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Karl Liebknecht 19140219 Preußisches Polizeiregiment

Karl Liebknecht: Preußisches Polizeiregiment

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern

[Nach Stenographische Belichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode, II. Session 1914/15, 2. Bd., Berlin 1914, Sp. 2577-2588b und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 144-165]

Meine Herren, wenn man die jetzigen Beratungen des Abgeordnetenhauses und des Reichstages verfolgt, so könnte man meinen, dass Deutschland in der Tat ein einziger großer Sündenpfuhl sei. Von Unsittlichkeit wird am Königsplatz und wird in der Prinz-Albrecht-Straße1 geschrien, gerade als ob das deutsche Volk bis in den Kern hinein verfault sei oder zu verfaulen drohe.

Meine Herren, wir haben stets unsere Bereitwilligkeit zu erkennen gegeben, an der Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur, des Schmutzes und Schundes in Wort und Bild mitzuwirken. Aber die Wege, die bei uns zu diesem Zwecke eingeschlagen zu werden pflegen, können unsere Zustimmung der Regel nach nicht finden. Gestern hat Herr Abgeordneter Freiherr Schenk zu Schweinsberg eine um eine Woche verfrühte Aschermittwochspredigt gehalten

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

die, wie mir scheint, an den Wurzeln des beklagten Übels vorbeigegangen ist und sich nur mit der Oberfläche der bedauerlichen Erscheinung befasst hat.

Meine Herren, wir können unmöglich sagen, dass die Unsittlichkeit heute größer sei als in früheren Zeiten; es fehlt uns dafür jeglicher Vergleichsmaßstab. Wir können allerdings wohl sagen, dass gewisse Erscheinungen in unserem sittlichen, besonders sexualen Leben heute in besonderer Weise kritisch empfunden werden; aber das kommt daher, dass sich in unserer unruhig gärenden Zeit das sexuale Leben in einer tiefgreifenden Wandlung befindet und sich nicht mit der Naivität, die sich in Zeiten einer abgeschlossenen Kultur zu zeigen pflegt, mit der Form abfindet, wie natürliche, einfache, menschliche Bedürfnisse befriedigt zu werden pflegen.

Unsittlichkeit im Allgemeinen hat mit Prostitution zunächst nichts zu tun. Zunahme der Prostitution ist nicht notwendig ein Beweis dafür, dass die Sittlichkeit herabgesunken ist, und ebenso wenig kann eine Herabminderung der Prostitution einen Beweis dafür bilden, dass die Sittlichkeit gestiegen ist. Die Prostitution ist eine ganz besondere Frage für sich. Sie ist eine durchaus soziale Frage. Die Prostitution ist, wie das Verbrechen, in ihrem bei weitem größten Teile eine soziale Krankheitserscheinung, fließend aus der Not der Ernährung, aus der Not der Bekleidung, aus der Wohnungsnot, aus der Erziehungsnot, aus der Not der Bildungsverhältnisse, aus der Not der Arbeitsverhältnisse im Allgemeinen, die zur Zerstörung der Familie beitragen, die die Frau und Mutter und ihre Kinder aus dem Hause treiben und eine ordentliche Erziehung im Hause nicht ermöglichen. Kurzum, die Prostitution hängt als ein Ausfluss der sozialen Misere unserer Zeit mit all den einzelnen Tatsachen dieser sozialen Misere auf das engste zusammen, und eine Bekämpfung der Prostitution kann nimmer mit Polizeimaßregeln durchgeführt werden, sie kann nur auf dem Boden der sozialen Reform stattfinden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Prostitution ist ein Produkt des Klassencharakters der Gesellschaft; sie ist aus der Tatsache gewachsen, dass es Reiche und Arme gibt. Der bei weitem überwiegende Teil der Prostituierten stammt aus der armen Bevölkerung, und die Prostituierten leben und werden ausgenutzt von den Angehörigen der wohlhabenden Stände. Welche große Rolle die sozialen Verhältnisse für die Prostitution spielen, ergibt sich daraus, dass in Perioden der Krisis, in Perioden der Arbeitslosigkeit die Zahl der Prostituierten geradezu rapide zunimmt.

Meine Herren, wenn die unteren Bevölkerungsschichten eine freie Auffassung über die erotischen Verhältnisse haben, wenn sie mit einer gewissen Naivität – die bekanntlich auch auf dem Lande allgemein verbreitet ist – die Beziehungen der Geschlechter betrachten, so kann darin etwas Unsittliches nicht erblickt werden; was naiv ist, ist nicht unsittlich. Der Übergang von diesen naiven und an und für sich nicht als unsittlich zu betrachtenden Verhältnissen zur Prostitution geht in Zeiten der Not, der Krise der Arbeitslosigkeit rapide vor sich; dann findet eine ungeheure Fluktuation statt.

Und was gestern von Herrn Abgeordneten Kanzow erwähnt wurde, muss dabei auch besonders berücksichtigt werden: die Not der unehelichen Mütter.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, der Prostitution folgt als ein grauenhafter, unzertrennlicher Schatten die Zuhälterei. Auch die Zuhälterei ist keine Zufälligkeit; auch sie kann nicht durch Gewaltmaßregeln ausgemerzt werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Zuhälterei ist der notwendige Schatten jeder Prostitution, und so wenig man von sich selbst seinen Schatten abschneiden kann, so wahr die Geschichte Peter Schlemihls ein Märchen ist, so sicher ist es, dass alle Polizei- und Gewaltmaßregeln, die gegen die Zuhälterei ergriffen werden, ein Schlag ins Wasser sind. Nur mit der Prostitution gemeinsam kann die Zuhälterei bekämpft werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Zuhälterei folgt geradezu mit kausaler Notwendigkeit aus der Reglementierung der Prostitution! Solange die Prostituierten von der Polizei in der bekannten Weise bis in die kleinsten Einzelheiten hinein verfolgt und gehetzt werden, solange das Heraustreten aus der Prostitution in das normale soziale Leben durch die Reglementierung so außerordentlich erschwert ist, solange die Kasernierung, die einen regelrechten Handel mit Fleisch und eine Art Versklavung, einen Mädchensklavenhandel bedeutet, obrigkeitlich sanktioniert wird, meine Herren, bei diesem Kampfzustand zwischen Polizei und Prostituierten muss man begreifen, dass die Mädchen sich einen Beschützer suchen, der ihnen einen gewissen Rückhalt, eine größere Sicherheit in ihrem Leben und Erwerb zu schaffen sucht. Und es gibt heute traurigerweise eine Anzahl wurmbrüchiger Existenzen, gewissermaßen Strandgut der kapitalistischen „Kultur", die das Rekrutierungsgebiet der Zuhälterei bilden. Prostitution und Zuhälterei sind untrennbar miteinander verbunden.

