass die Herren in ihren Anträgen, auch die Herren Freikonservativen, eine Bevorzugung von im Dienste der Volksschule erfahrenen Männern und nach Möglichkeit seminarisch vorgebildeten Lehrern fordern; aber es dürfte ja wohl keinem Zweifel unterliegen, dass man trotz alledem die Geistlichen weiter bevorzugen wird. Meine Herren, trotz der Auffassung, dass es Ihnen mit dem Kampfe um eine Selbstverwaltung der Schule, um ihre Befreiung von den geistlichen Fesseln nicht ernst ist, und trotzdem der Antrag Aronsohn und Genossen1 in seinem Absatz b mit dem freikonservativen Antrage übereinstimmt, können wir uns mit dem Antrage Aronsohn und Genossen immerhin einverstanden erklären, weil dieser Antrag gegenüber dem gegenwärtigen Zustande eine gewisse Besserung bedeutet.

Noch eine Bemerkung zu diesem Thema. Der Abgeordnete von Pappenheim ist vorhin in eine ungeheure Aufregung darüber geraten, weil ihm – ich glaube, es war der Kollege Graue – der Vorwurf gemacht worden war, dass die Konservativen sich in diesem Punkte von dem Zentrum ins Schlepptau hätten nehmen lassen. Nun, meine Herren, der Vorwurf des Herrn Abgeordneten Graue ist keineswegs so unbegründet, und das Pathos, mit dem der Herr Abgeordnete von Pappenheim ihm entgegengetreten ist, hat sicherlich keinen hier im Hause überzeugt. Seit der Zeit des blau-schwarzen Bündnisses befinden sich allerdings die Herren Konservativen gerade in Bezug auf die konfessionelle Politik in einer ungemein starken Abhängigkeit vom Zentrum.

(„Sehr wahr!" links. – Lachen rechts.)

Das Zentrum hat in Bezug auf die konfessionelle Politik nicht einen Millimeter nachgegeben, und Sie (nach rechts) haben Schritt für Schritt nachgegeben.

(Zuruf rechts: „Wo denn?")

Soll ich Sie erinnern an Ihre Haltung gegenüber der Borromäus-Enzyklika2? In Bezug auf den Antimodernisteneid3?

(Zurufe rechts: „Nicht einen Schritt!" „Ganz unwahr!")

Wenn Sie, die Herren von der Konservativen Partei, sich als die ausgeprägten Vertreter des reinen Evangelismus hinstellen – haben Sie in diesen Fällen Veranlassung genommen, mit der erforderlichen Energie hier die Interessen der evangelischen, der protestantischen Kirche zu vertreten?

(Rufe rechts: „Jawohl!")

Aber wie! Es war eine Schamade, aber keine Fanfare, die Sie damals geblasen haben. Und durch Schlussanträge haben Sie den Kampf damals zu schwächen gesucht,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

mit allen Ihren Mitteln.

(Zuruf des Abgeordneten von Pappenheim.)

Herr von Pappenheim, man hat die Absicht gemerkt und ist verstimmt worden; Ihrem Pathos trauen wir nicht!

Bevor ich diesen Punkt verlasse, möchte ich noch einen Fall hervorheben, über den mir das Aktenmaterial zugegangen ist, in dem sich die geistliche Schulaufsicht einem Lehrer gegenüber als besonders verhängnisvoll erwiesen hat. Das ist der Fall des Hauptlehrers Weber in Weißensee (Provinz Sachsen). Meine Herren, dieser Lehrer war mit dem Ortsschulinspektor in einen Konflikt geraten: Er soll irgendwie – so heißt es in dem mir zugegangenen Material – durch eine burschikose, vielleicht ungehörige Redewendung über ein unschönes Verhalten des Ortsschulinspektors dessen Zorn heraufbeschworen haben. Die Folge war, dass er rücksichtslos verfolgt und gemaßregelt wurde,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass ihm schließlich – einem Manne, der 23 Jahre als Lehrer amtiert hatte – die Alternative gestellt wurde, entweder den Ort zu verlassen, wo er so lange Zeit gewirkt hatte, wo er mit seiner Familie ansässig war und sich angekauft hatte, und in einen Waldort namens Viernau zu gehen, in eine Stelle, welche schon ein Jahr lang vergebens ausgeboten und von niemand begehrt worden war, oder aber auf sein Amt als Hauptlehrer in Weißensee zu verzichten und sich einem jüngeren Kollegen in diesem Orte zu unterwerfen,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

