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Karl Liebknecht 19140116 Kirchenaustrittsbewegung und Sozialdemokratie

Karl Liebknecht: Kirchenaustrittsbewegung und Sozialdemokratie

[Die Neue Zeit (Stuttgart), 32. Jg. 1913/14, Erster Band, S. 576-578. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 33-37]

Nur einige Bemerkungen zu Göhres Artikel.1

Göhre will den Grundsatz „unbeschränkter Neutralität und Toleranz" – gegenüber Religion und Kirche! – für die Sozialdemokratie erhalten. Er fordert jedoch, dass jeder in „der Kirche" verbleibende Sozialdemokrat versuchen soll, „die Grundsätze und Ideale der Sozialdemokratie … mit Leidenschaft und Nachdruck auch in seiner Kirchengemeinschaft zur Geltung und Anwendung zu bringen". „Grundsätze und Ideale der Sozialdemokratie" – in Bezug worauf? Auf Religion und Kirche natürlich. Aber wo sind die Grundsätze und Ideale der Sozialdemokratie in Bezug auf Religion und Kirche?

Unbeschränkte Neutralität und Toleranz" gegenüber der Religion schließt spezifisch sozialdemokratische Grundsätze und Ideale in Bezug auf die Religion aus. Göhre entnimmt die Möglichkeit seiner Auffassung der vielfachen „engen Berührung" zwischen „demokratischem Sozialismus" und „reinem, das heißt ursprünglichem Christentum". Aber wo bleiben die „Christen", die nicht dem „reinen Christentum" anhängen? Und wo die Juden und Mohammedaner und Buddhisten unter den Sozialisten, die es doch auch gibt? Wo bleiben all die anderen Religionen? Bei dem halsbrecherischen Husarensprung der Gleichsetzung von Religion und „ursprünglichem Christentum" hat Freund Göhre all dies Gepäck in dem Graben verloren.

Gewiss schließt die Weltanschauung des Sozialismus auch eine eigenartige Ethik, insbesondere Sozialethik ein, und auch die für uns noch aktuellen Religionen pflegen ethische, insbesondere sozialethische Grundlehren zu enthalten; daraus würde sich aber nur ergeben, dass ein konsequenter Sozialdemokrat nicht jeder Religion, sondern nur einer Religion zustimmen kann, deren Ethik sich mit der sozialdemokratischen Ethik verträgt, dass also die Sozialdemokratie keine „unbeschränkte Neutralität und Toleranz" gegenüber jeder wie immer gearteten Religion bewahren kann.

Und wenn man die Forderung der Demokratie aus der Politik im engeren Sinne, das heißt aus dem Gebiet der Staatsorganisation, auch auf die Kirchenorganisation übertragen will, so lässt sich das gewiss vertreten. Bei der völligen, zum Teil sogar dogmatisch festgelegten „Inkompatibilität" (Unverträglichkeit) des organisatorischen Wesens sehr mächtiger – auch „christlicher" – Kirchen mit irgendwelcher und jeglicher Demokratie würde sich daraus jedoch folgerichtig ein glatter Verzicht auf die Neutralität gegenüber diesen Kirchen der antidemokratischen Autorität ergeben.

Göhres Programmvorschlag bezieht sich nur auf die christlichen Kirchen; er ist aber nicht nur ein kirchenpolitischer, sondern gleichzeitig in höchstem Maße ein religiös-programmatischer Vorschlag.

Und für diese neue „Reformation" soll sich – wenn auch in verklausulierter Form – die Partei ins Zeug legen? Ins Zeug legen – nicht für alle Parteigenossen, sondern nur für die in der christlichen Kirche verbleibenden. Und zu welchem Ende? Göhre selbst bezeichnet es als „höchst zweifelhaft, ob solche Genossen jemals auch nur ein Stück ihres Zieles erreichen werden". Scheint mir auch – wenigstens für alle absehbare Zeit. Und was dann? Göhre meint, eine Förderung der Austrittsbewegung wird die Folge solcher vergeblicher Bemühungen sein. Gut! Aber wozu – und noch gar unter Ermunterung durch die Partei – den großen Aufwand erst nutzlos vertun?

Das ist's ja, was den Kirchenaustritt heute bereits der großen Masse auch „reiner Christen" und gerade ihnen so nahelegt. Was soll der Umweg? Verflucht vor allem die Geduld! Gerade von Göhres Standpunkt aus dürfte schwerlich ein Sozialdemokrat in den heutigen Staatskirchen bleiben, die, von ihrer politischen Sündenfülle zu schweigen, selbst in ihrem religiösen und organisatorischen Wesen prinzipiell antisozialdemokratisch und unrettbar antichristlich im Göhreschen Sinne sind.

Wir sagen: Wen es lüstet, den selbst nach Göhre aussichtslosen Kampf innerhalb dieser Kirchen um eine neue Reformation zu führen – er mag immerhin seinem Gelüst folgen, wie er dies schon bisher ganz ungeniert konnte. Aber von Partei wegen zu solchen Kämpfen auch nur zu ermutigen hieße Anreizung zu einer Kräftevergeudung und zu einer Aktion, die nicht einmal mit dem Göhreschen Vorbehalte Sache der Partei ist. Die Partei kann als solche keine Kirchen- oder gar Religionsreformationsprogramme weder der sozialdemokratischen Juden und Mohammedaner noch der sozialdemokratischen Christen fördern oder anregen. Die religiösen Anschauungen bilden und wandeln sich im wechselnden Flusse der Gesamtkulturentwicklung mit der Gesamtheit der Gesellschaftspsychologie, die sich aus der bunten Fülle der individuellen und Gruppenpsychologien zusammensetzt. Jeder Parteigenosse soll ein ganzer Kerl sein; selbstverständlich! So wird er Manns genug sein müssen, für sich und die mit ihm Gleichgesinnten seine etwaigen religiösen Bedürfnisse selbst zu befriedigen, auch auf die Gefahr hin, dass er des Schutzes einer Staatskirche dabei entbehren sollte.

Genosse Göhre unterscheidet zwei Sorten von Sozialdemokraten: die mit der Religion gebrochen haben und die in der Kirche bleiben. Es gibt noch eine dritte Kategorie, und die ist höchst zahlreich: solche, die nicht mit jeder Religion gebrochen haben, wohl aber mit der Religion der offiziellen Kirchen und ihrem organisatorischen Wesen; solche, denen vor allem der politisch-reaktionäre und antisoziale Charakter dieser Kirchen nicht nur fremd, sondern verhasst ist. Und gerade der Hass gegen den politisch-reaktionären und antisozialen Charakter dieser Kirchen ist es, der gegenwärtig den stärksten Impuls für die Kirchenaustrittsbewegung gibt. Das übersieht Göhre ganz. Der uralte Gedanke des politischen Kirchenboykotts, den Genosse Göhre gütig mit meinem Namen etikettiert, ist nicht der Gedanke einer kleinen, neuerdings zusammengetretenen „Gruppe" von Genossen, er beherrscht vielmehr zur Zeit die Austrittsbewegung durchaus.

11 Paul Göhre: Kirchenaustrittsbewegung und Sozialdemokratie. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 32. Jg. 1913/14, Erster Band, S. 497-507. Die Red.

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