Meine Herren, wir wenden uns dagegen, dass man die großen Städte als besonders unsittlich bezeichnet. Das ist nicht wahr. In den großen Städten tritt die Unsittlichkeit nur in etwas plumperer und gröberer Weise zutage. Was Sie hier als Berlin bei Nacht verschreien, das ist das relativ Harmloseste an der Unsittlichkeit, das, was sich offen auf die Straße hinaus wagt Es ist richtig – das kann ich bestätigen –, dass ein solches öffentliches Nachtleben wie Berlin nur wenige Großstädte des Auslandes aufweisen. Aber wollen Sie denn behaupten, wenn etwa in Paris oder London ein solches öffentliches Nachtleben nicht existiert, dass darum dort die Sittlichkeit größer wäre als in Berlin? Davon ist keine Rede Die Sittlichkeit in Berlin kann sich mit der in anderen Großstädten durchaus messen, und daraus ergibt sich, dass man diese äußeren Erscheinungen nicht so tragisch zu nehmen hat.

Die polizeilichen Maßregeln gegen diese Erscheinungen und die Sittenpolizei im Besonderen müssen immer wieder versagen infolge der Fäulnis, die sich in der Sittenpolizei selbst immer wieder herausbildet.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Fälle, in denen in Berlin Sittenpolizisten auf der Anklagebank gesessen haben und schwere Amtsmissbräuche gegenüber den Prostituierten aufgedeckt worden sind, sind häufig genug. – Der Fall Tiede2 ist wohl in Ihrer aller Erinnerung. Diese Ausartung der Sittenpolizei ist von einer ähnlichen Naturgesetzlichkeit wie die Ausschreitungen der politischen Geheimpolizei, die mit einer gewissen Naturgesetzlichkeit zu dem Lockspitzeltum führen.

Es muss dann weiter darauf hingewiesen werden, dass wir in der letzten Zeit in wiederholten Fällen haben feststellen können, dass die Polizei Zuhälter für sich als Spitzel beschäftigt. Mein Freund Hoffmann hat ein paar derartige Fälle beigebracht. Wenn man sieht, wie in der Weise die Polizei schließlich Kumpanei macht mit den bedenklichen Subjekten, die man angeblich ausrotten will, wie sie eine Art Brüderschaft mit ihnen schließt, dann muss das selbst dem Kampfe gegen die gröbsten Formen der Unsittlichkeit die Spitze abbrechen. Es ist bekannt, dass auch Dirnen als Spitzel benutzt werden.

Sehr interessant ist der Prozess, der in diesen Tagen in Myslowitz geschwebt und sich mit dem Mädchenhandel in Deutschland beschäftigt hat. Nach dem Plädoyer des Staatsanwalts ist festgestellt worden, dass Myslowitz als das Einfallstor für den internationalen Mädchenhandel von Russland und dem weiteren Osten her anzusehen ist, dass Myslowitz die Kongressstadt des internationalen Mädchenhandels ist und dass dieser Mädchensklavenhandel in Myslowitz von dem dortigen Polizeikommissar Seile protegiert worden ist.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das hat dieser Prozess in einwandfreier Weise ergeben. Also wiederum hier ein Polizeibeamter nicht nur im Dienst der schlimmsten Form der Unsittlichkeit, sondern auch, was noch schlimmer ist, im Solde der schlimmsten Form der kapitalistischen Ausbeutung der Unsittlichkeit.

Mein Freund Hoffmann hat sich in seiner bekannten Rede mit dem Kinderhandel und mit den Enthüllungen und Veröffentlichungen der Schwester Arendt darüber3 beschäftigt. Diese Enthüllungen, die früher auf großes Misstrauen stießen, haben sich ja inzwischen eine größere Beachtung, und zwar auch bei den Behörden, erobert. Das unterliegt keinem Zweifel. Das dokumentarische Material, das die Schwester Arendt mit großem Fleiß und großer Aufopferung beigebracht hat, ist ja auch erdrückend. Ich bedauere aber, dass auf diesen Teil der Ausführungen Hoffmanns der Herr Minister kein Wort der Erwiderung gefunden hat. Der Kinderhandel ist eine der betrübendsten Erscheinungen der heutigen Zeit,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und wir sollten doch wirklich vom Regierungstisch einige Worte zu hören bekommen, wie sie sich dazu stellt.

Meine Herren, der Antrag, der von sämtlichen großen Parteien dieses Hauses in Bezug auf die Bekämpfung der Unsittlichkeit4 gestellt ist, kann von uns nicht angenommen werden, und zwar deshalb nicht, weil er von einer unrichtigen Auffassung über das Wesen der Unsittlichkeit der heutigen Zeit getragen wird und weil wir auch nicht das nötige Zutrauen zu den staatlichen Instanzen haben, dass sie die ihnen weiter zu gewährenden Machtbefugnisse in einem wirklich ersprießlichen Sinne ausnutzen werden. Unser Misstrauen ist gerechtfertigt durch die fortgesetzten Ausschreitungen der Sittlichkeitsfexerei. Ich meine hierbei ganz speziell die Beschlagnahme der Künstlerpostkarten. Hier hat sich das Berliner Polizeipräsidium ja auch eine verdiente Abfuhr sogar vom Reichsgericht geholt. Es kann nichts die Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild so sehr diskreditieren wie derartige törichte Übertreibungen, wie wir sie auf Schritt und Tritt erleben. Ich behaupte, dass die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in Berlin unter Führung des Staatsanwalts Heintzmann und des Berliner Polizeipräsidiums der vernünftigen Bekämpfung des Schmutzes einen geradezu unermesslichen Schaden zugefügt hat. Wer würde denn mit einem Wort gegen solche Bestrebungen Partei ergreifen, wenn sie sich innerhalb gewisser selbstverständlicher Grenzen halten würden? Aber diese Übertreibungen machen uns die Billigung geradezu unmöglich.

Meine Herren, wir müssen daran festhalten, dass eine gesunde Sinnlichkeit ihre volle Existenzberechtigung hat und eine der tiefsten Quellen der menschlichen Kultur darstellt, dass eine gesunde und heitere Sinnlichkeit das beste und einzige wirksame Bollwerk gegen die „Unsittlichkeit" ist.