also eine Degradierung schlimmster Art auf sich zu nehmen. Diese Maßregelung des nach dem mir vorliegenden Material offensichtlich sehr tüchtigen und verdienten Lehrers auf Veranlassung der Schulaufsicht hat dazu geführt, dass der Bedauernswerte infolge Aufregung von einem Schlaganfall getroffen wurde und einige Zeit darauf gestorben ist.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, dass die Sache sich so verhält – wenigstens nach Auffassung der Lehrerschaft der dortigen Gegend –, das beweist der Nachruf, den der Lehrerverein Straußfurt und Umgegend Weber in dem Schulblatt für die Provinz Sachsen geschrieben hat. Dort heißt es:

Am 30. November verstarb plötzlich innerhalb weniger Minuten unser liebes Mitglied Herr Hauptlehrer a. D. A. Weber aus Weißensee in Thüringen. Seine zahlreichen Ehrenämter als stellvertretender Vorsitzender unseres Vereins, Vorsitzender des Kreisbüros, Agent des Pestalozzi-Vereins und Verbandsdirektor der Raiffeisenorganisation, Kassierer des Gustav-Adolf-Vereins bezeugen besser, als ehrende Worte es vermögen, die Hochachtung und Beliebtheit, deren sich der teure Entschlafene erfreute."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Jetzt kommt ein Passus, der ganz ohnegleichen sein dürfte: „Zwar unterlegen im Kampfe gegen die geistliche Ortsschulaufsicht,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

war er doch, wie an seinem Grabe rühmend bezeugt wurde, ein trefflicher Lehrer und ein gerader, aufrechter, seit seinem Ausscheiden aus dem Amte leider auch gebrochener Mann.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Wird der Besten der Unseren gedacht, so wird auch sein Name bei uns genannt werden. Friede dem Kämpfer! Der Lehrerverein Straußfurt und Umgegend."

Einen ganz ähnlichen Nachruf hat der Lehrerverein Quedlinburg am 10. Dezember 1913 erlassen.

Diese einmütige öffentliche Stellungnahme der Lehrerschaft für Weber und gegen die geistliche Ortsschulaufsicht spricht Bände und beweist, welchen Qualen Lehrer, denen es Ernst um ihren Beruf ist und die auf die Würde ihres Berufes, ihres Standes halten, durch die gegenwärtige Art der Ortsschulaufsicht ausgesetzt werden.

