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Karl Liebknecht 19140518 Herr von Dallwitz ist überdallwitzt worden

Karl Liebknecht: Herr von Dallwitz ist überdallwitzt worden

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Staatshaushaltsetat für das Etatsjahr 1914

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, II. Session 1914/15, 6. Bd., Berlin 1914, Sp. 7147-7159 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 328-346]

Meine Herren, und dazu haben wir einen Ministerwechsel1 nötig gehabt

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

um diese Rede heute hier zu hören!

Meine Herren, das Debüt des Herrn Ministers des Innern ist so blamabel wie nur möglich.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Zurufe und Unruhe rechts. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

Liebknecht: Wenn Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke vorhin von einer Steuerlosigkeit der preußischen Politik gesprochen hat, so hat, glaube ich, diese Rede von neuem gezeigt, wie voll berechtigt sein Vorwurf wenigstens in einer Beziehung ist, in einer anderen Beziehung allerdings nicht – darauf komme ich noch. Und wenn er die Forderung aufgestellt hat, dass ein Staatsmann über den Parteien zu stehen habe, so haben wir aus der Rede des Herrn Ministers des Innern von Neuem ersehen können, wie wenig dieses Postulat für Preußen gilt, wie die Minister in Preußen es sich zur Aufgabe setzen, nicht über den Parteien zu stehen, sondern stramm als Vertreter der konservativen Anschauungen, als Parteigänger der reaktionärsten Partei Preußens zu wirken.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die eben gehörte Rede ist anscheinend von einem Geheimrat vorbereitet worden, der bereits ahnen zu können glaubte, was hier gesprochen werden würde.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Minister wendet sich zunächst gegen eine „Äußerung des Herrn Abgeordneten Dr. Pachnicke über die Fremdenlegion", eine Äußerung, die Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke überhaupt nicht gemacht hat.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann ist er überrascht, dass Herr Dr. Pachnicke die Wahlrechtsfrage anschneidet. Was soll man für ein Wort gebrauchen, um die Überraschung zu kennzeichnen, die uns alle ergriffen hat, als wir aus dem Munde des Herrn Ministers, unter dessen Verantwortung die Frage der Wahlrechtsreform in Preußen steht, als wir aus dem Munde dieses Ministers hörten, er habe erwartet, dass bei der allgemeinen Besprechung des Etats die wichtigste und dringendste Frage der preußischen und deutschen inneren Politik nicht erwähnt werden würde!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ganz allein diese Überraschung des Herrn Ministers des Innern beweist bereits, von welchem Niveau aus er seine Amtspflichten künftig erfüllen wird.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir erkennen daraus, dass der jetzige Herr Minister des Innern nur eine andere Nummer trägt, aber im Wesen ganz genau dasselbe ist wie der Herr Minister von Dallwitz, und man wäre versucht, nach dem heutigen Debüt des Herrn von Loebell zu rufen: Dallwitz, komme zurück, es ist dir alles vergeben!

Wir hatten geglaubt, es könne kein Minister reaktionärer und unerfreulicher in Preußen sein als Herr von Dallwitz. Aber nach dem Debüt des Herrn Ministers des Innern müssen wir gestehen: Wir haben uns getäuscht, Dallwitz ist überdallwitzt worden.

(Heiterkeit.)

Meine Herren, der Herr Minister des Innern ist nun – und das ist das Tragikomische an dieser Tragikomödie – von der liberalen Presse, von einem Teile wenigstens, begrüßt worden als derjenige Mann, auf den man Hoffnungen setzen dürfe.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Es waren die berühmten Kronprinzenhoffnungen, die man an Herrn von Loebell, den jetzigen Herrn Minister des Innern, knüpfte. Man sagte, Herr von Loebell, der Herr Minister des Innern, hat sich im Erwerbsleben umgesehen; früher zwar war er ein stockkonservativer Erzreaktionär, aber inzwischen ist er an der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft beteiligt, hat als Aufsichtsrat an Bankunternehmungen teilgenommen, hat als Aufsichtsrat der Erhardtschen Kanonenfabrik Erfahrungen gesammelt; ein solcher Mann, so sagte man, muss doch Fühlung haben mit den lebendigen Kräften unserer Zeit, er kann sich doch nicht auf den hinterwäldlerischen agrarkonservativen Standpunkt des preußischen Dreiklassenwahlrechts und der Aufrechterhaltung der sonstigen heutigen preußischen Zustände stellen! Aber das Unwahrscheinliche ist Ereignis geworden.

(„Sehr richtig!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Und, meine Herren, wir sehen vor uns einen Minister des Innern, der erschrocken ist und in einem gewissen Sinne erregt ist, dass man ihm zumutet, schon heute

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

überhaupt eine Auffassung von der, eine Ansicht über die preußische Wahlrechtsfrage zu haben.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, kann es in Deutschland noch – ich kann ja nicht das Wort gebrauchen: einen politischen Waisenknaben –, ich möchte sagen: noch ein Kind über zehn Jahre geben, das nicht von der Wahlrechtsfrage bereits gehört hat?