Wenn wir betrachten, wie sich die preußische Regierung der Prostitution gegenüber stellt, so darf man die Kabinettsorder vom Jahre 1855 nicht vergessen, und es ist wohl die Frage berechtigt, ob nicht für die Berliner Polizei eine ähnliche Polizeiverfügung erlassen ist wie für Köln mit dem Ziele, dass die Offiziere in ihrem Verkehr mit Prostituierten geschont werden. Es wäre sehr erwünscht, zu hören, ob auch für Berlin und für ganz Preußen eine solche Bestimmung existiert, die ja fast mit Naturnotwendigkeit aus der Kabinettsorder von 1855 folgt, wenn sie auch nicht bereits wörtlich darin enthalten ist. Diese Bestimmung der Polizeiverordnung ist jedenfalls ein interessantes Kennzeichen für die Art der Bekämpfung der Prostitution durch die Regierung.

Meine Herren, unsere Auffassung ist, dass man der „Unsittlichkeit" nicht durch Repressivmaßregeln erfolgreich zu Leibe gehen kann, sondern allein durch Prophylaxe, durch soziale Fürsorge, durch Beschaffung der nötigen Bildungsmittel, durch Darbietung einer guten, gesunden Literatur und durch Gewährung von Selbstfortbildungsmöglichkeiten für das Volk. Dann wird sich in der Bevölkerung, wo immer Missstände bestehen, eine Selbstreinigung von dem Schmutze vollziehen. Nur so ist eine Gesundung von Schäden überhaupt möglich. Wenn wir aber sehen, wie die Regierung die Bildungsanstalten und Jugendorganisationen des Proletariats bekämpft, wie sie es den jungen Arbeitern und Arbeiterinnen möglichst erschwert, sich idealen Zwecken zu widmen und so gegenüber den Gefahren, die das moderne Leben für die Sittlichkeit gerade der Jugend mit sich bringt, fester zu wappnen, dann muss man zur Auffassung kommen, dass die Regierung eine ernstliche Bekämpfung der Unsittlichkeit mit den allein wirksamen Maßregeln gar nicht will. Wenn wir sehen, in wie kleinlicher Weise es durch Versagung des Unterrichtserlaubnisscheins der Arbeiterschaft erschwert oder geradezu unmöglich gemacht wird, der Jugend gute, nützliche, ideale Anregungen zu geben, sie mit der Kunst und der höchsten Blüte der Kultur bekannt zu machen, dann beweist das auch von neuem, wie – gelinde gesagt! – durchaus widerspruchsvoll das Vorgehen der Staatsregierung ist.

Dann, meine Herren, erinnere ich an die unglaublichen Missgriffe, die gerade vom Berliner Polizeipräsidium in Bezug auf die Zensur immer wieder gemacht worden sind und die dem Volke die Bildungsmöglichkeiten beschränken. Es verdient noch der Vergessenheit entrissen zu werden, dass es dem Herrn Professor Irrgang im vergangenen Herbst durch das Berliner Polizeipräsidium unmöglich gemacht worden ist, vor dem Verein der Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse ein Bachkonzert zu halten.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Professor Irrgang wurde von einem Beamten des Berliner Polizeipräsidiums besucht, der ihm erklärte, dass im Polizeipräsidium die Mitwirkung des Professors Irrgang befremdet habe; es fühle sich veranlasst, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die Veranstalter dieser Konzerte der Sozialdemokratie angehören. Es scheine daher angebracht, wenn man ihm nahelege, in Anbetracht seiner Staatsstellung als Lehrer an der Königlichen Hochschule für Musik und seines persönlichen Verhältnisses zum Kaiser auf die Mitwirkung an diesem Bachkonzert zu verzichten.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, so werden dem Volke, der Arbeiterschaft, der breiten Masse die Quellen verstopft, aus denen ihr die bedeutsamsten Errungenschaften und Leistungen der deutschen Kunst zuströmen könnten. Kann man sich wohl etwas Erhebenderes, etwas Edleres, etwas Sittlicheres denken im reinsten Sinne des Wortes als Bachsche Musik? Ich bin überzeugt, dass nicht einer in diesem Hause ist, der nicht weiß, was das heißt: Bachsche Musik. Aber selbst Bachsche Musik will man dem Volke nicht zukommen lassen. Kleinliche Einschränkungen machen auch vor ihr nicht halt! Durch ein derartiges Verhalten wird alles das, was etwa vielleicht im Kleinen zur Abwehr des Schmutzes in Wort und Bild, zur Hebung der Sittlichkeit erreicht wird, einfach zunichte gemacht. Und nur der Tatsache, dass die Arbeiterschaft sich schließlich doch durch solche kleinlichen Schikanen nicht in ihrer Kulturarbeit hindern lässt, ist es zu verdanken, dass es um die heutige Sittlichkeit nicht viel schlimmer steht; denn was der breiten Masse der Bevölkerung heute von Obrigkeits wegen mitgegeben wird, um sie im Kampfe gegenüber den moralischen Versuchungen des heutigen Lebens zu festigen, ist so blutwenig, dass, wenn nicht die Selbsthilfe von unten gekommen wäre, es recht verzweifelt aussähe.

Meine Herren, der Berliner Polizeipräsident hat ein Heer von über 10.000 etatsmäßig angestellten Beamten unter sich. Der Kommandierende einer solchen Armee von Beamten hat besondere Pflichten der sozialen Fürsorge, der menschlichen Fürsorge für diese Beamten. Bedauerlicherweise werden diese Pflichten von dem Berliner Polizeipräsidium in durchaus unzureichender Weise erfüllt. Die Schutzleute beklagen sich immer wieder – wir bekommen Zuschriften dieser Art in großer Zahl – über die schlechte Behandlung, die sie von ihren Vorgesetzten erfahren,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

die, wie sie sagen, schlimmer sei als die Behandlung der Rekruten auf dem Kasernenhofe. Es wird weiterhin geklagt über die harten Strafen, die man bei den geringsten Dienstversäumnissen über die Schutzleute verhängt, und auch über schwere Beleidigungen, die ihnen oft genug zugefügt werden.

Besonders dringlich sind die Klagen über die Rechtlosigkeit der Schutzleute in ihrer Stellung. Wenn irgendeiner sich einmal gegen Ungehörigkeiten seiner Vorgesetzten gebührend zur Wehr setzt, kann er ohne weiteres versetzt werden, er kann herausgeworfen und bestraft werden,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

ja, er kann ohne Federlesen herausgeworfen werden; denn die Schutzleute sind meist auf Kündigung angestellt; es ist kein geordnetes Disziplinarverfahren nötig, um sie aus dem Amt zu bringen, eine einfache Verfügung des Polizeipräsidenten genügt. Es ist ganz natürlich, wenn unter solchen Umständen sich nicht die gewünschte Zahl von Anwärtern zur Schutzmannschaft meldet.