Meine Herren, ich will zu einem anderen Punkte übergehen. Wir haben uns bei dem Thema Schulaufsicht in früheren Jahren wiederholt eingehend über die Tätigkeit der Schulaufsichtsbehörden bei den Regierungen, der Abteilungen für Kirchen- und Schulwesen, unterhalten. Ich habe besonders die unerhörten Zustände, die in Bezug auf den Unterrichtserlaubnisschein bestehen, zur Sprache gebracht, und wiederholt haben wir uns hier im Hause über die vollkommene Rechtlosigkeit der Bevölkerung gegenüber den Schulaufsichtsverfügungen beschwert. Die Schulaufsichtsverfügungen sind bislang bekanntlich jeder rechtlichen Kontrolle entzogen. Nun soll diesem Zustand ein Ende bereitet werden so könnte es scheinen – durch den Gesetzentwurf, der dem Herrenhause – und jetzt auch dem Abgeordnetenhause in Drucksache Nummer 184 vorgelegt worden ist. Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, von diesem Gesetzentwurf, den wir später zu beraten haben werden, eingehend zu handeln. Ich möchte nur auf das eine hinweisen: dass dieser Gesetzentwurf in keiner Weise die genügenden Garantien gegen die Schulaufsichtsbehörden, keineswegs die erforderliche Rechtssicherheit schafft. Charakteristisch ist, dass sich dieser Entwurf ausführlich auslässt und Bestimmungen trifft über die Schulunterhaltungspflicht, eine Geldfrage, die natürlich nicht bedeutungslos, aber doch immerhin keine ideale Frage ist; und in Bezug auf die Streitigkeiten zwischen Schulunterhaltungspflichtigen sieht er nach Paragraph 3 ganz allgemein das Verwaltungsstreitverfahren im üblichen Sinne des Landesverwaltungsgesetzes vor, unbegrenzt, mit der Zuständigkeit des Kreisausschusses, Bezirksausschusses, eventuell des Oberverwaltungsgerichts, das letztere in der Lage, gegebenenfalls auch das Tatsächliche nachzuprüfen, nicht nur rechtlich als Revisionsinstanz. Meine Herren, weil die Volksschulunterhaltungsfrage auch eine Geldfrage ist, die gerade auch die Interessen der Mehrheitsparteien dieses Hauses berührt, deshalb ist sie in dem Gesetzentwurf mit solcher Sorgfältigkeit behandelt und mit Rechtsgarantien umgeben. Andere Fragen, zum Beispiel die Versagung oder Entziehung der Genehmigung zur Errichtung einer Privaterziehungsanstalt, wobei gleichzeitig über die moralische Qualifikation der betreffenden Person zu entscheiden ist, Versagung oder Zurücknahme eines Unterrichtserlaubnisscheines und dergleichen Dinge, sind nur der Beschwerde an den Oberpräsidenten unterworfen, und gegen die Entscheidung des Oberpräsidenten soll es künftig nur eine Revision über die Rechtsfrage an das Oberverwaltungsgericht geben. Meine Herren, das bedeutet natürlich gegenüber der allgemeinen Form des Verwaltungsstreitverfahrens, wie es das Landesverwaltungsgesetz kennt, einen außerordentlich ungünstigen Zustand. Die Revisionsinstanz, das Verwaltungsgericht, wird sich über die wichtigsten Tatfragen nicht selbst schlüssig machen können, bleibt vielmehr an die tatsächlichen Feststellungen des Oberpräsidenten gebunden. Diese können natürlich – das weiß ja jedes Kind, und das wissen Juristen am besten – immer so getroffen werden, dass sie rechtlich unantastbar sind. Es ist eine der wichtigsten Fragen für eine genügend kontrollierte, garantierte Justiz, dass sie für Feststellung der Tatsachen die erforderliche Sicherheit gewährt, dass eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen möglich ist. Hier aber soll es dazu nicht einmal eine mit richterlichen Funktionen versehene untere Instanz geben. Die Tatsachen soll allein eine unverantwortliche Verwaltungsinstanz, der Oberpräsident, feststellen!

Meine Herren, ich habe es für nötig gehalten, darauf schon hier hinzuweisen, und ich betone es noch einmal, dass es mir geradezu als eine ich möchte fast sagen – Verspottung des Wunsches erscheint, der von verschiedenen Seiten ausgesprochen war, des Wunsches nach Schaffung der erforderlichen Rechtsgarantien gegenüber der Schulaufsichtsbehörde, wenn man uns einen derartigen Gesetzentwurf vorlegt. Auf eine Frage darf ich dabei hinweisen, die bei diesen Schulaufsichtsverfügungen über den Unterrichtserlaubnisschein eine besonders große Rolle spielt, nämlich ob überhaupt ein „Unterricht" vorgelegen hat. Darüber kann man in tatsächlicher Beziehung sehr oft streiten. Natürlich ist der Begriff des Unterrichts im Sinne der Kabinettsorder von 18344 ein Rechtsbegriff. Aber es ist doch eine Kleinigkeit, die nötigen „Feststellungen" zu treffen, die das Revisionsgericht binden, so dass eine wirkliche Nachprüfung überhaupt ausgeschlossen ist. Es könnten natürlich noch ungezählte andere Beispiele zum Nachweis der Unzulänglichkeit dieser Gesetzesbestimmung beigebracht werden.

Krass ist besonders die Tatsache, dass nach Paragraph 9 des fraglichen Gesetzentwurfs auch diese kleine Reform, die man als eine Scheinreform zu bezeichnen versucht ist, auf die Provinz Posen gar keine Anwendung finden soll.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Man weiß ja, dass gerade gegen die Polen in der Provinz Posen mit diesen Schulaufsichtsverfügungen geradezu ein Unfug getrieben worden ist, der gar nicht scharf genug gebrandmarkt werden kann.