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Und kann man heute nicht annehmen, dass jeder junge Mann, sobald er überhaupt mit der Politik sich befasst, sich bereits bemüht, eine Auffassung über die preußische Wahlrechtsfrage zu gewinnen? Und wird man von einem gereiften Manne in Preußen nicht erwarten können, dass er sich eine bestimmte Auffassung über diese wichtigste und dringendste Frage gebildet hat?

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Wird man dergleichen nicht ganz besonders erwarten können von einem Minister, der ein politischer Minister im ausgeprägtesten Sinne des Wortes ist, der der verantwortliche Wahlrechtsminister für Preußen ist?

(„Sehr richtig!")

Und dieser Mann, der auf diesen Posten, der in diese verantwortliche Stellung berufen ist, wundert sich darüber, dass man damit rechnet, dass er ein paar Wochen nach seinem Amtsantritt über seine Stellung zur Wahlrechtsfrage bereits eine Ahnung haben könnte!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ist das woanders noch möglich als in Preußen?

Und nun, meine Herren, nachdem der Herr Minister uns erklärt hat, dass er in den acht Tagen – früher konnte er sich natürlich mit dieser Frage nicht befassen! – noch keine Auffassung über seine Stellung zur Wahlrechtsfrage gewonnen habe, hören wir, dass er doch schon eine Auffassung hat: Aber offenbar ist das nicht seine eigene Auffassung – das muss man doch aus dem, was er hier vorgetragen hat, entnehmen –, sondern die Auffassung desjenigen Geheimrats, der ihm sein Manuskript zurechtgemacht hat,

(Heiterkeit.)

die Auffassung des preußischen Ministerkollegiums oder aber die Auffassung des Herrn von Dallwitz, der ihm anscheinend diesen Teil des Manuskripts vorgearbeitet hat; denn es schien in der Tat, als ob Herr von Dallwitz dieses Manuskript, das Herr von Loebell verlesen hat, abgefasst und hinterlassen habe. Meine Herren, alle die alten Bekannten! Man ist ja längst daran gewöhnt, in China das Land des Fortschritts zu erblicken

(„Sehr richtig!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

und in Preußen das chinesischste Land der ganzen Welt,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

das versteinert und rückständig dasteht wie keines.

(Unruhe rechts.)

Meine Herren, wenn wir so sehen, wie diese Stereotypen, ich möchte sagen: diese Petrefakten uns immer wieder entgegentreten, diese Petrefakten – ich meine damit die versteinerten Geistesblüten – des Herrn von Dallwitz hier wieder ausgegraben worden sind von dem jetzigen Herrn Minister, dann müssen wir sagen: In der Tat, es ist und bleibt das alte Preußen. Meine Herren, der Herr Minister hat sich heute – in diesem Hause – einen guten Abgang gesichert, indem er sich als einen Parteigänger der rechten Parteien dieses Hauses proklamiert, indem er ihnen schon heute den Homagialeid, den Eid der feudalen Hörigkeit und Unterwerfung

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

unter alle ihre Wünsche geleistet hat – meine Herren, das hat er getan! Was hat der Herr Minister des Innern gesagt? Er werde sich bemühen, mit den bürgerlichen Parteien in aller Ruhe und Freundschaft auszukommen, und er hoffe, dass ihm dies gelingen werde; er werde wissentlich niemanden hier in diesem Saale des Dreiklassenwahlrechts verletzen; und am Schluss hat er die übertönende Fülle seines deutsch-konservativen Herzens ausgeschüttet.

Meine Herren, die Tatsache ganz allein, dass der Herr Minister des Innern auf die Frage, wie wird es mit dem Wahlrecht, wird ein direktes Wahlrecht kommen, wird ein geheimes Wahlrecht kommen, wird eine Einschränkung der Wirkung des Besitzes auf die Verteilung in den Wählerklassen kommen, mit einem blanken und harten Nein geantwortet hat, diese Tatsache allein ist es, die ihn bereits fest in Ihre (nach rechts) Herzen eingegraben hat

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

und seine Unterwerfung unter die deutsch-konservativen Wahlrechts- und Volksfeinde vor aller Welt erweist.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen und Zurufe rechts.)

Wir wussten es allerdings voraus; denn die liberalen Kronprinzenhoffnungen haben wir von vornherein nicht gehabt.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Grunde genommen hat der Herr Minister des Innern vollkommen recht, wenn er gefragt hat – errötend könnte man fast meinen –: Was denken Sie von einem preußischen Minister? In Preußen machen doch die Minister nicht die Politik, das sind ja ganz andere Leute; wie unbescheiden, wie indiskret, von einem preußischen Minister zu erwarten, dass er ein Programm besitze!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

In der Tat, Herr Minister des Innern, Herr von Loebell, Sie tun mir aufrichtig leid; aber es ist offensichtlich, dass sich dieser Herr Minister des Innern wohl fühlt in dieser unwürdigen Stellung.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Er hat sich mit Haut und Haaren verschrieben der politischen Auffassung, die nichts anderes als politische Kastration des Ministers bedeutet.