Wenn ich vorhin davon sprach, dass die Schutzleute ohne jeglichen verständigen Anlass versetzt werden können, so ist das ein Beweis für das Schicksal der Schutzleute, die für die bekannte und vielbesprochene Vereinigung der Berliner Schutzleute eingetreten waren. Sie sind einfach versetzt, gemaßregelt worden. Der Erfolg dieser Maßregel allerdings war für den Polizeipräsidenten von Jagow nichts weniger als erfreulich. Den Gemaßregelten ist in einem spontanen Ausbruch des Solidaritätsgefühls dieser Beamten eine lebhafte Ovation dargebracht worden. Es ist in den Berliner Schutzleuten durch diese Art der Behandlung ihrer Vertrauensleute und ihrer Organisation eine Art proletarischen Selbstbewusstseins hervorgerufen worden, das dem Herrn Polizeipräsidenten und dem Herrn Minister noch einmal recht unangenehm werden kann.

Bis zum heutigen Tage ist die Arreststrafe noch nicht aufgehoben, gerade jetzt ist sie sogar wieder angewandt worden; bis zum heutigen Tage fehlt noch ein Unfallfürsorgegesetz für die Schutzleute.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ein Unfallfürsorgegesetz für die Schutzleute ist notwendig; sie haben häufig genug Unfälle zu erleiden. Ich habe eine Anzahl von Klienten, die als Schutzleute auf den Wachen und bei Gelegenheit von Gefangenentransporten oder sonst wie Schaden erlitten haben und die mühselig um eine Entschädigung für dergleichen Unfälle zu kämpfen haben. Allerdings besteht ein Gnadenfonds. Auf den Gnadenweg werden die Schutzleute immer wieder verwiesen. Sie haben aber selbst und mit Recht ein Haar darin gefunden und wünschen, dass eine gesetzliche Regelung eintrete. Ebenso wünschen die Schutzleute, einen verstärkten Einfluss auf die Pensionskasse zu erhalten und manche andere Dinge. Wenn sie sich eine Organisation haben schaffen wollen, um diese verständigen, wie mir scheint, von uns allen zu billigenden Forderungen innerhalb der ohne weiteres durch ihre Amtsstellung gezogenen Grenzen zu vertreten, dann sollte man es doch wahrlich nicht für möglich halten, dass ein Polizeipräsident von Jagow auftreten kann, um ihnen diese Organisation zu verbieten. Denn das hat Herr von Jagow getan. Er hat einfach im Kommandostil erklärt:

Ich verbiete sämtlichen Beamten der Schutzmannschaft im Landespolizeibezirk Berlin, Einladungen zu solchen Versammlungen zu erlassen oder sich an solchen Versammlungen zu beteiligen."

Dieses Vorgehen des Berliner Polizeipräsidenten darf als ungesetzlich bezeichnet werden. Mir ist wohl bekannt, wie der Herr Ministerialdirektor Dr. Lewald im Reichstage dieses Vorgehen zu rechtfertigen gesucht hat, mir ist bekannt, was der Herr Minister hier darüber gesagt hat; aber all das kann nicht befriedigen. Es gibt gewisse Grundrechte der Verfassung, und zu diesen Grundrechten gehört das Versammlungs- und Vereinsrecht, ein Grundrecht der bürgerlichen Freiheit, das jedem Bürger zusteht und zustehen muss, das nicht verschränkt werden darf, auch nicht unter dem Deckmantel der Beamtendisziplin. Es ist nichts weiter als eine Spiegelfechterei, wenn man mit dem Bedürfnis der Disziplin kommt, und ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Bedürfnis für die Befürworter jenes Vorgehens keineswegs entscheidend gewesen ist. Entscheidend war einfach, dass man den Beamten keinerlei Selbständigkeit gönnen will, dass die Beamten als abhängige, unmündige, in einer halben Sklaverei befindliche Kulis betrachtet werden

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

denen die Staatsbürgerrechte nicht wie anderen Staatsbürgern zustehen, und dass man in seinem bösen Gewissen eine Erschütterung des ganzen Staatsgebäudes befürchtet, wenn die Beamten sich auf sich selbst besinnen und ihre Interessen, wenn auch in durchaus angemessener Weise, selbstbewusst verfechten. Es kommt darin in erster Linie das böse Gewissen der Staatsverwaltung und der herrschenden Parteien, die dieses Vorgehen befürwortet haben, zum Ausdruck; denn sie fürchten und müssen bei den heutigen Zuständen in der Tat mit einem gewissen Recht fürchten, dass, wenn die Beamten sich zu dieser Organisation zusammenschließen, sie so vielerlei zu klagen haben, so viele begründete Klagen erheben werden, dass sie, wenn sie nun miteinander Fühlung nehmen, zu der Erkenntnis von der Unwürdigkeit ihrer Lage kommen müssen und dass sich dann daraus eine den Interessen des heutigen Regierungssystems nicht entsprechende Gesinnung und Stimmung unter der Beamtenschaft ergeben muss.

Aber, meine Herren, diesen naturgesetzlichen Prozess können Sie nicht aufhalten; denn Tatsache ist, dass gerade die Repressivmaßregel, die der Berliner Polizeipräsident ergriffen hat, eine Revolutionierung der Berliner Schutzleute hervorgerufen hat. Das habe ich vorhin bereits hervorgehoben, und das ist von unserem Standpunkte aus natürlich sehr erfreulich. Es ist eine umstürzlerische Arbeit, eine Arbeit der Unterwühlung der Staatsgewalt, die hier Herr von Jagow geleistet hat.

(Zuruf von den Konservativen: „Zur Sache!")

Meine Herren, ich spreche von Herrn von Jagow! Ach, ich weiß ja nicht, woher Sie gerade kommen. Sie glauben wohl, dass wir noch bei den Landräten sind oder sonstwo?

Meine Herren, Herr von Jagow hat sogar den Polizeioffizieren verboten – wenigstens ging das am 24. Januar durch die Berliner Presse – auf einem Kaisersgeburtstagsball der Schutzleute zu erscheinen!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das soll sich auf die Schutzleute der 9. Polizeihauptmannschaft beziehen, und die Nachricht ist in der Presse, soviel ich weiß, unwidersprochen geblieben. Ich möchte bitten, falls die Nachricht nicht zutrifft, jetzt Gelegenheit zu nehmen, hier zu widersprechen.