Nun, meine Herren, habe ich noch einen Fall vorzutragen, der hiermit in unmittelbarem Zusammenhange steht. Sie haben vielleicht aus der Presse bereits davon Kenntnis bekommen. In Schkeuditz in der Provinz Sachsen befindet sich eine Fortbildungsschule. Der Leiter dieser Fortbildungsschule, Rektor Mickisch, hat im Januar 1913 an ihr eine politische Zeitung als Lernmittel obligatorisch eingeführt, und zwar die periodisch erscheinende Druckschrift „Wir sind Deutschlands Jugend". Meine Herren, das ist eine Zeitung, die literarisch auf dem niedrigsten Niveau steht, die politisch etwa die Richtung des Jungdeutschlandbundes5, der alldeutschen Jugendpflegeorganisationen vertritt. Diese Zeitschrift, die nach Feststellung der Gerichte eine politische Zeitschrift ist, ist von dem Leiter der Fortbildungsschule nicht etwa nur zur Einführung empfohlen, sondern, ich wiederhole, als Lernmittel obligatorisch eingeführt.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. von Krause: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich kann aber nicht den Zusammenhang dessen, was Sie jetzt ausführen, mit der Schulaufsicht erkennen; das gehört nicht zu dem Kapitel. Sie dürfen natürlich bei der Schulaufsicht nicht über alle Gegenstände sprechen.

Liebknecht: Der Herr Präsident würde seine Rekrimination wahrscheinlich nicht unternommen haben, wenn er gehört hätte, dass diese Anordnung des Leiters der Fortbildungsschule auf Veranlassung der Abteilung für Kirchen- und Schulwesen des Regierungspräsidenten in Merseburg getroffen ist,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

also der Schulaufsichtsbehörde, mit der wir uns gerade zu befassen haben. – Ja, Herr Präsident, ich kann nicht alles auf einmal sagen. – Nun, meine Herren, ich habe hier ein Urteil des Landgerichts Halle vom 14. November 1913, aus dem sich folgendes ergibt.

Es wird von den Fortbildungsschülern nach der auf Veranlassung des Regierungspräsidenten zu Merseburg ergangenen Anweisung gefordert, dass sie auf diese Zeitung abonnieren. Einige Schüler beziehungsweise ihre Eltern weigerten sich, worauf sie wegen Übertretung der Schulordnung bestraft wurden. Über diese Strafe hatten sich die Gerichte auszusprechen. Das Amtsgericht Schkeuditz hat die Strafen bestätigt,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

das Landgericht Halle hat in der Sitzung vom 14. November 1913 freigesprochen, indem es folgendes ausführt:

Schon dadurch, dass der Regierungspräsident die Schule ermächtigte, die Zeitschrift einzuführen, konnte eine Einführung erfolgen, und nur im Verwaltungswege konnte diese Anordnung wieder aufgehoben werden."

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich glaube, ich bin doch im Recht gewesen. Die Fortbildungsschulen gehören überhaupt nicht in den Etat, den wir augenblicklich beraten, und der Regierungspräsident, der nach Ihrer jetzigen Darlegung die Anweisung gegeben hat, auch nicht. Also, ich glaube, dass das nicht zu diesem Etat gehört.

(„Sehr richtig!")

Ich wollte Sie nicht unterbrechen, in der Annahme, dass Sie bald fertig sind; aber Sie werden vielleicht anerkennen, dass Ihre Ausführungen nicht zu diesem Etat gehören.

Liebknecht: Es ist in dieser Angelegenheit nach meinen Informationen auch die Abteilung für Kirchen- und Schulwesen tätig gewesen; sie hat die Anweisungen, die getroffen worden sind, gebilligt. Meine Herren, ich werde mit wenigen Worten zu Ende sein. – Das Urteil stellt ausdrücklich fest, dass diese Zeitschrift nicht nur „das politische Gebiet streift", sondern dass sie „Aufsätze politischen Inhalts enthält"; es schließt sich weiter dem eidlichen Gutachten des Leipziger Universitätsprofessors Barth an, nach dem diese Zeitschrift als Lernmittel ganz ungeeignet ist.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Mit Rücksicht darauf ist dann die Freisprechung erfolgt, indem das Gericht feststellt, es handle sich trotz der Billigung der Königlichen Regierung nicht um ein Lernmittel. Gegen diese Entscheidung ist das Kammergericht angerufen worden. Das Kammergericht hat in seiner Entscheidung vom 23. Februar 1914, auf die ich nicht näher eingehen will, einen ganz widerspruchsvollen Standpunkt eingenommen. Es hat auf der einen Seite anerkannt, dass der Begriff des Lernmittels ein rechtlicher Begriff sei, den die Gerichte nachzuprüfen berechtigt seien, und dass nicht einfach durch Verfügung der Schulaufsichtsbehörde ein Lernmittel als solches ohne Zulässigkeit der richterlichen Nachprüfung deklariert werden könne. Es hat aber auf der anderen Seite in einem ganz unbegreiflichen Widerspruch erklärt: Wenn die Schulaufsichtsbehörde die Ansicht vertritt, dass eine Zeitschrift als Lesebuch verwendet werden könne, so ist die Zeitschrift damit ein Lernmittel! Infolge dieser widerspruchsvollen Entscheidung hat die Strafkammer in Halle, nachdem das erste freisprechende Urteil aufgehoben war, nunmehr verurteilt; sie hat aber ihren Widerspruch gegen die Auffassung des Kammergerichts dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie die geringste gesetzlich zulässige Strafe von 1 Mark verhängt hat.