(Lachen und große Unruhe rechts. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zum zweiten Male zur Ordnung und mache Sie auf die geschäftsordnungsmäßigen Folgen eines zweimaligen Ordnungsrufes aufmerksam.

(Lebhaftes „Bravo!" und andauernde Unruhe rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, was ich mit diesen Worten gemeint habe, haben Sie verstanden, und wenn das nicht so wahr wäre,

(Rufe rechts: „So unwürdig!")

würden Sie nicht so empört sein. So liegt die Sache.

Und nun müssen wir erleben, dass Herr von Zedlitz, von dem ein gewisser Herr Frymann vor einiger Zeit ja das Wort vom hell-dunklen Herrn Zedlitz prägte, heute gegenüber Herrn Abgeordneten Pachnicke als Prediger der politischen Ehrlichkeit und Offenherzigkeit aufgetreten ist.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn es dazu beitragen könnte, die Sozialdemokratie immer mehr zu festigen in ihrer Überzeugung, dass sie im Grunde genommen die zentrale Kraft, die Achse ist, um die sich die ganze deutsche Politik dreht, so beweisen das heute wiederum die Ausführungen, die von den verschiedensten Seiten, beginnend von Herrn Dr. Pachnicke bis zum Herrn Minister, über die Sozialdemokratie ertönt sind.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Herr Pachnicke hat mit vollem Nachdruck die Scheidelinie zwischen der liberalen Partei und der Sozialdemokratie gezogen. Mit vollem Recht.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir würden uns schön verbitten, mit den Herren von der Fortschrittlichen Volkspartei in einen Topf geworfen zu werden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen und Zurufe rechts, bei der Fortschrittlichen Volkspartei und den Nationalliberalen.)

Denn das können wir Ihnen sagen: Wir halten uns für ganz andere Kerle als die Fortschrittler.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Stürmisches Lachen rechts, im Zentrum, bei den Nationalliberalen und der Fortschrittlichen Volkspartei.)

Diese Herren mögen einer ähnlichen Auffassung sein, bloß mit Umkehrung der Rollen. Wenn Herr Abgeordneter Pachnicke die Unmöglichkeit einer allgemeinen politischen Annäherung zwischen der Sozialdemokratie und der Fortschrittlichen Volkspartei betont, so hat er vollkommen recht; er trifft damit vollständig die Auffassung der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie wird sich überhaupt mit keiner Partei jemals verbinden. Es handelt sich überhaupt nur darum: Wie steht es gelegentlich bei Stichwahlen? Meine Herren, in Bezug auf die Stichwahlen den Herren von der Fortschrittlichen Volkspartei Vorwürfe zu machen, ist doch nachgerade eine solche Unvorsichtigkeit,

(„Sehr richtig!" bei der Sozialdemokratie.)

mögen die Vorwürfe kommen, von welcher Partei sie wollen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

dass man selbst in diesem Hause nicht erwarten konnte, dass diese gefährlichen Dinge angerührt würden. Sie wissen doch das allesamt! Die Herren vom Zentrum haben vorhin einen gewaltigen Lärm gemacht, als Herr Pachnicke von dem Wahlbündnis des Zentrums mit der Sozialdemokratie gesprochen hat. Meine Herren, aller Lärm kann doch die Tatsache nicht aus der Welt schaffen: So fest und sicher der Dom zu Speyer steht,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Zurufe im Zentrum.)

so fest und sicher steht die Tatsache des Wahlbündnisses im Dom zu Speyer.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Hier könnte man fast sagen: stat crux dum volvitur terra! Diese Tatsache steht fest, und Sie können es mit allem in der Welt nicht aus der Welt schaffen.

Und die Herren von der Konservativen Partei! Nach ihren jüngsten Erfahrungen in Württemberg sollten sie doch auch lieber recht fein stille sein

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

über die Frage der sozialdemokratischen Stichwahlhilfe

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn man irgendeinem Sünder nachher einen Rüffel erteilt – die Sünde ist damit noch längst nicht aus der Welt geschafft.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und Sie wissen genau, dass das noch lange nicht die einzige ist. Wollen Sie haben, dass das Register aufgemacht wird? Da unten liegt es; mein Freund Ströbel hat es gerade in Händen! Also seien Sie fein still, alle zusammen! Ich möchte allen bürgerlichen Parteien sagen: Scheuen Sie die Frage der sozialdemokratischen Stichwahlhilfe wie das Feuer, Sie verbrennen sich die Finger daran, wenn Sie diese Frage anrühren, vor allen Dingen die Herren von der Konservativen Partei!