Meine Herren, der Kölner Polizeiprozess5, von dem ich hier natürlich nicht spreche, hat die Frage, inwieweit den Beamten Geschenke von Privaten gegeben werden dürfen, von neuem in den Vordergrund gerückt. Es besteht ja in dieser Beziehung ein Erlass des Herrn Ministers des Innern, wenn ich nicht irre, vom Oktober 1912. Dieser Erlass enthält einige ganz brauchbare Bestimmungen, die ich gern anerkennen will. Aber es ist notwendig, hier daran zu erinnern, wie immer und immer wieder, wenn zum Beispiel Belohnungen für die Ermittlung eines Verbrechens ausgesetzt werden, Polizeibeamte, Polizeikommissare und dergleichen daran teilnehmen. Meine Herren, ich halte es prinzipiell für unerträglich,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

dass man die Beamten an den Untersuchungen und an dem Ergebnis der Untersuchung dermaßen persönlich interessiert. Der Polizeibeamte soll in der Untersuchung keine andere sachliche Stellung einnehmen als andere Staatsbeamte, keine andere als der Staatsanwalt, als der Untersuchungsrichter, die in einem Verfahren mitwirken. Meine Herren, denken Sie: Prinzipiell könnte genauso gut die Belohnung für die Ermittlung eines Verbrechers ausgeteilt werden an den Staatsanwalt und an den Untersuchungs- oder Ermittlungsrichter wie an die Polizeibeamten. Das würde doch korrumpierend wirken, wie Sie nicht bestreiten werden. Als jüngst ein Berliner Rechtsanwalt – was von mir natürlich aufs schärfste verurteilt wird – Miene machte, die Belohnung für die Ermittlung eines Bankräubers an sich zu bringen, indem er den Angeklagten zu einem Geständnis veranlasste – es war der Rechtsanwalt Bredereck, der inzwischen geflüchtet ist –, da erhob sich ein schönes Geschrei. Im Grunde genommen ist es viel schlimmer, wenn ein Polizeikommissar die Belohnung für die Ermittlung eines Verbrechers bekommt, weil er als ein Vertreter der angeblich objektiven Staatsgewalt in autoritativer Weise und in einer für die Gestaltung der Untersuchung bedeutsameren Weise mitzuwirken hat. Dagegen muss Front gemacht werden.

Aber ich erinnere weiter daran, dass bekanntlich im Jahre 1910 bei den Straßen- und Wahlrechtsdemonstrationen zum Beispiel gewisse Berliner Firmen, darunter die Weinfirma Trarbach, den Schutzleuten, die zur Unterdrückung der Straßendemonstration mitgewirkt hatten, erhebliche Geldzuwendungen machten, deren Annahme den Schutzleuten gestattet wurde.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Immer wieder haben wir es erlebt, dass dergleichen stattfand. Der Erlass des Herrn Ministers des Innern wendet sich glücklicherweise dagegen, dass die Schutzleute aus Anlass von Streiks für ihre Tätigkeit von Privaten irgendwelche Unterstützungen erhalten.

Meine Herren, ich hätte noch mit mehreren Einzelheiten zu dienen, wie zum Beispiel dem Verhalten des Herrn Polizeipräsidenten gegenüber der Lichtreklame, in Bezug auf die er mir sehr kleinlich vorzugehen scheint. Unser Berlin verdient heute wahrscheinlich noch nicht den Namen der City of light wie Denver in Colorado. Denken Sie an den Broadway in New York, der gerade durch die phänomenale Lichtreklame eine der großartigsten Sehenswürdigkeiten der Welt ist. Die Berliner Kleinlichkeit gegenüber der Lichtreklame scheint mir für eine Großstadt deplatziert

Dann möchte ich allersubmissest noch eine Beschwerde vortragen, die seit langem von der Berliner Arbeiterschaft über die Berliner Verkehrsverhältnisse erhoben wird, über die ja auch der Herr Polizeipräsident seine Hand walten lässt. Es ist dringend notwendig, dass dafür gesorgt wird, dass bei dem Arbeitsbeginn und Arbeitsschluss die Verkehrsmittel in Berlin vermehrt werden. Gegenwärtig müssen die Arbeiter oftmals lange Zeit warten, ehe sie einen Platz im Wagen bekommen, um die großen Entfernungen zurückzulegen, wenn sie nicht gar weite Wege zu Fuß machen müssen.

Dann möchte ich noch bitten, darüber Auskunft zu geben, was mein Freund Hofer neulich anregte, ob denn die kaiserlichen Prinzen auch einem Chauffeurexamen unterworfen werden, bevor man ihnen gestattet, in der bekannten wilden Weise durch die Straßen von Berlin und Umgebung zu rasen, und ob bei der Prüfung der kaiserlichen Chauffeure in gleicher Weise verfahren wird wie sonst und ob der Polizeipräsident, das heißt der Herr Minister des Innern als Vorgesetzter des Polizeipräsidenten, in Aussicht stellen kann, dass die Ausnahmebestimmungen für die prinzlichen und kaiserlichen Automobile – in Bezug auf die Geschwindigkeit usw. – aufgehoben werden; denn zu solchen Ausnahmebestimmungen besteht kein Anlass.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

In der Kommission ist ein Mitglied gegen das Unwesen vorgegangen, Lockspitzel zu verwenden, um Gastwirte zur Überschreitung der Polizeistunde zu verführen. Die Regierung ist, soweit ich aus dem Bericht habe entnehmen können – ich kann mich allerdings hier täuschen –, auf diese Beschwerde nicht eingegangen. Ich möchte diese Frage noch einmal anregen und um Mitteilung ersuchen, ob dieses skandalöse System der Lockspitzel gegen die Gastwirte geduldet wird.

Immer wieder kommen uns Fälle von Misshandlung und Körperverletzung auf den Polizeiwachen zu Ohren. Erst vor kurzem ist wieder ein solcher Fall vor dem Schöffengericht in Neukölln verhandelt worden, der sich am 29. Juli 1913 abgespielt hat. In diesem Prozess, auf den ich nicht näher eingehen will – die Verhandlung fand am 31. Januar dieses Jahres statt –, ist eine Unmenge von äußerst gravierenden Tatsachen ans Tageslicht gezogen worden über Misshandlungen auf einer Polizeiwache, die geradezu die Regel gewesen sein sollen, über häufiges Geschrei und Wehklagen, das aus dieser Polizeiwache heraus getönt ist, und ähnliches. Ich möchte den Herrn Minister fragen, ob er dafür gesorgt hat und ob der Herr Polizeipräsident von Berlin dafür gesorgt hat, dass die Fälle, in denen über Misshandlungen auf den Polizeiwachen geklagt wird, in denen solche Misshandlungen festgestellt werden, in besonderem Dezernat besonders sorgfältig bearbeitet und mit Objektivität und Gründlichkeit untersucht und speziell gesammelt und registriert werden. Meine Herren, das kann man bei der Wichtigkeit dieses Missstandes verlangen.