Meine Herren, worum es sich hier für mich handelt – und das ist es auch, warum das zu diesem Titel gehört –, das ist der geradezu unerhörte Versuch, eine politische Zeitschrift, die gerichtlich als politisch erklärt worden ist, die literarisch, wissenschaftlich, in jeder Beziehung auf dem niedrigsten Niveau steht, wie das Gericht in seinem Urteil bestätigt, mit Billigung der Schulaufsichtsbehörden als Lernmittel in die Schule einzuführen.

(Zuruf rechts: „Aber nicht der Volksschulaufsichtsbehörde!")

Nehmen wir einmal an, dass es sich hier nur insoweit um den Regierungspräsidenten handelt, als der Funktionär des Handels- und Gewerbeministers ist, dass die Sache also zu dessen Ressort gehört, glauben Sie etwa, dass der Regierungspräsident, soweit er Funktionär des Kultusministers ist, minder reaktionär sei? Er wird bereit sein, in dieser Eigenschaft genau dieselben Handlungen zu begehen wie in jener.

(Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich kann Sie hierzu nicht weiter sprechen lassen. Die Behauptung, dass es sich hier um Schulaufsichtsbehörden handle, ist nicht richtig. Ich sage das, um festzustellen, dass Sie nicht zur Sache sprechen. Sie müssen sich innerhalb des Rahmens des zur Besprechung stehenden Gegenstandes halten; Sie sprechen hier aber von dem Regierungspräsidenten, der nicht der Schulaufsicht untersteht. Ich wiederhole deshalb meine Aufforderung, bei der Sache zu bleiben.

(„Sehr richtig!")

Liebknecht: Meine Herren, ich bin bei der Sache, indem ich mich mit der politischen Ausnutzung unserer Schulen einschließlich der Volksschulen befasse.

(Rufe rechts: „Zur Sache!")

Aber, Herr von Pappenheim, so wie Sie zur Sache geredet haben, rede ich auch zur Sache. Sie dürfen sich natürlich andere Dinge hier im Hause herausnehmen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich muss die Kritik des Präsidenten zurückweisen, die in Ihren letzten Worten liegt, als ob Herr von Pappenheim es sich hier gestatten könnte, nicht zur Sache zu sprechen.

Liebknecht: Meine Herren, ich habe mich befasst und befasse mich mit der politischen Ausnutzung unserer Volksschulen. Die politische Ausnutzung unserer Volksschulen ist ja eine Tatsache, über die wir ständig zu klagen haben. Bei den verschiedensten Gelegenheiten ist Ihnen das Material darüber beigebracht worden. Wir wissen es alle zusammen – Sie wissen es auch –, dass die Schulaufsichtsbehörden das Recht und die Pflicht hätten, gegen eine derartige politische Ausnutzung der Schulen einzuschreiten, dass aber die Schulaufsichtsbehörden nicht daran denken einzuschreiten, solange in den Schulen eine Politik getrieben wird, wie sie den herrschenden Klassen passt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Aus diesem Gesichtspunkt gehörte allerdings die von mir erörterte Frage hierher. Denn wir sehen, wie die Behörden bereit sind und sich nicht scheuen, in die Jugend eines Alters, in dem die politische Betätigung durch das Gesetz ausgeschlossen ist, systematisch Politik zu tragen und gar politische Zeitungen als Schullesebücher zu deklarieren.

(Wiederholte Zurufe rechts. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ob und an welcher Stelle Sie über diese Frage reden können, ist jetzt nicht zu entscheiden; an dieser Stelle haben Sie über diese allgemeinpolitische Frage nicht zu reden. Ich rufe Sie zum zweiten Male zur Sache und mache Sie auf die geschäftsordnungsmäßigen Folgen eines dritten Rufes zur Sache aufmerksam.