(Abgeordneter von Pappenheim: „Solche geheimnisvollen Andeutungen sind ganz gegenstandslos!")

Geheimnisvolle Andeutungen?

(Von Pappenheim: „So bringen Sie sie doch vor!")

Wie Sie wollen! Sie sollen sie sofort haben! Wir werden sie Ihnen nachher geben. Ich erlaube mir, die Behauptung aufzustellen, dass Sie ganz genau wissen, von welchen Fällen ich spreche, denn in Ihrer eigenen Presse bis zur „Kreuz-Zeitung" sind diese Fälle eingehend erörtert worden und sogar Gegenstand sorgfältiger Erörterungen gewesen.

(Von Pappenheim: „Das ist eine tatsächliche Unwahrheit!")

Eine tatsächliche Unwahrheit?

(Von Pappenheim: „Ich weiß es nicht!")

Herr von Pappenheim, dann habe ich Sie – ich bedaure das lebhaft – bisher überschätzt; ich nahm an, Sie lesen wenigstens Ihre eigene Presse. Ich sehe nun, Sie lesen nicht einmal die Presse Ihrer eigenen Partei. Also wir werden dem Herrn Abgeordneten von Pappenheim auf die Sprünge helfen.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen rechts. – Von Pappenheim: „Soll mir lieb sein!")

Nun, meine Herren, so liegt ja natürlich auch die Sache mit der Nationalliberalen Partei. Die Herren Nationalliberalen haben gar vielfach, ähnlich wie die Herren von der Konservativen Partei und anderen Parteien, die Stichwahlbedingungen der Sozialdemokratie unterschrieben.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und nun, meine Herren, die jetzige Wahl in Stendal. Da hat Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke gemeint, es ginge aus der nationalliberalen Presse bereits hervor, dass man den möglichen Wert sozialdemokratischer Stichwahlhilfe dort schon erkannt habe. Das ist ganz unzweifelhaft: Den Wert kennen auch alle,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

wenn es sich darum handelt, dass sie diese Stichwahlhilfe fruktifizieren möchten. Aber, meine Herren, die Hoffnung, dass die sozialdemokratische Stichwahlhilfe dort drüben etwa so ohne weiteres um der schönen Augen des Herrn Wachhorst de Wente willen gegeben würde, davon kann wohl doch wahrscheinlich keine Rede sein.

(Zurufe rechts: „Wahrscheinlich!")

Ich denke, es wird schon darauf hinauslaufen, dass Herr Wachhorst de Wente seinem Herzen einen Stoß wird geben und die sozialdemokratischen Stichwahlbedingungen wird unterschreiben müssen, trotz der Beschlüsse der Nationalliberalen Partei!

(Lebhafte Pfuirufe rechts. – Adolph Hoffmann: „Der Württemberger hat es ja auch getan!")

Das ist eine Affäre, die ganz öffentlich abzuwickeln ist! Geheimnisse, wie Sie (nach rechts) sie haben möchten, werden natürlich von der Sozialdemokratie nicht getrieben. Wenn Herr Wachhorst de Wente Unterstützung durch die Sozialdemokratie finden sollte, so müsste den Wählern, den sozialdemokratischen Wählern, auch bekanntgegeben werden, worauf sich die Auffassung stützt, dass er dieser Hilfe würdig ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Unsere Wähler wollen wissen, ob sie mit Recht oder mit Unrecht für ihn eintreten. Infolgedessen kann ein geheimnisvolles Techtelmechteln in Bezug auf seine Zustimmung zu den Stichwahlbedingungen ganz selbstverständlich nicht in Frage kommen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Also, meine Herren, trotz des Beschlusses, der von der nationalliberalen Parteivertretung gefasst worden ist, möchte ich von vornherein daran keinen Zweifel lassen, dass – ich wiederhole – eine Hilfe der Sozialdemokratie nur um der schönen Augen des Herrn Abgeordneten Wachhorst de Wente willen doch wohl schwerlich in Frage kommen dürfte.

Meine Herren, Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke hat sich mit einigen Fragen der allgemeinen Politik befasst, auf die einzugehen ich gleichfalls ein lebhaftes Interesse hätte. Angesichts der Tatsache aber, dass der Herr Minister des Innern heute seine lapidare Rede gehalten und damit ein wichtiges neues Moment für die Beurteilung der künftigen innerpolitischen Situation in Preußen geschaffen worden ist, möchte ich mich mit Einzelheiten nicht befassen und nicht die Aufmerksamkeit von der einen ungemein wichtigen Tatsache ablenken, deren Wichtigkeit die Wichtigkeit aller anderen Tatsachen übersteigt. Ich möchte mich deshalb nur mit einer Frage befassen, die Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke aufgeworfen hat.