Weiterhin kann eine erneute lebhafte Tätigkeit des Berliner Polizeipräsidenten auf dem Gebiete der Plakatkonfiskation festgestellt werden. Nachdem sich Herr von Jagow im Mai 1912 mit der Konfiskation des Plakats des Propagandaausschusses für die Verbesserung des Wohnungswesens in Berlin blamiert hat –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Löwitz: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, es ist ein ungehöriger Ausdruck, dass der Herr Polizeipräsident sich blamiert hat. Ich bitte, solche Ausdrücke zu vermeiden.

Liebknecht: Also, meine Herren, er hat sich nicht blamiert. Auch nachdem der Polizeipräsident von Jagow jenes bekannte künstlerische Plakat von Käthe Kollwitz verboten hat, hat er nicht geruht und gerastet mit dem Einschreiten gegen die Plakate, die aus Anlass der Bäckerbewegung und anderer sozialpolitischer Kämpfe ausgehängt worden sind. In neuerer Zeit ist er wieder besonders regsam in der Konfiskation der Kirchenaustrittsplakate.

Meine Herren, dass damit dem Kirchenaustritt nicht entgegengewirkt wird, sondern dass im Gegenteil derartige Maßregeln nur dazu beitragen, das Augenmerk der Öffentlichkeit immer wieder auf den Kirchenaustritt zu lenken und ihr nahezulegen, die Kirche als eine Institution zur Unterdrückung der Masse der Bevölkerung zu betrachten, die im Bunde mit der Polizei steht, das ist doch klar.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen rechts.)

Gewiss, wenn das Bündnis der Kirche mit der Polizei sich so ostentativ zeigt wie bei dieser Konfiskation der Plakate und wie in dem bekannten Versammlungsverbot des Herrn von Jagow, dann ist es ganz natürlich, dass wir mit unserer Behauptung, dass unsere preußische Staatskirche als eine Polizeikirche zu betrachten sei,

(Lachen rechts.)

überall Glauben finden. So arbeitet die Polizei durch diese ihre kleinlichen Maßregeln im Grunde genommen für den Kirchenaustritt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in den letzten Tagen geht durch die Zeitung die Nachricht, dass ein Denkmal für Eugen Richter auf dem Askanischen Platz errichtet werden soll. Nun hört man, dass dieses Denkmal wohl auf Anordnung, jedenfalls unter Mitwirkung des Berliner Polizeipräsidiums nicht an eine angemessene Stelle des Askanischen Platzes gestellt werden soll, sondern an den Eingang zur Bernburger Straße, also in einen Winkel. Meine Herren, wir sind ganz gewiss keine begeisterten Verehrer Eugen Richters, der, wie Sie wissen, einer der prinzipiellsten Feinde der Sozialdemokratie gewesen ist. Immerhin aber wissen wir, dass er als ein Oppositionsmann der Regierung nicht genehm ist, und wir müssen uns infolgedessen durchaus auf die Seite derer schlagen, die – wenn das richtig ist, was in den Zeitungen gemeldet ist – in diesem Verhalten wiederum einen Beweis jenes engen, beschränkten Polizeigeistes erblicken,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

der den politischen Gegner auch im Grabe nicht ruhen lässt und [nicht] objektiv zu behandeln versteht.

Meine Herren, dass mit Lebenden nicht objektiv und würdig verfahren wird, das sind wir ja gewohnt. Eine besondere Leistung des Herrn Polizeipräsidenten war es, dass er unsere belgischen Freunde Vandersmissen und Huysmans ausgewiesen hat, und zwar nach der Denunziation eines nationalliberalen Blattes,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

des „Deutschen Kuriers", der in seiner ersten Nummer, an seinem Geburtstage dem Publikum diese Legitimation präsentierte – oder es ihnen auf andere Weise unmöglich gemacht hat, einen Vortrag über die Erfahrungen mit dem Massenstreik in Belgien zu halten. Das hat mein Freund Hoffmann schon erwähnt. Wir nageln es einfach fest; welche Schlussforderungen daraus zu ziehen sind, weiß die Bevölkerung draußen selbst zur Genüge.

Dann einige Worte über das Verhältnis zwischen Polizei und Streikbrecher. Wir haben immer behauptet, dass bei dem Kampf gegen das Streikpostenstehen die engste Beziehung zwischen Polizei und Arbeitgebern besteht. Das hat sich jetzt in evidenter Weise herausgestellt. Bei dem Streikprozess gegen Trobisch und Genossen6, dessen Verhandlung vor wenigen Wochen stattfand, wurde von dem Obermeister Bahardt, der ja einst in diesem Hause in der Freikonservativen Partei gesessen hat, erklärt: Der Streik, um den es sich damals gehandelt habe, sei berechtigt gewesen; von einem Angestellten der Arbeitgeberorganisation sei damals sogar bei dem Polizeipräsidium darauf hinzuwirken versucht worden, in diesem Falle gegen die Streikposten nicht gar so scharf vorzugehen;

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

die Arbeitgeber hätten in diesem Falle die Gelben (die Organisationen der Arbeitswilligen) mit Geld unterstützt, um sie zur Teilnahme an dem Streik zu veranlassen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn es den Unternehmern möglich ist, zum Polizeipräsidium zu gehen und zu sagen: Wir bitten, gegen die Streikposten nicht zu scharf vorzugehen, dann ergibt sich, dass sie bei Streiks mit dem Polizeipräsidium in regelmäßiger Verbindung stehen

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und dort sicher dann immer Gehör finden werden, wenn sie bitten, gegen die Streikposten möglichst scharf vorzugehen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann möchten wir doch endlich einmal über den Keiling Aufklärung haben, besonders nach dem, was in neuester Zeit von ihm bekannt geworden ist, über Keiling, dessen Porträt im übrigen mein Freund Hoffmann gezeichnet hat, über jenen siebzehnmal vorbestraften Totschläger und Kuppler, der jetzt in die Hände österreichischer Behörden gefallen ist, nachdem deutsche Behörden sich gescheut haben, ihn anzufassen. Meine Herren, ich behaupte, der Keiling würde heute noch nicht festgenommen sein, wenn er seine Tat nicht zufällig im Auslande begangen hätte.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, denken Sie an den Fall Brandenburg, an die Fälle aus Burg und aus Halle; Sie wissen, dass immer wieder diese Mörder, diese Totschläger freigelassen oder von vornherein nicht verhaftet worden sind, so dass sie den Weg ins Weite gefunden haben. Und jetzt hören wir von diesem Keiling, dass er ein Angestellter der Berliner Polizei gewesen ist!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, diese Meldung ist in der Presse in sehr detaillierter Weise gebracht worden; wir möchten darüber Auskunft haben, ob sie wahr ist.