Liebknecht: Meine Herren, es ist nichts „unerhört".6 Ich möchte mir derartige Wendungen auch aus dem Munde des Herrn Präsidenten nachdrücklichst verbeten haben. Der Herr Präsident scheint seine Stellung im Hause doch einigermaßen zu verkennen –

(Große Unruhe und lebhafte Zurufe. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Und ich verbitte mir die Kritik des Präsidenten. Der Präsident bemüht sich, die Geschäfte sachlich zu leiten. Die Ausführungen, die Sie machen, mögen für Sie wichtig sein, und Sie mögen sie an einer anderen Stelle machen; Sie werden sich aber als Abgeordneter dem nicht verschließen können, dass Sie doch Ausführungen, die Sie zweifellos irgendwo zu machen berechtigt sind, nicht an jeder beliebigen Stelle machen können, und hier, wo wir über Schulaufsicht sprechen, können Sie solche Sachen nicht vorbringen. Ich bitte Sie.daher, meine Kritik nicht weiter anzugreifen, sondern meinen Anordnungen zu folgen.

(„Bravo!")

Liebknecht: Der Herr Präsident hätte vielleicht die Freude gehabt, dass ich vor zehn Minuten mit meiner Rede fertig gewesen wäre, wenn er sich nicht eingemischt hätte.

(Rufe rechts: „Zur Sache!")

Ich bin bei der Sache und stelle fest, dass ich an diesem einen Symptom, das ich erwähnt habe, die Neigung zur politischen Ausnutzung unseres ganzen Schulwesens, auch der Volksschule, von neuem habe beweisen wollen und dass dieser Beweis mir lückenlos geglückt zu sein scheint,

(Unruhe rechts.)

trotz des Skandals, der im Hause gemacht worden ist, und trotz des Eingreifens des Präsidenten, der Ihnen zu Hilfe gekommen ist.

1 Der Antrag vom 17. Januar 1914 lautete: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: die Königliche Staatsregierung aufzufordern, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um a) die geistliche Ortsschulinspektion aufzuheben, b) mit tunlichster Beschleunigung die nebenamtliche Kreisschulinspektion durch die hauptamtliche zu ersetzen und hierfür im Dienst der Volksschule erfahrene Männer, insbesondere in größerer Zahl als bisher seminarisch vorgebildete Lehrer, zu berufen." Der Antrag wurde der Unterrichtskommission zur Vorberatung überwiesen.

2 Gemeint ist die vom Papst Pius X. am 26. Mai 1910 zum 300. Jahrestag der Heiligsprechung des Erzbischofs Karl Borromäus von Mailand erlassene Enzyklika. Sie enthält scharfe Ausfälle gegen die evangelische Kirche und ihre Reformatoren und löste besonders im evangelischen Lager der Bourgeoisie Empörung aus.

3 Ein auf Veranlassung des Papstes Pius X. von den katholischen Geistlichen und allen staatlichen Lehrern geforderter Glaubenseid. Er sollte dem „Schutz des Glaubens" gegen die katholische Reformbewegung der Modernisten dienen, die seit etwa 1900 versuchten, Katholizismus und moderne Naturwissenschaft miteinander zu verbinden. Er richtete sich letztlich gegen jeglichen Fortschritt in der wissenschaftlichen Forschung und schränkte damit die Lehr- und Forschungstätigkeit der katholischen Lehrer an den staatlichen Hochschulen ein.

4 Diese Kabinettsorder bekräftigte frühere Gesetze über die staatliche Aufsicht für private Lehranstalten und Privatlehrer im Sinne der herrschenden Kreise und hob Vorschriften des Landrechts, die teilweise eine Lockerung dieser Aufsicht zur Folge hatten, auf. Die Genehmigung zur Unterrichtserteilung wurde nicht nur von der pädagogischen Fähigkeit und den fachlichen Kenntnissen abhängig gemacht, sondern auch von „Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnung in religiöser und politischer Hinsicht".

5 Der Bund wurde 1911 durch den preußischen Generalfeldmarschall Colmar Freiherrn von der Goltz als chauvinistisch-militaristische Dachorganisation gegründet, in der die Mehrheit der bürgerlichen Jugendvereine unter dem Deckmantel der „Jugendpflege" zusammengefasst war. Er sollte in erster Linie ein Gegengewicht gegen alle sozialdemokratischen und antimilitaristischen Einflüsse auf die Jugend sein und der chauvinistischen Verhetzung und militaristischen Erziehung dienen.

6 Der Ausdruck wurde offenbar auf Grund des Protestes vor der Veröffentlichung aus dem Protokoll gestrichen. Die Red.

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