Herr Dr. Pachnicke hat der Sozialdemokratie zum Vorwurf gemacht, dass sie das Vaterland infolge ihrer Stellung zu unserem gegenwärtigen Heeressystem wehrlos machen wolle. Diese Bemerkung des Herrn Abgeordneten Dr. Pachnicke kann ich nicht unwidersprochen ins Land hinausgehen lassen. Herr Abgeordneter Dr. Pachnicke müsste wissen und muss wissen, dass die Sozialdemokratie von einer Schwächung der Wehrkraft, der Abwehrkraft des Vaterlandes, durchaus nichts wissen will,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dass das Wehrsystem, das die Sozialdemokratie in Ablösung unseres gegenwärtigen militaristischen Systems einzuführen bestrebt ist, nach Auffassung der Sozialdemokratie und nach Auffassung sehr maßgeblicher militärischer Autoritäten mindestens dieselbe Verteidigungskraft besitzt wie das gegenwärtige militaristische System. Diese fortgesetzte Verwechslung zwischen dem Kampf der Sozialdemokratie gegen den Militarismus und einem vorgespiegelten oder eingebildeten Kampf der Sozialdemokratie gegen die nationale Wehrkraft, diese Verwechslung, diese Verwirrung zweier verschiedener Begriffe, muss immer und immer wieder von uns aufgedeckt werden.

Meine Herren, gerade mit Bezug auf die außenpolitische Situation, die wir ja hier zu besprechen haben und die in den letzten Tagen Gegenstand der Erörterungen im Reichstage gewesen ist, möchte ich hier auf eine Tatsache hinweisen, deren Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann: auf die Tatsache, dass in dem französischen Volke der Wille zum Frieden mit Deutschland und zur Annäherung an Deutschland bei den letzten Wahlen so elementar zum Ausdruck gekommen ist,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dass sich daraus allein für uns bereits die sichere Erwartung ergibt, dass irgendwelche Torheiten der auswärtigen Politik Frankreichs nicht zu erwarten stehen. Angesichts dessen haben wir um so mehr die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass in Deutschland keine Torheiten begangen werden, die eine allgemeine Konflagration zur Folge haben könnten. Wie allerdings einer der wichtigsten Wälle, die gegenüber derartigen Torheiten aufgebaut worden sind, in Frankreich der jetzige gewaltige Wahlerfolg der französischen Sozialisten ist, so in Deutschland der gewaltige Erfolg der Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen.

Meine Herren, dort drüben in Frankreich der Sozialismus der Schutzwall gegen Chauvinismus und Gefahr eines Krieges mit Deutschland; in Deutschland die Sozialdemokratie als Schutzwall gegen Chauvinismus und die Gefahr der Anzettelung eines Krieges nach Frankreich hinüber oder nach anderen Seiten. Meine Herren, kann die Bedeutung dieser Tatsache verkannt werden? Soll uns diese Tatsache nicht stolz machen?

Um die Stimmung in Frankreich zu kennzeichnen, möchte ich hier noch anführen, dass Sie gerade in den letzten Tagen selbst in alldeutschen Zeitungen die begeisterten Berichte über die Aufnahme der „Josephslegende" von Richard Strauss in Paris lesen konnten. Ein deutscher Komponist, vielleicht der bedeutendste lebende Komponist, hat die erste Aufführung seines neuen Werkes in Paris stattfinden lassen und ist von dem Pariser Publikum bis zu den obersten Schichten hinauf mit Begeisterung begrüßt worden. Die deutsche Kultur wird in Frankreich mehr und mehr verstanden und mit Freuden übernommen, wo man irgendwie Fühlung zu ihr gewinnen kann; die französische Kultur wiederum ist eines der wichtigsten Elemente für die Fortentwicklung und Befruchtung der deutschen Kultur. Die Herren vom Zentrum möchte ich daran erinnern, dass ein deutscher Prinz, der vor kurzem in Paris als katholischer Prediger auftrat, von dem Pariser Publikum mit einer wahren Ovation begrüßt wurde, und zwar nicht nur, weil er ein Priester und guter Kanzelredner ist, sondern weil er ein Deutscher ist, weil man den Willen zum Frieden mit Deutschland zum Ausdruck bringen wollte.

Meine Herren, dieses und zahlreiches andere sind Symptome von solcher Mächtigkeit für das Bedürfnis der Solidarisierung der großen Kulturvölker im Gegensatz zu dem in gewissen Kreisen bestehenden Bedürfnis nach2 ihrer Auseinanderreißung und gegenseitigen Zerfleischung, die uns für die Zukunft die allerbeste Hoffnung geben.

Meine Herren, ich stelle fest: Alle diejenigen, die wie Herr von Jagow, der Staatssekretär des Auswärtigen, und auch die Redner der bürgerlichen Parteien jüngst im Reichstage mit Befriedigung konstatiert haben, dass sich unser Verhältnis zu Frankreich durch den Ausfall der französischen Wahlen günstiger gestaltet hat, haben damit eine tiefe Verbeugung vor dem internationalen Sozialismus

(Heiterkeit.)

und der gewaltigen Kraft zur Aufrechterhaltung des Friedens gemacht, die von dem internationalen Sozialismus, möge er in welchen Ländern immer seine Fahne aufgepflanzt haben, ausgeübt wird.