Meine Herren, ich habe mir den Grundsatz des Herrn Ministers des Innern, den er neulich mir gegenüber proklamierte, wohl zu Herzen genommen, dass man nur denjenigen kritisieren darf, dem man sich geistig überlegen fühlt. Meine Herren, wenn ich diesen Grundsatz früher gekannt hätte und für mich als maßgebend erachtet hätte, hätte ich es selbstverständlich vermieden, die Tätigkeit des Herrn Ministers des Innern jemals zu kritisieren. Aus demselben Grunde befinde ich mich natürlich in einer gewissen Verlegenheit und muss Sie um Verzeihung bitten, wenn ich mir gestatte, die Sonde meiner Kritik an den Herrn Polizeipräsidenten von Berlin zu legen. Sie können wahrhaftig überzeugt sein, dass ich mir nicht einbilde, klüger zu sein als Herr von Jagow; Herrn von Jagow gegenüber ersterben solche hochfliegenden Gedanken im Keime. Was insbesondere die juristische Weisheit des Herrn von Jagow anbelangt, so müsste ich mich auch ihr gläubig beugen mit den Worten: credo quia absurdum: Ich muss ihm glauben, weil das, was er an juristischer Weisheit zutage fördert, so absurd ist, dass man es nur dann verstehen kann, wenn man es eben glaubt.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Herr von Jagow hat sich als ein politischer Impressionist in der Presse vorgestellt. Er ist auf juristischem Gebiet, kann man sagen, ein Futurist;

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

so verworren, wie es auf den Bildern der Futuristen aussieht, muss es in juristischer Beziehung in dem Kopfe des Herrn von Jagow aussehen.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich kann und will mich nicht eingehender mit dem bekannten „Kreuz-Zeitungs"-Brief des Herrn von Jagow7 beschäftigen; darüber ist ja schon so viel gesagt. Dass sich juristisch nicht ein Buchstabe dieses Briefes halten lässt, und zwar nicht einmal vor der Weisheit eines stud. jur. im ersten Semester geschweige denn vor der Weisheit des Dr. juris, als der sich Herr von Jagow hier noch besonders präsentiert hat, darüber ist sich wohl alle Welt im Inlande und im Auslande einig; dass sich Herr von Jagow durch diese Leistung zu einer einigermaßen komischen Figur gemacht hat, ist natürlich unsere herzhafte Freude.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, aber Herr von Jagow hat diese Mangelhaftigkeit nicht zu büßen gehabt, und er wird sie nicht zu büßen haben, weil er die Unqualifiziertheit seiner juristischen Kenntnisse zu ersetzen gewusst hat und ständig zu ersetzen weiß durch ein voll gerütteltes Übermaß von staatstreuer, schneidiger Umsturzbekämpfungsgesinnung;

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

weil Herr von Jagow als der Führer der Offizierskamarilla, der Militärkamarilla, der Kronprinzenkamarilla einen außerordentlich festen Rückhalt hat. Er darf es wagen, zu revolutionieren gegen die Jurisprudenz, gegen die Logik, gegen die Zivilverwaltung

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

von Elsass-Lothringen. Ich kann mich damit natürlich nicht näher befassen; aber das eine muss man doch noch ganz besonders hervorheben: Herr von Jagow ist selbst ein Beamter der Zivilverwaltung. Dass ein Zivilbeamter sich auf Seiten des Militärs gegen die Zivilverwaltung stellt, zeigt, dass unsere preußische Zivilverwaltung kein Zivilgewissen besitzt,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dass sich diese preußische Zivil-Verwaltung vielmehr eins fühlt mit dem Militarismus als dem „vornehmsten" der Unterdrückungsmittel, die die Staatsverwaltung zur Verfügung hat.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Herr von Jagow ist der Leiter, der Führer einer Armee von 10.000 Beamten, von über 7000 Schutzleuten. Herr von Jagow ist weiterhin diejenige Instanz, die gegebenenfalls über die Requisition von Militär zu entscheiden hat; in den Händen des Herrn von Jagow liegt die Sicherheit ganz Berlins und auch die Unsicherheit ganz Berlins.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, diese ungeheure Verantwortung liegt in den Händen eines Mannes, der durch seinen bekannten Brief deutlich dokumentiert hat, schwarz auf weiß und unwiderleglich, dass er über die grundlegenden Bestimmungen, über die Grenzen seiner Amtsbefugnisse, über die Grenzen der Zivil- und Militärgewalt, über die Grenzen der Zivilgewalt gegenüber der Bürgerschaft keine richtige Vorstellung besitzt,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

dass er geradezu wie ein Blinder, ahnungslos und fremd diesen grundlegenden Bestimmungen gegenübersteht.

Meine Herren, in einem Kulturland wäre es nicht möglich, dass ein Mann wie Herr von Jagow nach dieser Enthüllung seiner juristischen Ahnungslosigkeit, der gesetzlosen Vorstellungen, von denen sein Gehirn erfüllt ist, noch einen Tag länger die verantwortliche Stelle eines Polizeipräsidenten von Berlin innehaben könnte.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Das wäre nicht möglich, weil jeder einzelne Bürger, der das erforderliche Zivilgewissen besitzt, sich sagen muss: Du bist hier durch den Polizeipräsidenten nicht geschützt, sondern gefährdet.

Meine Herren, es schien ja eine Zeit, als ob Herr von Jagow nach seinen berühmten Leistungen wackele; aber inzwischen ist er als Triumphator aus allen Fährnissen hervorgegangen. Der Herr Minister hat ihm gegenüber durch eine leise Missbilligung seinen formellen Standpunkt gewahrt, im übrigen aber vor ihm kapituliert. Weshalb kapituliert? Weshalb ist Herr von Jagow Triumphator? Weil er der Exponent, weil er der Wortführer der reaktionärsten Kreise Preußen-Deutschlands ist,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

weil er, wie ich vorhin schon sagte, der Wortführer der Kronprinzenkamarilla ist.

(Große Unruhe und lebhafte Rufe rechts: „Unerhört!" Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Ich bitte Sie, nicht von einer Kronprinzenkamarilla zu sprechen; auch das ist ungehörig.

Liebknecht: Herr von Jagow sitzt heute fester als je. Meine Herren, der Herr Minister des Innern hat sich geweigert, dem Landtag und der Budgetkommission Mitteilung darüber zu machen, in welcher Weise er sich mit Herrn von Jagow auseinandergesetzt hat.

(Abgeordneter von Kröcher: „Sehr richtig!")

Meine Herren, wir hören das „Sehr richtig" aus dem Munde des Herrn von Kröcher!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Abgeordneter von Kröcher: „Sehr richtig!")

Herr von Kröcher ist also damit zufrieden.

(Abgeordneter von Kröcher: „Jawohl!" Zustimmung rechts.)

Meine Herren, wir wissen, dass Sie damit zufrieden sind, wir erkennen daraus von Neuem, wie sehr Herr von Jagow Ihr Vertrauensmann ist.

(„Sehr richtig!" rechts.)

Wir hören auch das von Ihnen bestätigt; das ist sehr wertvoll. Herr von Kröcher, Sie bestätigen es uns! Wundervoll! Meine Herren, Herr von Jagow ist Ihr Vertrauensmann; und ebendeshalb, weil er Ihr Vertrauensmann ist, deshalb bekämpfen wir ihn, und deshalb betrachtet ihn der größte Teil der preußischen Bevölkerung und vor allem der Berliner Bevölkerung als einen Feind des Volkes,

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

als einen Beamten, dessen weiteres Verweilen auf seinem Posten als eine Gemeingefahr anzusehen ist.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts. Abgeordneter von Kröcher: „Ich folge ihm, weil ich ebenso populär sein will wie er!" – Abgeordneter Adolph Hoffmann: „Sie suchen den starken, aber dummen Mann!" Glocke des Präsidenten.)

1 Am Königsplatz befand sich der Reichstag, und in der Prinz-Albrecht-Straße lag das Preußische Haus der Abgeordneten. Die Red.

2 Gemeint ist der Prozess gegen drei Angehörige der Berliner Sittenpolizei, Tiede und zwei seiner Kollegen, wegen Amtsvergehen, Zuhälterei, Bestechung und Kuppelei im Juni 1913.

3 Henriette Arendt war von 1903 bis 1909 im Stuttgarter Fürsorge- und Armenwesen als Polizeiassistentin tätig. Ihre Aufgabe war, weibliche Gefangene zu überwachen und nach ihrer Entlassung für sie zu sorgen. Sie erweiterte ihr Tätigkeitsfeld auf die Betreuung von Pflege- und Waisenkindern. Sie wandte sich mit Broschüren und Vorträgen an die Öffentlichkeit, in denen sie das Kinderelend im kaiserlichen Deutschland anprangerte, und forderte mehr und wirksamere staatliche Maßnahmen. Gegen Henriette Arendt wurden Untersuchungen eingeleitet „wegen schwerer Beleidigung der Behörden und Verletzung des Amtsgeheimnisses". Nach ihrer erzwungenen Amtsniederlegung am 1. Februar 1909 führte Henriette Arendt ihre Fürsorgetätigkeit selbständig weiter.

4 Der Antrag vom 11. Februar 1914 lautete: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, die nachgeordneten Behörden anzuweisen, mit allen gesetzlichen Mitteln die zunehmende Unsittlichkeit hauptsächlich in den Großstädten zu bekämpfen und so der Gefahr vorzubeugen, welcher die Jugend körperlich und seelisch ausgesetzt ist. Dazu ist weiter erforderlich: a) bei dem Bundesrate darauf hinzuwirken, dass durch Änderung der bestehenden Gesetze, in erster Linie der §§ 33, 33a und 33b der Reichsgewerbeordnung den Verwaltungsbehörden geeignetere Unterlagen zur Unterdrückung der Animierkneipen, Bars, Kabaretts, Rummelplätze und ähnlicher Schankstätten und Schaustellen gegeben werden, insoweit sie der Unsittlichkeit Vorschub leisten; b) dass von der Staatsregierung baldigst ein besonderes Kinematographengesetz vorgelegt werde; c) inzwischen von den bestehenden Bestimmungen, insbesondere durch Verkürzung der Polizeistunden nachdrücklicher als bisher Gebrauch gemacht werde." Der Antrag wurde angenommen.

5 Vom 7. bis 17. Januar 1914 fand vor der Strafkammer Köln ein Beleidigungsprozess gegen die sozialdemokratische „Rheinische Zeitung" statt. Am 3. Oktober 1913 war unter dem Titel „Bakschisch" ein Artikel erschienen, der sich mit der Korruption, der Annahme von Geldgeschenken durch Kölner Polizeibeamte beschäftigte. Im Prozess gegen den Redakteur Wilhelm Sollmann wurden weitere Enthüllungen gemacht, und der Angeklagte trat den Wahrheitsbeweis an. Trotzdem verurteilte ihn das Gericht zu 500,- Mark Geldstrafe und zur Zahlung der Gerichtskosten. Nach dem Prozess wurden in der Kölner Polizei Veränderungen vorgenommen.

6 Bei einem Streik in der Berliner Tischlerei Raab kam es am 1. April 1913 zu Diskussionen und schließlich zu Auseinandersetzungen mit Streikbrechern. Die Polizei schritt ein und schlug den Schlosser Trobisch, der einen Streikbrecher entwaffnen wollte, mit dem Säbel nieder. Trobisch und der Tischler Kranert wurden daraufhin wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt. In der Verhandlung am 12. Februar 1914 vor dem Schwurgericht des Landgerichts I Berlin verneinten sämtliche Geschworenen die Schuldfrage. Die Angeklagten mussten freigesprochen werden.

7 Der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow hatte sich in einem Artikel in der „Kreuz-Zeitung" vom 22. Dezember 1913 vorbehaltlos auf die Seite des Militärs gestellt und gefordert, den Leutnant Forstner, einen der Hauptschuldigen an den militaristischen Ausschreitungen in Zabern, weder anzuklagen noch zu verurteilen. Als Grund gab von Jagow an, Strafverfolgung wegen eines Aktes der Staatshoheit sei unzulässig. Er griff damit rechtswidrig in ein schwebendes Verfahren ein.

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