So steht es – das habe ich für erforderlich gehalten, noch hervorzuheben – mit der angeblichen Kulturfeindlichkeit und -gefährlichkeit der Sozialdemokratie, über die der Abgeordnete von Zedlitz wieder gezetert hat. Die Sozialdemokratie in ihrer entscheidenden Bedeutung gerade für Aufrechterhaltung unserer gegenwärtigen Kultur und ihre Fortentwicklung im Sinne der allgemeinen Volkswohlfahrt, diese Tatsache ist eine der wichtigsten Grundlagen, auf denen auch die Kontinuität unserer heutigen Zustände aufgebaut ist, trotz Ihres fortgesetzten Geschreis über die umstürzlerische revolutionäre Sozialdemokratie. Und das möchte ich dem Abgeordneten Pachnicke noch sagen; er meinte, die Fortschrittliche Volkspartei unterscheide sich von der Sozialdemokratie schon durch das Ideal des Zukunftsstaates, und er glaubte eine Unterscheidung machen zu können zwischen denen, die künstlich einen Zukunftsstaat herbeiführen möchten, und denen, die nur eine organische Fortentwicklung der heutigen Gesellschaftsordnung annehmen. Die letzteren glaubte er als Revisionisten bezeichnen zu können, wobei mein Freund Haenisch plötzlich zu einem Revisionisten wurde. Ich bedaure, dass Herr Abgeordneter Pachnicke über die Anschauungen der Sozialdemokratie so wenig orientiert ist. Das ist es ja gerade, was den wissenschaftlichen Sozialismus unterscheidet von dem utopischen Sozialismus, dass wir unsere Auffassung über die Entwicklungsrichtung der heutigen Gesellschaftsordnung ableiten aus der Kritik der heutigen Gesellschaftsordnung und dass die Entwicklungslinien, die wir so wissenschaftlich ableiten, eben in der Richtung der Sozialisierung unserer Gesellschaftsordnung gehen. Also nicht Umsturz, nicht Zertrümmerung vorhandener Werte, sondern innere Umgestaltung der Gesellschaft und Neuschöpfung von Werten der allgemeinen Menschheitskultur, das ist das Ziel, welches sich die Sozialdemokratie stellt. Angesichts dieser Tatsache, angesichts der Zunahme der Sozialdemokratie, der fortgesetzten Steigerung ihrer Macht kommt nun den bürgerlichen Parteien genauso wie der Regierung nur ein einziger Gedanke in den Kopf: Wie zerschlagen wir die Macht der Sozialdemokratie? Als der jetzige Reichskanzler auf seinen Sessel kam, gab er – das war wohl mit seine erste Lebensäußerung – die bekannte Sammelparole an die bürgerlichen Parteien ab, wie soll ich mich kurz ausdrücken: Exploiteure aller Parteien, vereinigt euch – gegen die Sozialdemokratie, gegen die Arbeiterklasse! Diese Parole, die anfangs verlacht wurde und dem Anschein nach bis heute so erfolglos war wie möglich, die Sammlung der bürgerlichen Parteien um die eine Fahne der Bekämpfung der Sozialdemokratie, scheint sich doch durchzusetzen. Sie haben gewiss auch alle Kenntnis von dem köstlichen Artikel, den der wandlungsreiche – nicht Odysseus meine ich – den der wandlungsreiche Erzberger jüngst im „Tag" geschrieben hat. In diesem Artikel fordert Erzberger als Mundstück des Zentrums, indem er die rote Gefahr in grellen Farben al fresco an die Wand malt, von den bürgerlichen Parteien, dass sie alles Trennende zurückstellen möchten und sich vereinigen in dem Kampf gegen die Sozialdemokratie. Ja, die Nationalliberale Partei will diese Sammlung angeblich noch nicht mitmachen, sie macht sie tatsächlich schon lange mit. Die Altnationalliberalen sind doch nichts als die industriellen Scharfmacher, deren einziges Ideal und Lebenszweck die Bekämpfung der Sozialdemokratie, die Bekämpfung der Arbeiterklasse und ihrer Emanzipationsbestrebungen ist. Dass die Altnationalliberalen in der Nationalliberalen Partei in der neueren Zeit einen immer größeren Einfluss gewonnen haben, liegt klar vor aller Augen. Und darauf gründet sich die Hoffnung der Herren um Heydebrand, der Herren um Zedlitz und derer um Erzberger. Die Nationalliberale Partei hat ja die Jungnationalliberalen sozusagen abgesägt. Die Altnationalliberalen dagegen sind unsterblich; sie sind eben der Nationalliberalismus selbst; das sind die Leute, von denen Sie Geld bekommen;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

ohne die Herren von der Schwerindustrie, von der die ganze Partei ausgehalten wird, können Sie ja gar nicht leben. Wenn Sie die Altnationalliberalen hinauswerfen würden, dann würden Sie dasitzen wie der Greis, der sich nicht zu helfen weiß, und deshalb werfen Sie lieber die Jungnationalliberalen hinaus

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

oder versuchen sie wenigstens klein zu stampfen. Die Jungnationalliberalen haben bisher noch keine Freude an der Verpflichtung zum Selbstmord gewonnen, die man ihnen auferlegt hat, so dass es noch einige Kämpfe geben wird. Aber die Wahrheit ist schon heute: Der Altnationalliberalismus hat die Herrschaft in der Partei in den Händen. Die Karre des Nationalliberalismus ist von Herrn Fuhrmann schon unwiderruflich in den Sumpf hineingefahren.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Und daraus – ich gebe den Herren allesamt recht – dürfen Sie die beste Hoffnung auf die Wirkung der Sammelparole ziehen. Wir Sozialdemokraten geben uns gar keinem Zweifel darüber hin, dass diese Politik schließlich in allen wesentlichen Fragen, wenn sie in ihnen nicht heute schon Realität hat, künftig die einzige Realität sein wird. Wir sind auf alles gefasst.

Angesichts dieser Stimmung des Hasses und der Furcht vor der Sozialdemokratie und vor ihrer zunehmenden Macht

(Lachen rechts.)

nimmt es mich gar nicht wunder, dass der Herr Minister des Innern sich „erdreustet" hat – ich zitiere hier nach Goethe und hoffe also, keinen Ordnungsruf zu bekommen –, mit einer derartigen Rede vor das „Volk" zu treten, wie es im Dreiklassenhause – in Anführungsstrichen – versammelt ist. Die Möglichkeit, eine solche Politik der Volksaufstachelung, der Volksverachtung zu machen, wie sie von den großen reaktionären Parteien in Deutschland und Preußen gemacht wird, ist um deswillen vorhanden, weil in Preußen infolge des Dreiklassenwahlrechts eine solche Macht in den Händen dieser reaktionären Parteien liegt und weil sie außer dem Dreiklassenwahlrecht und dieser sozusagen parlamentarischen Grundlage ihrer Macht außerdem die Verwaltung in den Händen haben und mit Hilfe der Verwaltung alle die bereiten Machtmittel des Staates zur Niederwerfung des Volkes, wenn es nicht so will, wie sie wollen. Wir haben ja in diesem Hause der Reihe nach alle die Herren sitzen, die Herren, die nicht so sehr auf die Bibel wie auf die Bajonette, die Flinten und die Kanonen schwören, wenn es darauf ankommt

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen rechts.)

die Herren, die darauf rechnen, dass es ihnen möglich sein wird, die sozialdemokratischen Volksbefreiungsbestrebungen in einem Blutstrom zu ertränken.

(„Oh! Oh!" rechts.)

Der Herr Abgeordnete von Zedlitz hat das heute allerdings ausnahmsweise nicht gesagt, aber er hat es in diesem Hause doch schon Dutzende Mal gesagt,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und Herr von Heydebrand und der Lasa war es ja doch, der bei der ersten Lesung des Etats jenes Klage- und Wehelied anstimmte über die furchtbaren sozialpolitischen Lasten, die dem Unternehmertum auferlegt seien, und der fortfuhr: Das geht so nicht weiter, das geht so nicht weiter! Und als ich ihm damals zurief: Ja, und was dann, und was dann? da erwiderte Herr von Heydebrand und der Lasa in einer geschickten Wendung – man könnte fast von einem Hasenwinkel sprechen – nicht etwa, wie es ihm im Herzen und auf der Zunge war: Wenn wir doch endlich einmal Ernst gegen sie machen könnten, um kräftig darauf loszuschlagen, sondern: Dann sind wir versucht, zu wünschen: Wenn sie doch endlich Revolution machen würden! Ja, Herr von Heydebrand, das vergessen wir nicht; das ist ein köstliches und unbezahlbares Wort,

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

das zeigt, worauf sich Ihre Macht gründet: Nicht auf idealen Gütern, nicht auf religiösen Prinzipien und Hoffnungen, nicht auf eine Allmacht, die im Jenseits steht und für das Rechte wirkt – Sie halten sich lieber an die höchst realen und kompakten Gewehre und Bajonette.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, ich sage: Diese Mächte sind es, die es dem preußischen Minister des Innern erst möglich machen, eine solche Rede zu halten wie heute; und so erkennen wir, dass der Kampf, den wir um eine Wahlrechtsreform zu führen haben, nicht ein Kampf ist gegen einen einzelnen Minister. Dafür ist uns der heutige Tag wieder ein Beweis: Welcher Herr auf diesem Platze hier neben mir sitzt und wie immer er heißen mag – es sind andere Umstände, die in Preußen die Reaktion stabilisieren und hindern, dass die von den Bedürfnissen geforderte Reform durchgeführt wird; und diese wirklichen Mächte, das sind die konservativen Parteien und all das, was sie an Macht hinter sich draußen im Lande haben; dazu gehört das Zentrum, auf das man keineswegs solche Hoffnungen setzen darf für eine künftige Wahlreform, wie sie der Herr Abgeordnete Dr. Pachnicke gesetzt hat. Er wird dieselbe Enttäuschung am Zentrum erleben, fürchte ich, wie der Liberalismus an Herrn von Loebell erlebt hat.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Man wird wieder dasitzen, und die Herren vom Zentrum werden wieder abkommandiert sein, und es wird nicht einmal ein Beschluss des Hauses für die kleinen Teilreformen zustande kommen.

Das, meine Herren, ist die Situation. Die Regierung will keine Wahlreform geben, obwohl sie sich damit selbst ins Gesicht schlägt und der Thronrede vom Jahre 1908.

(Lachen rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Von Pappenheim: „Direkt unwahr!")

Sie will keine Wahlreform geben unter dem Vorwand, dass jener Versuch vom Jahre 1910 bereits die Pflicht der Regierung erschöpft habe. Nun, meine Herren, wie hat es damals in der Thronrede geheißen? Es war damals nicht ein nebensächlicher Wunsch, den die Regierung zum Ausdruck brachte, sondern es wurde die Wahlrechtsreform als eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben der Gegenwart bezeichnet; und, meine Herren, wie kann eine Aufgabe, die von einer zielbewussten Regierung als eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart bezeichnet ist – wie kann eine solche Aufgabe, nachdem ein einziger Versuch misslungen ist, damit als erledigt betrachtet werden? Wenn es sich um Wucherzölle handelt, wenn es sich um die Knebelung der Arbeiterklasse handelt, werden die Versuche nicht so leicht aufgegeben, wenn sie einmal abgeschlagen worden sind, da sind Sie beharrlich; aber in Fragen der Erweiterung der Volksrechte genügt eine einmalige Ablehnung. Eine Ablehnung durch wen? Durch das Dreiklassenhaus, durch die Vertreter des Besitzes, durch die Vertreter der Gewaltpolitik in Preußen, durch die Vertreter derjenigen Parteien, die die Feindschaft gegen die Volksinteressen auf die Fahne geschrieben haben. Wenn die Regierung die ernstliche Absicht besäße, auch nur ihr eigenes Programm durchzuführen, sie hätte wohl Mittel und Wege genug. Aber die Regierung hat nicht den Mut, ihr eigenes Programm, und wenn es noch so wenig befriedigend ist, wie es in jener Thronrede zum Ausdruck gebracht worden ist, durchzuführen, nicht den Mut und die Kraft dazu. Sie ist damals zu Boden geworfen worden von den herrschenden Parteien dieses Hauses und des Herrenhauses, sie hat die Zügel am Boden schleifen lassen, sie hat in der Frage der Wahlrechtsreform abgedankt im Interesse der reaktionären Parteien.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn der Herr Minister des Innern vorhin zitiert hat jenes Wort – ich glaube, es war von Herrn von Dallwitz –, wonach die Regierung nicht gewillt ist, eine neue Wahlrechtsreform einzubringen, bevor nicht die Konstellation hier im Hause sich wesentlich verschoben hat, so sage ich dem Minister des Innern und allen den Herren hier im Hause: Was die Regierung hier will, ist uns vollkommen gleichgültig. Aber im Namen des preußischen und des deutschen Volkes sage ich:

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Das deutsche Volk auch außerhalb Preußens empfindet die Zustände hier in Preußen als unerträglich,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

als auf die Dauer ganz unmöglich, und diesen Herren rufe ich deshalb zu: Das deutsche und das preußische Volk ist nicht gewillt, den heutigen Zustand weiter zu ertragen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

es ist nicht gewillt, weiter zu ertragen eine Regierung, die den Bedürfnissen der Volks-Wohlfahrt, den Bedürfnissen nach Erweiterung der Volksrechte so wenig gerecht wird wie die gegenwärtige Regierung. Das preußische und das deutsche Volk will und wird im Interesse des Deutschen Reiches

(Lebhafter Widerspruch rechts. – „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

im Interesse des Deutschen Reiches, das in diesem Zustand nicht weiter fortbestehen kann, sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen; es wird den Kampf durchführen, den Kampf auf Verdeutschung Preußens

(Lebhafter Widerspruch rechts. – „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.),

auf dass endlich Deutschland Deutschland sein kann und nicht länger bleibt nur ein verlängertes Preußen.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

1 Der preußische Minister des Innern, Johann von Dallwitz, war im April 1914 durch Friedrich Wilhelm von Loebell abgelöst worden. Die Red.

2 Im Original: als. Die Red.

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